Lulu - Volksbühne Berlin
Critical Maleness
von Elena Philipp
Berlin, 30. Mai 2019. Verlebt. Verrucht. Sexy. Lasch. Oder Exaltiert. Die Personage dieser "Lulu" lebt von ihrer Haltung, äußerlichen Posen, die auf ein Inneres nicht mehr verweisen, denn im vermutet Innersten geht's letztlich nur darum: Wer bleibt hart und wer hat den weichen Kern? Wer gewinnt, wer verliert? Das gilt in dem hier gezeigten Spiel von Mann und Frau mit seinen Abhängigkeiten und Dominanzgesten. An Lulu, dem Wedekind'schen Monstre-Geschöpf, das sei Suspense-killend verraten, zerschellen letztlich alle Männer.
Lässige Lulu
Lulu, die in Wedekinds Dramen-Doppel "Erdgeist" und "Die Büchse der Pandora" vom Gesellschafs-It-Girl zur Prostituierten abstürzt, wird dort zum Schluss von Jack The Ripper umgebracht. In Stefan Puchers Volksbühnen-Version passiert der Mord gleich zu Beginn: Da wählt Lilith Stangenbergs mit BH und Mini knappst bekleidete Lulu den Falschen aus fünf Gecken, die sich wie Modepuppen ins Schaufenster der stufenreich staffelbaren Rahmenkonstruktion von Bühnenbildnerin Barbara Ehnes gestellt haben. Nach irgend einem Hosenbund greift sie, die sich als unerfahren outet im Metier. Der gewählte Freier (soigniert im Nadelstreifenanzug: Waldemar Kobus) ist besagter Frauenmörder. Brutal ersticht er Lulu, tritt sie die Treppe hinab, sie stürzt und rollt filmreif in den Tod – um nach kurzem Opferposing wieder aufzustehen, für einen verschwesternden Monolog an der Rampe, in dem sie allen Frauen gleichermaßen ihre Achtung ausspricht: den sanften und den koketten, denen, die nach Sex riechen oder nach dem Kuchen für die Kinder. Sie freue sich für alle, betont sie unter ihrer struppig mausbraunen Perücke, die zufrieden damit sind, wie's ist – und dreht ab mit einer linkisch-eleganten Lilith Stangenberg-Kehrtwende: "Nur dass ich nicht dazugehöre." Lässiger hat sich eine Theaterfigur selten vorgestellt.
Feiert Lulu also Lust, Vielfalt und Verwandlung, ringen die Männer in Puchers Inszenierung mit den ganz ollen Rollen: Gewünscht wird von Lulus erstem Ehemann, dem Medizinalrat Goll (Andreas Leupold): eine gute Hausfrau, aber nicht zu muttimäßig, mit Beruf, aber nicht erfolgreicher als der Mann, verführerisch, aber nicht nuttig. Dass es dieses (von Virginie Despentes in ihrer "King Kong Theorie" als verabscheuenswert vorgebrachte) binär gepolte Optimalmodell nicht gibt, merkt Leupolds gleichermaßen Wampe wie Pelzmantel tragender, Lulu beim Auftritt wie nebenbei würgender Lüstling schon noch selbst. Nur darüber hinaus kommt er nicht. Die Frauen sind da weiter, wie später auch Sandra Gerling in einem stupend rotzigen Auftritt als Lulu liebende Gräfin Geschwitz beweist, in dem sie für die Freiheit der Frauen von jeglichen vorkonstruierten Verhaltensmustern streitet.
Frauenfreundliche Relektüre
Puchers Lesart der "Lulu" hat deutlich einen #MeToo-Hintergrund. Im Programmheft bekunden die für den Abend verantwortlichen Männer – "ein Autor (Mann, tot), ein Intendant (Mann), ein Regisseur (Mann), ein Dramaturg (Mann)" –, sich der "schmerzhaften Verpflichtung" stellen zu wollen. "Der Elefant im Raum: Theater, Repräsentationskultur, eine Kultur von Männern für Männer entworfen und gepflegt", heißt es einleitend. Critical Maleness könnte man den Ansatz nennen. Und die Inszenierung werten als Versuch, Wedekinds "Lulu" einer frauenfreundlichen bis feministischen Relektüre zu unterziehen.
Fremdtexte bürgen für das Anliegen: Virginie Despentes' bereits erwähnte "King Kong Theorie", die in bühnenbreit projizierten Videos von Lilith Stangenberg mit Riesenaffe eine Spiegelung erfährt, Auszüge aus Despentes' Roman "Vernon Subutex", Valerie Solanas' SCUM-Manifest oder der sex- und gewaltgeneigte Berliner DJane-Roman "M" von Anne Gien und Marlene Stark. Auch live-musikalisch läuft eine Kommentarspur mit, von dem furchtbar naiv klingenden Song "I've written a letter to Daddy" aus dem Hollywood-Psycho-Frauen-Thriller "What Ever Happened to Baby Jane?" mit Bette Davis, den Lilith Stangenberg als Siegerin im mentalen Kampf mit ihrem Entdecker, Liebhaber und Impresario Schön (Waldemar Kobus) auf dessen Rücken sitzend singt, über weiblich appropriierten Punk Rock von The Cramps ("What’s inside a girl?") bis zu aktuellem Frauen-Rap. Und ganz zum Schluss erschießen in dieser "Lulu" die Frauen die Männer, darunter auch den gen Publikum monologisierenden Autor (Theo Trebs). Peng!
Kluft im Spiel
Konzeptuell stimmig, kommt die Premiere allerdings nur momentweise übers Thesen-Theater hinaus. Eine Frage des Timings, die sich in weiteren Vorstellungen noch geben kann? Oder doch ein Resultat der Spielweise? Die Spieler*innen probieren Texte und Haltungen an, als seien's Kostüme, um Geschlechterbilder als Konstrukt zu enttarnen. Sie distanzieren sich von den Wedekind'schen Figuren, ohne je aus der Rolle zu fallen, und halten das beständig an der Rampe angesprochene Publikum auf Abstand. Einzig Lilith Stangenberg als Castorf-Spielerin vermag diese Kluft im Spiel zu überbrücken, weil sie unterschiedliche Haltungen gleichzeitig adressiert. Das gespenstische Volksbühnen-Gefühl stellt sich ein: als sei ein aktueller Abend eine nicht ganz gelungene Imitation des Vergangenen.
Lulu
von Frank Wedekind
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüm: Annabelle Witt, Licht: Kevin Sock, Musik: Christopher Uhe, Video: Meika Dresenkamp, Choreographie: Sylvana Seddig, Dramaturgie: Florian Feigl.
Mit: Jan Bluthardt, Sandra Gerling, Waldemar Kobus, Andreas Leupold, Silvia Rieger, Sarah Maria Sander, Sylvana Seddig, Lilith Stangenberg, Theo Trebs, Moritz Carl Winklmayr, Musiker: Réka Csiszér, Michael Mühlhaus.
Premiere am 30. Mai 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.volksbuehne.berlin
Das "Happy End", in dem die Frauen die Männer umbringen, sei "das Gegenteil von originell, es ist nichts weiter als eine allzu simple Umkehrung", sagt André Mumot im Deutschlandfunk Kultur Fazit (30.5.2019), "aber immerhin eine gelöste, geradezu fröhliche Aktion am Schluss eines verkrampften, verbiesterten, übervorsichtigen Abends, der keinen Hehl daraus macht, mit der eigenen Stoffwahl auf permanentem Kriegsfuß zu stehen".
"Der Kampf um ein anderes Bild von Mann und Frau geht an diesem Theaterabend früh verloren", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (1.6.2019). "Es wird nicht gespielt, sondern trotzig ausgestellt. Poser schuften an der Rampe. (…) Es wirkt alles recht hilflos, wenn nicht peinlich."
Stefan Pucher "demonstriert Thesen – postpathetisch, postironisch und postglamourös", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (1.6.2019). "Die Schauspieler agieren künstlich und überzogen, sie machen uns und einander etwas vor − mit großer Geste, die zugleich immer die Mühe mittransportiert, die zu ihrer Ausführung nötig ist, und die überwältigende Müdigkeit, die aus ihr folgt."
"Stefan Puchers beschwingt aufgeklärte und ungeniert amüsante Inszenierung nimmt Wedekinds 'Lulu' nicht so genau – und kommt dem Werk damit doch nahe", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.6.2019). "Die inhaltlichen Ergänzungen und die gutmenschelnden Attitüden könnten den Abend kopflastig pädagogisch wirken und in Political Correctness erstarren lassen, doch zum Glück hat Stefan Pucher seine Vergangenheit als Poptheater-Regisseur nicht vergessen und zaubert aus all den Theorien und Ideologien einfach ziemlich gute Unterhaltung."
Das berühmte Drama solle diesmal feministisch gelesen werden. "Gezeigt werden soll Lulu, die in die Projektionen der Männer eingesperrt ist“, schreibt Esther Slevogt in der taz (3.6.2019). An diesem durchgestylten Abend herrsche "eine süffige und glamouröse Grundstimmung, der man sich gerne ausliefern würde. Wäre eben das alles nicht so schrecklich kalkuliert, auf Wirkung und Bedeutung gebürstet – die sich dann nicht mal recht einstellt." Immerhin: Lilith Stangenberg sei "fabelhaft".
"Pucher, bisher eher als Kenner psychedelisch schillernder Bewusstseinszustände und Pop-Fachmann denn als Feminist aufgefallen, scheint sich mit den Despentes-Ausrufesätzen demonstrativ um genderpolitische Korrektheit und gute Haltungsnoten zu bemühen", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.6.2019). "Interessanter als solche Signale zu setzen, wäre es gewesen, das Stück selbst zur Verwirrung und Dekonstruktion von Geschlechterklischees oder für das Spiel, sie aggressiv auszustellen, zu benutzen." Dazu reiche es schon aufgrund der Überforderung des Ensembles nicht. "Die meisten Spieler wirken hilflos und von der Regie im Stich gelassen."
"Stefan Pucher tat sich enorm schwer, Wedekinds verruchter 'Lulu' frauenkämpferische Töne beizubringen", schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (7.6.2019). Die Inszenierung sei ein "hoffnungslos sich um eine klare Aussage windende(s)" Unternehmen.
Im Magazin Monopol (9.6.2019) nennt Anna Gien, aus deren – zusammen mit Marlene Stark geschriebenen – Roman "M" in der Inszenierung zitiert wird, den Abend "ein Paradebeispiel für ein um sich greifendes Feminismus-Spektakel". Alles, "was mit leidenden, kämpfenden, vergewaltigten, belästigten, schreibenden, politisch Stellung beziehenden, sich zur Wehr setzenden Frauen zu tun hat", werde "in den Thermomix geworfen, einmal durch den Gebärmutterhalswolf gedreht, mit ein paar Spritzern frischem Menstruationsblut besprenkelt und für 12,99 Euro als 'radikal', 'sexy' und 'vulgär' verkauft". Motive wie ein "Rape-Running-Gag und weitere abwegig mehrdeutige Entstellungen der Motive des Wedekindschen Texts" zögen sich durch die gesamte Inszenierung, "deren Hauptdarstellerin in ihrer Rolle als gerade genug widerspenstige Männerfantasie zwischen zusammengewürfelten Feminismus-Brandreden verschwindet, die hier in dem wilden Zusammengecollagiere völlig ihre Schlagkraft verlieren". Giens Rat: "Wenn ihr Frauen sprechen lassen wollt, dann lasst sie sprechen. Ohne ihre Stimmen für eure Zwecke zu benutzen, egal wie 'gut' dieser Zweck euch erscheint."
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wenn es etwas sehen- und hörenwertes gestern gab, dann die Musik. Die fand ich richtig gut, bis auf den Glitzeranzug von dem einen Musiker.
Speziell "Letter to daddy" war eine der besten Szenen, wie Frau Stangenberg
auf ihrem Mann sitzt, zaubert und singt.
Die Videobilder der beiden Frauen, die ausbrechen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, sind sicher reichlich plakativ, aber endlich ein vielversprechender Ansatz, wie man den angestaubten, mehr als ein Jahrhundert alten Stoff von Frank Wedekind inszenieren könnte.
Aber leider kommt diese starke Szene zu spät: sie ist der Schlusspunkt nach zwei Stunden, die über weite Strecken zäh und uninspiriert abgespult wurden. Dem Abend ist sichtlich das Unbehagen von Regisseur Stefan Pucher und seinem Team anzumerken, die mit dem nur noch selten gespielten Stück über eine weibliche Projektionsfläche von Männerphantasien wenig anzufangen wussten.
Lilith Stangenberg, eine der prägenden Spielerinnen der Castorf-Spätphase an diesem Haus, kann den bleiernen Abend, der auf sie zugeschnitten ist, auch nicht im Alleingang stemmen. Sie wechselt fast im Minutentakt ihren Look und hat in der zweiten Hälfte einige mitreißende Songs, die von drei Live-Musiker*innen (Réka Csiszér, Michael Mühlhaus, Sarah Maria Sander) begleitet werden.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/01/lulu-stefan-pucher-volksbuhne-kritik/
Und damit eben auch kaum wirklich bedrohlich, leicht wegzulachen und wegzudrücken. Doch ergeht es den Frauen kaum besser: Da können Stangenbergs Lulu und Sandra Gerlings Geschwitz noch so sehr über ihre Unangepasstheit monologisieren, ihre Wort fallen so bleiern in den asdeptischen Horrorraum, dass sie Papier bleiben, auch wenn das neue, mörderisch emanzipatorische Ende anderes behaupten will. Dass ausgerechnet die stets tatsächlich unangepasste Silvia Rieger sich in die Rolle des Schigolch verzwergen muss, tut dem emanzipatorisch, männliche Schuld eingestehen wollenden Ansatz des Abends ebenfalls nicht gerade gut. Auch weil die zunächst als objektifizierte Puppen eingefrorenen Frauenfiguren nie so richtig zum Leben erwachen. wie auch – als Gespenster? Pucher flüchtet sich lieber in Bilder, solche des Eingeschlossenseins, der Unterwerfung (oft plumpe Oben-Unten-Anordnungen), der Machtverhältnisse, wobei er Wedekinds – um es freundlich auszudrücken – schwieriges Frauenbild von der ewigen Verführerin – immer wieder gefährlich nahe kommt. Der Grat zwischen emanzipatorischer Unabhängigkeit und dem Rückfall in zu überwindende Klischees ist hier ein sehr schmaler.
Kein Wunder, dass die Inszenierung wiederholt abstürzt. Mal fällt sie in oberflächliche und eiseskalte Schauerromantik, mal in hyperaktive effekthascherische Bilder-Hektik, wirft mit allerlei Fremdtexten – von Virginie Despentes oder Valerie Solanas etwa, natürlich darf auch Lacan nicht fehlen – um sich und weiß doch nicht, wohin mit ihr. Auch weil fast alles frontal von der Rampe gesprochen und gespielt wird. Thesen- und Bildertheater, atmosphärisches Trauerspiel und intellektuell aufregendes Diskursdramas: Der Abend will das alles sein und ist nichts davon. Er bleibt gefangen in seiner Suchbewegung nach einem vorwärts weisenden männlich feministischen Blick. Eine Unmöglichkeit, was wohl auch Pucher merkt. Weswegen er die eigene Ratlosigkeit mit allerlei Theaterdonner zukleistert, der so aufgesetzt wirkt, dass er eben auch nicht zündet, denn auch sein Unterhaltungsniveau bleibt im unterkühlten Bereich. Vielleicht will er auch zeigen, wie ungeeignet Lulu für eine eindeutig feministische Neuauslegung ist. Das zumindest wäre gelungen.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/06/02/unterkuhlte-gespenster/