Denkarbeiter im Technicolor-Störbild

23. Mai 2023. Es ist eine – geistesgeschichtlich hoch pointierte – transatlantische Crashlandung, die Jonas Lüscher vor gut zwei Jahren mit dem Roman "Kraft" hinlegte. In Lüscher Heimatstadt Bern adaptiert nun Zino Wey diesen eigenwilligen Bildungsroman.

Von Maximilian Pahl

Bern, 23. Mai 2019. Im Laufe dieser Feldforschung kann sich Richard Kraft irgendwann selbst nicht mehr ernst nehmen. Dabei will der deutsche Geisteswissenschaftler hier im Silicon Valley vor allem abschließen: mit seiner unglücklichen akademischen Karriere, mit den nebenbei verpfuschten Ehen und mit dem kontinentaleuropäischen Zukunftspessimismus, in dessen Opposition er sich doch schon vor Jahrzehnten zum Marktliberalen radikalisierte.

Traditionsvieh in Kalifornien

Jonas Lüschers Figur des Richard Kraft weiß und wusste sich stets gut zu verbiegen, und so sehr er intellektuell kämpferisch die Konfrontation suchte, so sehr vermied er sie im Privaten. Dieses Gefüge stürzt nun ineinander; dabei wollte Kraft doch bloß in aller Ruhe einer mit 1 Million Dollar dotierten Preisfrage nachgehen: "Weshalb alles, was ist, gut ist, und wir es dennoch verbessern können." Ein Vortrag der auch helfen sollte, seine jetzige Ehe finanziell zu überwinden.

In Palo Alto findet Kraft alte Kommilitonen und Liebschaften wieder und isst mit ihnen zum Beispiel die weltbesten Makkaroni, deren Käse nur Schweizer Traditionsvieh hervorbringt, wenn es am Pazifik heranwächst. Oder er lässt sich, durchaus verdutzt, von zwei Stanford-Absolventen (sie haben natürlich ein Start-Up) zu seiner Heimatstadt beglückwünschen: Ah, Tübingen – "the town of Hölderlin".

Transatlantischer Crash

Es ist eine – geistesgeschichtlich hoch pointierte – transatlantische Crashlandung, die Jonas Lüscher vor gut zwei Jahren mit dem Roman "Kraft" hinlegte. In Lüschers Heimatstadt Bern adaptiert nun Zino Wey diesen eigenwilligen Bildungsroman in Uraufführung. Mit den Ideen zerschellt auch hier sofort die Identität des Protagonisten, welcher nicht nur als Vater scheitert. Die sechs Spieler schildern in fluider Figureneinteilung sowie als Erzählinstanz, wie es dem Gelehrten, wenn er sich denn um seine Kinder kümmern wollte, zwar nie an "abstrakten Ideen" mangelte, wohl aber an "praktischer Fantasie". Ähnlich geht es dieser Inszenierung.

Identitätsverlust im Silicon Valley: das Berner Ensemble spielt auf einer Bühne von Davy van Gerven © Annette Boutellier

Ein Fernsehgerät flimmert, Lukas Hubers eingespielte Musik sendet Störgeräusche. In dieser Glitch-Ästhetik denkt Kraft nach und erinnert sich an Helmut Kohls "geistig-moralische Wende", wobei der Protagonist in eine atomisierte Brainstorming-Gemeinschaft zerfällt und auch zerfallen soll: Wey holt den Stoff in eine Art Co-Working-Space, die durchweg karierten Denkarbeiter (Kostüme von Veronika Schneider) sprechen in herabhängende Mikrofone und treten nur selten in einen echten Dialog.

Unter ihren weißblonden Perücken rauchen bald schon die Köpfe. Philosophisch und zeitkritisch hat es dieser Abend in sich, bloß erzeugen die Gedanken kaum noch menschliche Reibung, denn die Gesellschaft scheint schon irreversibel plastifiziert zu sein. Florentine Krafft und Julian Lehr schaffen es am häufigsten, einen unkommentierten Zugang zum Text zu finden und sorgen damit, gerade an textärmeren Stellen, für die starken Momente.

Ich-Krise ohne Atmosphäre

Dagegen wird an anderen Stellen die große Stärke von Lüschers Vorlage unterwandert, nämlich dessen offene Haltung. Ein teils anachronistischer Gelehrten-Sprech verleiht "Kraft" im Roman eine dauerhafte Ungewissheit: Ist das Satire, Sophisterei? Ist die Empfindsamkeit des Professors angebracht oder Selbstmitleid? Viele diese Fragen werden auf der Bühne zugunsten der Lesbarkeit entschärft, indem sich die Spieler deutlich zum Gesagten positionieren. Die meisten Handlungsstränge sind bewahrt, aber nur wenig von Lüschers Atmosphäre.

Die Berner Uraufführung des 2017 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Romans "Kraft" von Jonas Lüscher © Annette Boutellier

Dabei wäre die Vorlage szenisch reichhaltig, etwa bei der Ich-Krise während einer Ruderfahrt. Alexander Maria Schmidt schildert diese Katharsis in einem kleinen Glaskasten und bleibt dabei sehr farblos. Als einstiger Kommilitone István Páncél zeigt auch Nico Delpy wenig Profil, weil auch dessen Geschichte, wie er als Hemdenwäscher aus dem Ostblock ausbüxte – ein Glanzmoment des Romans –, nur ganz kurz angeschnitten wird.

Molke-Drinks und Sachbücher

Um also als reines Tableau an Ideen, sozusagen als Theater-Essay, zu funktionieren, ist dann doch zu viel Roman darin geblieben, zu viele Zeitsprünge erfordern höchste Aufmerksamkeit, und zu viel Kohärenz wird allein über den Inhalt der ausschweifenden Texte geleistet. Szenisch hingegen werden Molke-Drinks geschüttelt, Sachbücher und graue Sitzsäcke gewälzt und nur wenig Handlung vermittelt, selbst den Schlüssel-Traum vom kalifornischen Erdbeben übersieht man im Technicolor-Störbild (Video: Julia Bodamer) als solchen beinahe.

Richard Kraft endet am Strick, er streamt seinen Suizid und wartet auf Zuschauer, "5 oder 6 sollten es schon sein". Dabei stehen die Spieler, eben noch im gelben Tapeten-Kostüm, jetzt in Unterhemden da. Und erzählen davon, was noch viel weniger überrascht als in Lüschers Vorlage. Die Neu-Stilisierung tat dem Stoff nicht gut.

 

Kraft
von Jonas Lüscher
Regie: Zino Wey, Bühne: Davy van Gerven, Kostüme: Veronika Schneider, Musik: Lukas Huber, Video: Julia Bodamer, Dramaturgie: Michael Gmaj, Licht: Rolf Lehmann, Maske: Franziska Ambühl.
Mit: Florentine Krafft, Grazia Pergoletti, Marie Popall, Nico Delpy, Julian Lehr, Alexander Maria Schmidt.
Premiere am 23. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

Kritikenrundschau

Es sei einer dieser Theaterabende gewesen, "bei denen schon nach zehn Minuten klar ist: Daraus wird nichts mehr. Sie dauern dann aber trotzdem noch zwei Stunden." Zino Wey scheine sich für den Text kaum zu interessieren, jedenfalls nicht für seine allenfalls tiefer liegenden Schichten. "Statt Figurenzeichnung gibt es in Bern lustige Marilyn-Monroe-Perücken für alle. Statt Arbeit an der Rolle vom Blatt hergesagte Karikaturen", so Andreas Klaeui vom SRF (24.5.2019).

Marina Bolzli schreibt in der Berner Zeitung und dem Berner Oberländer (online 24.5.2019, 18:04 Uhr): Es sei zu empfehlen, zuvor das Buch oder mindestens eine Zusammenfassung zu lesen, denn Zino Weys Inszenierung fordere das Publikum heraus. Sechs platinblonde Schauspieler" redeten "abwechslungsweise, aber nonstop auf die Zuschauer ein". Dazu "wuseln" sie auf der Bühne herum, "Störgeräusche", "Videosequenzen". Es seien so viele Reize, dass die Konzentration schwerfalle, damit ginge es dem Publikum nicht besser als dem Protagonisten Lüschers. Die Schauspielerinnen und Schauspieler machten "ihre Sache gut", "immer im Rhythmus". Das Publikum erfahre die Überreizung am eigenen Leib, die Inszenierung überrenne einen.

Daniel di Falco schreibt im Berner Bund (online 25.5.2019, 8:57 Uhr): Prosamaterial, wie das von Lüschers Roman habe es auf der Bühne naturgenäss schwer. "Zu sperrig, zu erzählerisch, zu viel Papier und zu wenig spielbare Handlung." Der Theateradaption zum Opfer fiele Krafts "Lebensuntüchtigkeit", seine "emotionale und soziale Sprachlosigkeit", aber ob sie auch fehle? Wey deute "Kraft" konsequent als "Drama eines Denkers" aus. Es seien "zwei erstaunlich unterhaltsame Stunden". Zwar bemerke man die "schauspielerische Überspanntheit", die "dünnen Stimmen", die "Ungeschmeidigkeit". Aber je länger je geschmeidiger laufe die Inszenierung.

 

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