Barock'n'Roll

von Sascha Westphal

Dortmund, 25. Mai 2019. Am Anfang war der Gartenzwerg. Das stimmt zwar so nicht ganz. Aber das Bild wird bleiben. Eine Bühne im Halbdunkel. Die große Scheibe in ihrem Zentrum dreht sich. Rechts und links der kreisenden Fläche, den Blicken des Publikums entzogen, steht jeweils eine Nebelmaschine. In regelmäßigen Abständen stoßen sie dichte Kunstnebelschwaden aus, die sich auf der Bühne vereinen und gemeinsam zu einer Art flüchtigem Wolkengebirge türmen. Die Leere und die sich immer wieder auflösenden Nebelformationen beschwören eine pathetische Stimmung herauf. Bilder einer mythischen Zeit am Anfang oder auch am Ende einer Welt. Doch da ist auch noch dieser rote Gartenzwerg, der einsam auf der Drehscheibe steht, immer wieder aus dem Nebel auftaucht und in ihm verschwindet. Er steht nur da, kreist vor sich hin und bringt eine absurde Note in eine ansonsten zum Sakralen neigende Situation.

Die Neuerfindung der Welt

Thorleifur Örn Arnarsson spielt mit großen Gefühlen und großen Mythen, setzt auf Ergriffenheit, um sie dann wieder zu brechen. Es ist alles nicht so ernst, wie es scheint. Selbst wenn die bizarre Mischung aus heiligem Ernst und ebenso heiligem Unernst im Folgenden mit Anspielungen auf Alejandro Jodorowskys "Montana Sacra – Der heilige Berg" und auf Monty Python-Sketche mehr Verwirrung als Klarheit stiftet, verfestigt sich der Eindruck, tatsächlich Zeuge der Erschaffung der Welt zu sein. Die Welt lässt sich nicht mehr mittels einer alles umfassenden Erzählung erklären. Also reihen sich in Arnarssons "Irrgarten des Wissens" Szenen und Nummern, Situationen und Geschichten aneinander. Albernes folgt Tragischem, Visionäres kollidiert mit Nichtigem, Enervierendes steht neben Erhabenem, Persönliches neben Weltgeschichtlichem. Jeder Auftritt hat seinen eigenen Zauber.

Irrgarten 2 560 BirgitHupfeld uEin Ensemble "im Irrgarten des Wissens" © Birgit Hupfeld

Erst Blutbad, dann Schweigen

Im ersten großen Monolog des Abend erzählt Bérénice Brause von zwei Dortmundern, dem jüdischen Arzt Rolf Bischofswerder und dem kurdischen Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık, die Opfer rechtsextremen Denkens und Handelns wurden. Thorleifur Örn Arnarsson und das Ensemble erinnern sich Toter wie Lebender, der Schrecken wie der Träume, die uns Menschen seit Anbeginn begleiten. Manches läuft dabei ins Leere, manches eröffnet neue Perspektiven, und manchmal lässt sich das eine kaum vom anderen unterscheiden. So wird einmal eine Wanne auf die Vorderbühne getragen, in die sich Merle Wasmuth und Uwe Schmieder setzen. Sie nur mit einem Slip bekleidet, er ganz nackt. Dann werden sie eimerweise mit Theaterblut übergossen.

"Adam und Eva in der Wanne" heißt diese Szene, in der sich gleich zwei Ur-Erzählungen, das "Gilgamesch"-Epos und die Genesis, ineinander verschlingen. In beiden Mythen ist es die Frau, die den Mann aus der Natur in die Zivilisation führt. Und wie die Frauen, von denen sie spricht, muss auch Merle Wasmuth dafür büßen, dass sie den Mann mit Fragen konfrontiert, die er sich nicht stellen will. Dieses Blut-Bad ist eines der eindrucksvollsten Bilder des ersten Teils der Inszenierung. Doch dann treten weitere Darsteller*innen hinzu, und die Szene kippt in Slapstick. In solchen extremen Stimmungswechseln schießen Arnarsson und das Ensemble gelegentlich über ihr Ziel hinaus. Aber sie fangen sich meist wieder, wie anschließend in der von Uwe Schmieder initiierten Publikumsperformance "4’33’’" nach John Cage.

Für 273 Sekunden, die jede*r Zuschauer*in stumm für sich abzählen sollen, herrscht eine magische Stille im Saal. Danach öffnet sich die Inszenierung ins ganze Gebäude des Dortmunder Schauspiels. Wer will, kann im Saal sitzen bleiben und sich eine etwa anderthalbstündige Konzert-Performance ansehen, in der der Regisseur auch selbst auftritt. Im Theater außerhalb des Saals greift eine von Bühnenbildner Daniel Angermayr arrangierte Ausstellung die auf der Bühne verhandelten Themen auf. Vor allem Angermayrs Fotoserie und seine Installation im Studio, die das Sterben seiner Mutter dokumentieren, fokussieren den Blick auf die Inszenierung. "Im Irrgarten des Wissens" wird zum Memento Mori.

Ein stilles "Ecce homo"

Daran schließt der elegischere zweite Teil an: Ein Requiem, wenn über vierzig Mitglieder des Dortmunder Sprechchors auf die Bühne treten, um einer verstorbenen Choreutin zu gedenken, in Trauer und mit Hoffnung. "Die Bilder werden bleiben" steht schließlich auf einem vom Bühnenhimmel herabhängenden weißen Banner. Und so ist es auch. Thorleifur Örn Arnarsson und das Ensemble haben zahllose Bilder gefunden und erschaffen, die bleiben werden. Alle aufzuzählen, ist unmöglich.

Irrgarten 4 560 BirgitHupfeld uFrank Genser als stummer Clown © Birgit Hupfeld

Aber eines, das sich über eine Dauer von Stunden entwickelt, soll noch erwähnt werden: Irgendwann im ersten Teil des Abends tritt Frank Genser auf die Vorderbühne und beginnt einen schier endlosen stummen Monolog. Man sieht seine Lippen, wie sie sich bewegen, seine Hände, wie sie fortwährend mit etwas ringen, und seine Augen, in denen ein flehentlicher Ausdruck liegt, aber es ist nichts zu hören. Ein Clownskostüm wird ihm angelegt, das er erst am Schluss wieder ablegt, um in die Mitte der Bühne zu treten, sich hinter ein Mikrophon zu stellen und dann doch wortlos abzugehen. Gensers Spiel, aus dem er nicht für einen Moment herausfällt, wird zum Sinnbild der Einsamkeit wie der Vergeblichkeit. Jedes seiner stummen Worte ist ein unvergesslicher Ausruf, ein stilles "Ecce homo", das lange nachklingen wird.

Im Irrgarten des Wissens
von Thorleifur Örn Arnarsson, Mikael Torfason & Ensemble
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson, Bühne & Foyergestaltung: Daniel Angermayr, Kostüme: Mona Ulrich, Kostümmitarbeit: Svea Schiemann, Friederike Wörner, Director of Photography: Voxi Bärenklau, Musikalische Leitung & Live-Musik: Gabriel Cazes, Choreografie: Laura Leora Witzleben, Video und Viedoinstallation: Tobias Hoeft, Laura Urbach, Dramaturgie: Dirk Baumann, Michael Eickhoff, Alexander Kerlin, Anne-Kathrin Schulz, Matthias Seier, Kuratorische Mitarbeit Foyer: Dirk Baumann, Übersetzung: Damiàn Dlaboha, Leitung des Sprechchors: Andreas Beck, Licht: Sibylle Stuck, Stefan Gimpel, Ton: Gertfried Lammersdorf, Robin Lockheart, Jörn Michutta, Andreas Sülberg, Chris Sauer.
Mit: Andreas Beck, Bérénice Brause, Gabriel Cazes, Christian Freund, Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Frank Genser, Caroline Hanke, Marlena Keil, Frieder Langenberger, Mario Lopatta, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Alexandra Sinelnikova, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth, Kevin Wilke, dem Dortmunder Sprechchor und Bjarne Gedrath, Tobias Hoeft, Svea Schiemann, Ralf Kubik und den Gewerken des Schauspiel Dortmund.
Dauer: 5 Stunden 15 Minuten, (k)eine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

Als "Potpourri der großen Gesten und Bilder, willkürlich aus dem großen Weltenwust herausgegriffen", beschreibt Dorothea Marcus im Deutschlandfunk (26.5.2019) den Abend. "Manchmal wirkt das wie Kunst. Manchmal aber auch – wie eine banale Behauptung."

"Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason setzen auf das ganze Team, auf die Persönlichkeiten und – wer wollte – auf ihre Texte. Hier steht das Theater auf und gibt sich zum Besten", schreibt Achim Lettmann im Westfälischen Anzeiger (26.5.2019). "Nonsens, Klamauk, Übertreibungen und sehr viel Wissen ('Bedeutende Dortmunder'...) bleiben einzelne Sprechnummern." Lettmanns Fazit: "Große Leistungsschau einer Sprechtheaterbühne, die mit einzelnen Vorträgen fesseln kann, aber letztendlich keine szenische Bindung findet für die heterogenen Texte."

"Wer sich mit inszenatorischen Konventionen und eingeschliffenen Manierismen des deutschen Gegenwartstheaters druckbetanken lassen möchte", dürfe diesen "Irrgarten" nicht verpassen, schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (27.5.2019). Aus der "Reihe dissoziierter Szenen, die genauso gut halb so lang oder doppelt so lang sein könnten, ohne etwas Substantielles zu verlieren oder hinzuzugewinnen", pickt er sich dennoch einige Highlights: den archaisch wie einen Haka wirkenden Genesis-Tanz; Merle Wasmuths Version von "Je ne regrette rien"; den stummen Monolog von Frank Genser, "ein beeindruckender Akt darstellerischer Disziplin als auch das am konsequentesten durchgearbeitete Symbol des Abends“. "Nicht zufällig" erinnere das "Theaterblutgeglitsche" von Merle Wasmuth und Uwe Schmieder an Frank Castorf, so Menden, und damit an Arnarssons künftige Wirkungsstätte, die Volksbühne. "Es ist nur weit weniger genau und deshalb beliebiger – so wie überhaupt der Abend ... stellenweise dramatisch so stichhaltig anmutet wie ein gespielter Twitter-Thread."

 

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