Trolle auf der Schimpftextfläche

von Gabi Hift

Wien, 24. Mai 2019. Ein roter Samtvorhang! Wann hat es sowas das letzte Mal gegeben? Im Zuschauerraum verteilt sitzen an die zwanzig Skelette auf guten Plätzen und schauen geradezu vergnügt drein. Vom Balkon zum Bühnenportal führen zwei neonrote Hochspannungsleitungen. Noch weiß man nicht, dass das ein bitterer Scherz ist.

Schwarzromantisches Antimusical-Setting

Der Vorhang öffnet sich vor einer Häuserkulisse aus Pappmaché, wie sie früher in Tanzlokalen üblich war. Auf den Fassaden Projektionen des immer selben Fotos eines – wohl in einem Krieg – zerstörten Hauses (Bühne: Nina Peller). Auftritt Benny Claessens, Schauspieler des Jahres 2018, mit langem Zauberermantel und wallendem weißen Haar. Er singt gleich mal ein Lied zur Begrüßung, mal stellt er sich als Therapeut vor, oder einfach als "Führer". Nun kommen seine Klient*innen, ein Trüppchen mit hohen Haarhauben und spitz abstehenden Ohren: es sind Trolle (Kostüm: Theresa Vergho).

HassTriptychon 560 JudithBuss uAus dem Märchenwald des Internets: der Zauberer (Benny Claeessens) und seine Trolle © Judith Buss

Regisseur Ersan Mondtag hat den Namen, den man den Schimpfern und Hasser*innen in Internetforen gibt, ernstgenommen und sie in ihre Märchenexistenz zurückgeführt. Sie sehen putzig aus und jammern, wie öde und freudlos ihr Leben ist. Ab und an singen alle ein Lied, absichtlich Eklektisches aus Popsongs, Kinderliedern und auch mal was Eissler-artigem – Hauptsache es zündet nicht. Dieses Anti-Musicalsetting ist am Anfang ganz witzig, nach einer Weile weniger und irgendwann dann gar nicht mehr. Was Ersan Mondtag, der für die Erschaffung schwarzromantischer, abgründiger Welten berühmt ist, an den zynischen, geheimnislosen Schimpftextflächen von Sibylle Berg reizt, bleibt ein Rätsel. Schon vor einem Jahr hat er in Köln ihr Stück Wonderland Ave. inszeniert. Bereits da war das wohl keine glückliche Verbindung, jedenfalls nicht in den Augen der Zuschauer*innen.

Dschungelcamp des Zynismus

Hier in Wien meint man an manchen Stellen zu spüren, wie es das Team Mondtag/Claessens in Fingern und sonstigen Körperenden gejuckt hat, richtig loszulegen mit einem ordentlichen Hollywood-Musical. Wenn sich die meterhohen Wände majestätisch auf der Bühne drehen und auf ihrer Hinterseite Feuertreppen erscheinen, wie man es aus alten Schwarzweiß-Filmen kennt. Oder wenn Benny Claessens von einer Laterne zu anderen tanzt wie Gene Kelly in Singing in the rain. Wenn er sich – mit nichts als einem knappen Slip am glitzergeschminkten Leib – kindlich lasziv räkelt wie Liza Minelli als Sally Bowles, die sagt: "Wirst du nicht wahnsinnig, wenn du meinen Luxuskörper siehst?" –,  dann könnte da eine großartige Camp-Show voller Sehnsucht und Witz losgehen. Aber nicht mit diesem Text.

Das mit dem Musical darf hier nur ein Gag sein, ein absichtlich müder noch dazu. Die Trollwesen sind dröge Jammerlappen, haben keinerlei Gefühle, die überschäumen oder in Gesang ausbrechen könnten. Bruno Cathomas ist der einzige, der ein paar menschliche Züge zeigt. Der tollpatschige Ernst, mit dem er bei den primitiven Tanzschritten alles richtig zu machen versucht, ist bezaubernd. Wie er seine tote ausgestopfte Katze herumschleppt und wie kindisch beleidigt er auf das Leben ist, hat was Rührendes. Aber auch ihm ist, wie allen anderen, keine Geschichte vergönnt, keinerlei Entwicklung. Er tappt als Überrest eines echten Menschen durch dieses Dschungelcamp des Zynismus und man würde ihn gern da rausholen.

HassTriptychon1 560 JudithBuss uTrollende Trolle (recht im hellblauen Shirt: Bruno Cathomas) © Judith Buss

Nach dem "ersten Flügel" des Hasstriptychons, der Anamnese, folgt als zweites die Diagnose: "Die Langeweile, die ist Schuld, dass sie sich selber fast ermorden vor öder harter Ungeduld. Die Dummheit wächst in unsern Straßen. Wenn man sie nicht beschäftigt hält mit Arbeit, Ficken, gutem Essen, dann drehn sie durch in dieser Welt."

Hochmütiger Oberliskenblick

Sibylle Berg geriert sich als total abgebrühter bad ass und gießt ihren Spott über Wesen aus, die sie überhaupt nur zu diesem Zweck erfunden hat. Dem Publikum, das mutig genug ist, sich ihren Obeliskenblick zu eigen zu machen, bietet sie ein wohliges Schwimmen im gemeinsamen Saft des Sich-lustig-Machens über dieses dumme und antrieblsose Gesocks, das wie Maden im Aspik ewiger Langeweile wabbelt, und dem letztlich der Zugang zu seiner wahren Natur eröffnet wird: dem Hass. Und dann knallen sich alle gegenseitig ab. Eigentlich ist das Unterschichtsbashing à la: "liegen immer nur fett auf der Couch und kassieren Sozialhilfe, mehr wollen die ja nicht vom Leben."

Aber Sibylle Berg – und auch Mondtag – maskieren das in Interviews damit, dass hier die abgehängte Mittelschicht gemeint sei, und die darf man beschimpfen, das gilt als selbstkritisch. Wobei es eine Mittelschicht sein soll, die dann doch deutlich unter "uns" zu stehen scheint, dümmer und dröger ist als das, was auf der Bühne steht und davor sitzt. Das ist eine pseudopsychologische und falsche Diagnose der sogenannten "Wutbürger*innen-Psyche". Unveränderbar und wie aus dem Nichts scheint da eine von uns völlig verschiedene Spezies entstanden zu sein, die weder Hoffnungen noch Bedürfnisse kennt und bei der der Hass angeboren ist. Das zu behaupten gilt als mutig, fesch und klug. Ersan Mondtag geht mit dieser Weltsicht nicht wirklich konform, er setzt aber auch keine eigene Welt dagegen.

Am Ende dann zu meiner Überraschung heftiger Applaus und viele Bravos. Vielleicht sind das die Anhänger von Ersan Mondtag, die ihn sich als neuen Volkstheaterdirektor wünschen. Er hat sich beworben und könnte auch wirklich für Wien ein "good match" sein. Wiener*innen sollen seine unheimlichen Geisterbahnwelten, wie jüngst Das Internat, lieben und ihre Freude an seinen schaurig-schönen Kreationen haben, die tief dem Geist des Wiener Wurstlpraters verwandt sind. Dieses Stück hingegen ist nicht ideal, um ihn fürs Volkstheater zu empfehlen, jedenfalls scheint mir das so. Ein Großteil des Publikums dachte offensichtlich anders.

 

Hass-Triptychon. Wege aus der Krise
von Sibylle Berg
Regie: Ersan Mondtag, Musik/Komposition: Beni Brachtel, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Teresa Vergho, Licht: Rainer Caspar, Musikalische Einstudierung: Lukas Rabe, Sounddesign: Max Lange, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Bruno Cathomas, Benny Claessens, Jonas Grunder-Culeman, Johannes Meier, Abak Safaei-Rad, Aram Tafreshian, Çiğdem Teke
Premiere am 24. Mai 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.gorki.de
www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Wie stellt man sich als hippe Autorin und 'Spiegel'-Kolumnistin im schönen Zürich die 'abgehängte Peripherie' vor, an die jetzt oft in Diskussionen über 'Gilets Jaunes' oder sächsische Rechtsextreme diskutiert wird? Offenbar als Nicht-Orte mit Nicht-Existenzen, bewohnt von kläglichen, namenlosen Lämmchen mit Hängeschultern, die sich rumschubsen lassen – bis man ihnen Waffen in die Hände drückt: Dann kommt das große Schlachten. Das große Gähnen ist da längst schon da“, kritisiert Anne-Catherine Simon von der Presse (26.5.2019) Bergs Text. "Regisseur Ersan Mondtag holt nicht nur hier das Schlechteste aus dem Stück heraus, er treibt das dümmlich Plakative zu neuen Rekorden."

Mondtag habe schon profundere Arbeiten hingelegt. "Es bleibt ein ab der Hälfte einigermaßen durchhängender Deklamationsabend, der dank Benny Claessens als Moderator aber eine gefährliche Dimension erhält", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (26.5.2019).

"Dass der Abend mit seinen betont unsauberen Musicaleinlagen und ärmlichen Figuren nicht jämmerlich verendet, ist vor allem den Schauspielern zu danken“, schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (27.5.2019). Das revuehafte Singspiel, das Ersan Mondtag aus Bergs Farce mache, wirke wie die Hobbit-Version des Musicals 'Les Miserables': "in neonbunter Künstlichkeit, wie Mondtag sie zu seinem Stil erhoben hat, aber auch als ein so übertrieben depressives Verarmungs- und Verödungstheater, dass es in der Gesamtanmutung nicht denunziatorisch, sondern schön böse zugespitzt ist".

Eine "Düsternis und dauernswerte Trostlosigkeit" attestiert Ute Büsing auf rbb|24 (18.11.2019) diesem Abend nach seiner Berlin-Premiere. Die Stimmung werde "durch die Musik von Beni Brachtel mit vielen gekonnt schief gelegten Songs unterlaufen. Der Musical-hafte Furor verschafft komische Erleichterung, die abgeschlafften Körper formen sich zu Choreografien. Die Schauspieler, zum Teil vom Wiener Volkstheater, zum anderen aus dem Gorki-Ensemble, strapazieren ihre Freak-Figuren zur Kenntlichkeit. Es macht Spaß, ihnen zuzuschauen."

Ersan Mondtag habe "alles Erdenkliche aufgefahren hatte, um dem ermatteten Mittelstandshaufen" aus Bergs Stück "theatertaugliches Leben einzuhauchen", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (18.12.2019) nach der Berlin-Premiere dieser Produktion. "Der Therapie-Trupp steht nicht nur in lustigen Fantasy-Outfits irgendwo zwischen Avatar, personifiziertem (Internet-)Troll, Disneyland und den Brüdern Grimm vor Nina Pellers Bühnenhäuschen, sondern tritt auch immer wieder zu absichtsvoll misslingenden Musical-Nummern an. Aber Entertainment ist nun mal beim besten Willen nicht herauszuholen aus diesen bekennenden Langweilern."

"Das dreiflüglige Triptychon, das von der Farce mit Kabarettanteilen immer wieder, aber nur andeutungsweise zum Musical wechselt, trieft sowohl vor Empathie als auch vor Zynismus − und haut dem Publikum beides um die Ohren", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (18.11.2019) nach der Berlin-Premiere dieser Produktion. "Ersan Mondtag hat die Fäden seiner ansonsten eher installativen Inszenierungsweise locker gelassen, es gibt Improvisationsgelegenheiten, die sich Claessens mit großem Appetit greift."

"Bergs tragikomischer Text ist nichts weniger als eine bissige Diagnose einer Gesellschaft, die sich als tickende Zeitbombe des Hasses entlarvt", berichtet Nicholas Potter in der taz (23.11.2019) nach der Berlin-Premiere dieser Produktion. Benny Claessens als "größenwahnsinnige Rampensau" sorge schon allein "für einen überragenden, zwerchfellerschütternden Theaterabend". Über die Regie heißt es: "Es ist nicht Mondtags stärkste Arbeit, aber mit Bergs phänomenalem Text muss sie das auch nicht sein, um trotzdem eine gelungene Inszenierung zu bieten."

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