Millionen rechts, Millionen links. Ein Vogelschiß!

von Dorothea Marcus

Köln, 24. Mai 2019. Da sitzt er, in einer Art gläsernem Wagenanhänger, Martin Reinke als abgehalfterter Kaiser Wilhelm II. in Pickelhaube und Uniform. Monoton leiert er seine Hunnenrede herunter. So fällt kaum auf, wie völkerrechtswidrig und brandschatzend seine Worte sind, eine Anleitung zum rücksichtslosen Rachefeldzug gegen China: "Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen". Obwohl anschließend eifrig von den Zeitgenossen relativiert, wurde das Zitat "Pardon wird nicht gegeben" zum Titel für Alfred Döblins ersten Exilroman, geschrieben mit 56 Jahren in Paris, erfolglos wie fast alle nach seinem Bestseller "Berlin Alexanderplatz“. In Deutschland erschien das Buch erst 1961, da war Döblin schon gestorben. Ins Theater gebracht wurde der Stoff erst jetzt, 2019  –  in einer Theaterfassung des österreichischen Schriftstellers petschinka, erstaufgeführt von Rafael Sanchez.

Zeit- und Lebenspanorama

Martin Reinke in seinem gestandenen Schauspieleralter wird sich bald vom heruntergekommenen Kaiser in einen auktorialen Erzähler und Kommentator verwandeln, er begleitet die große, autobiografisch gefärbte Familiengeschichte vom Aufstieg und Untergang des Protagonisten "Karl" mal als Onkel, mal als Berater, mal als (hervorragender) Musiker auf Geige und Klavier – eine Art metaphysisches Orakel. Und legt den Erzählton, der Döblins Werk durchzieht: wie sehr man sich auch abstrampelt, es gibt kein Entkommen, ob man sich ins Private zurückzieht oder versucht, sich gegen die kapitalistischen Verhältnisse aufzubegehren – am Ende steht der Abgrund.

Pardon 3 560 Krafft Angerer uZeit- und Lebenspanorama aus der Weimarer Republik. Vorn: Martin Reincke  @ Krafft Angerer

Doch am Anfang scheint noch alles möglich: die Familie, die hoffnungsvoll in der Großstadt ankommt wie vier unbeschriebene Blätter, erscheint in grauen Arbeiter-Overalls: blitzschnell können sie, je nach Figur, mit Jacketts oder Damenblusen kombiniert werden – oder als Arbeiter-Massenuniform dienen. Eng und liebevoll klammern sich Mutter und drei Kinder aneinander, wie beengt die erste Wohnung ist, erkennt man daran, dass sie sich auf zwei Stühlen auf dem Schoß sitzen.

Sanchez entwirft an diesem Kölner Abend im Depot 1 ein großes Lebenspanorama: in einem wunderschönen gelb tapezierten Bühnenbildkasten von Thomas Dreißigacker mit vier Fernseh-Bildschirmen sind stets das Private und das Politische zugleich allgegenwärtig. Auf Video rauchen die Fabrikschlöte, marschieren die Arbeitslosen, strecken sich die ersten Hausfassaden der neuen Weimarer Republik nach dem Krieg in die Höhe, ein ständiger historischer Kommentar als Beglaubigungskulisse.

Opfer des Raubtierkapitalismus

Zugleich filmt eine Live-Kamera jede emotionale Regung der Protagonisten und doppelt ihre Gesichter überlebensgroß in Schwarz-Weiß am Bühnenhintergrund: private und politische, historische und fiktive Handlung verschwimmen stets. Das ist souverän gemacht und doch nicht immer nötig. Denn manchmal erscheint es fast, als würde dem Darsteller auf der Bühne nicht mehr getraut. Der Hauptfocus liegt bald auf Karl, dem ältesten Sohn, den Simon Kirsch facettenreich als athletischen, aber auch naiven Macho wider Willen spielt. Hin- und hergerissen zwischen den Anforderungen des Lebens hetzt und hechtet er über den grünen Laufsteg im Vordergrund: rastlos verfangen in den Lebensdogmen anderer. Die anderen Charaktere werden eher gestreift.

Pardon 2 560 Krafft Angerer uFortschritts-Techno und Medienmix auf der Bühne von Thomas Dreißigacker @ Krafft Angerer

"Haben Sie Arbeit für mich?" brüllen die arbeitslosen Opfer des Raubtierkapitalismus ins Publikum, bis es dann doch vorangeht: Karl findet einen Job in der Fabrik, wo er Paul (Nikolaus Benda) trifft, der ihn politisiert und – bei Sanchez zugespitzt – auch erotisch elektrisiert: "Man kann nicht nur dahinleben, man muss etwas tun". Lächelnd, rauchend, eine verführerische wie unklare Mischung aus Kommunismus und Nationalsozialismus, stellt Paul die ganz großen Lebensfragen: soll man sich im Kleinen abstrampeln oder die großen Ideologieschrauben drehen?

Im zweiten Teil geht es dann bergauf, in wenigen Bühnenminuten ist Karl nach einem neckischen Tanz mit Julie (Ines Marie Westernströer) verheiratet, die von Beginn an zweifelt, ob er nicht zu langweilig ist für sie: bereits das auf die Leinwand gebannte Hochzeits-Standbild wirkt wie ein "museales Gefängnis". Kinder kommen, der Onkel hinterlässt eine Fabrik, Karl wird Kapitalist: "Die Welt hebt sich an wie ein Kuchenteig", spricht Martin Reinke, hektisch tanzen die Schauspieler im Einheits-Overall einen blechernen Fortschritts-Techno dazu.

Präfaschistischer Populismus

Im dritten und längsten Teil, der "Krise", hält Martin Reinke die neoliberale Antrittsrede des Fabrikbesitzers: "Aber soll denn nun auch das Geschäftsleben von der Humanität beherrscht werden? Wo kommen wir denn da hin?" - und wird mittendrin als Onkel von Karl und Julie zum Sterben gebettet. Doch ihre Einheit hält nicht lange. Das Erbe lässt alles auseinanderbrechen. Julie bricht beißend aus dem Ehegefängnis, um mit "José" neues Glück zu finden, den Benda mit rosa Jackett, dunkler Perücke und Schlagerschnulzen souverän und lustig hinschmachtet. Bald sinkt Julie verliebt in seine Arme, zeigt die Videoleinwand eine seufzende Liebesszene in Großaufnahme, stolziert mit Pelz umher.

Pardon 1 560 Krafft Angerer u Ausbruch aus dem Ehegefängnis: Ines Marie Westernströer @ Krafft Angerer

Doch so glaubwürdig Westernströer die Frau, die sich in den 20er-Jahren zwischen Tradition und fieberndem Aufbruch selbst befreien will, auch zeigt: psychologisch bleibt nicht nachvollziehbar, warum sie zur so bösen Rächerin wird an Karl. Schon Döblins Roman hat psychologische Schwächen, die auch Sanchez bildstarke Regie nicht ausgleichen kann. Sein Roman zeichnet keine logischen Situationen, sondern eben vor allem das Zeitpanorama nach, erzählt, ähnlich wie in seinem Jahrhundertroman "Berlin Alexanderplatz", dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und das ganz normale Abstrampel-Chaos alle zugrunde richtet. Und zwar privat wie politisch, weshalb es zugleich den Boden bildet für den präfaschistischen Populismus. Sanchez lässt Reinke historische Reden sprechen. Sie sind kaum von heutigen AfD-Postulaten zu unterscheiden.

Hochenergetisches Schauspielerfest

Und während Karl, verlassen und finanziell am Abgrund, sich mit Prostituierten tröstet – leckend und reibend an einer Glasscheibe – trifft er wieder auf den agitierenden Paul, dessen Kampf so unklar und charismatisch bleibt wie zuvor. Er wirft Flugblätter, hetzt und strampelt – bis er sich am Ende, konvertiert zum sinnlosen Kampf, jämmerlich erschießen lässt. Am Ende sitzt Karl neben seiner toten kleinen Schwester (Ida Marie Fayl) und lässt als Spottgedicht die Katastrophe des Zweiten Weltkrieg aufziehen: "Millionen rechts, Millionen links. Ein Vogelschiß! Mehr sag ich nicht! Bald zieh'n Milliarden mit uns um, sie trommeln, pfeifen, widebum."

Sanchez gelingt an diesem Abend in Köln souverän, das historische Zeitkolorit mit der Geschichte einer Familie zu verknüpfen. Dass noch manches kürzbar gewesen wäre, vieles unklar und diffus bleibt – geschenkt. Der Abend ist eine bildgewaltige und schlüssige Erzählung, ein hochenergetisches Schauspielerfest – und am Ende ein deprimierendes Panorama einer Welt am Abgrund. Der Mensch kann sich nicht retten, sondern rast sich sinnlos zu Tode. Wohltuend diskret spürt man die heutige Warnung darin.

 

Pardon wird nicht gegeben
nach dem Roman von Alfred Döblin, in einer Bühnenfassung von petschinka
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Thomas Dreißigacker, Kostüme: Maria Roers, Video: Stefan Bischoff, Live-Kamera: Nazgool Emami / Nora Daniels, Musik: Knut Jensen.
Mit: Nikolaus Benda, Simon Kirsch, Lola Klamroth, Justus Maier, Martin Reinke, Ines Marie Westernströer, Ida Marie Fayl / Fritza Zöllich
Premiere am 24. Mai 2019
Dauer: 3 Stunden, 15 Minuten, eine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

"Das ist allerbestes Theater", schreibt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (25.2019). Der Kritiker lobt ein starkes Ensemble, aus dem er Martin Reinke, Simon Kirsch und Ines Marie Westernströer noch einmal besonders herausragen sieht. Eberhard Petschinka hat aus Wilmes Sicht Döblins Prosa äußerst geschickt dramatisiert, Rafael Sanchez die Tonlage des Abends geschickt ausgesteuert. Auch insgesamt ist in dem Abend "Musik drin", so der Kritiker.

Dies sei Rafael Sanchez' beste Arbeit seit Hiob, so Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (27.5.2019), das ganze Ensemble spiele mit dem nervös flackernden Feuer einer unsicheren Zeit. Sachez erzähle die dramatische Geschichte dabei angenehm schnörlellos, und setzt aus Sich des Kritiker "das, was man gemeinhin Regieeinfälle nennt" sparsam aber höchst effektiv ein. Auch das Ensemble erhält Bestnoten.

 

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