Deckel drauf und alles Gute

von Dieter Stoll

Nürnberg, 1. Juni 2019. "Hallo Leute, ich kann fliegen", ruft der junge Mann im Livestream von der großen Leinwand – und nimmt Anlauf. Welch ein Irrtum! Es plumpst gewaltig, und die aus höchster Portalhöhe gestürzte Stellvertreter-Puppe klatscht auf die Vorderbühne, wo sie für den Rest des Abends mahnend liegen bleibt. Der echte Nathanael war als kindliches Opfer grausamer Betthupferl-Geschichten immer von Angst vor dem schwarzen Mann mit der blutigen Gier nach fremden, nämlich seinen Augen gebeutelt. Nun wird ihm in der Erwachsenen-Runde der latenten Sinn- und Überlebenskrise ein anderer Platz reserviert. Sanfte Ruhe ist vorerst nicht zu erwarten, obwohl der Sargdeckel bereits einladend hochgeklappt ist.

Traum und Trauma

Eine Trauerhalle mit Rednerpult und Sitzgelegenheiten zu geordnetem Beileid (Bühnenbildner David Hohmann holte dafür Inspiration vom kuriosen Trend zur gefakten Nahtoderfahrung in Südkorea) ergibt die Grundausstattung, das Metaphern-Mobiliar fürs professionelle Nachbeben von E.T.A. Hoffmanns schwarzromantischer Erzählung "Der Sandmann", wie sie Regisseurin Clara Weyde in ihrer Inszenierung am Staatstheater Nürnberg sieht. Und das zeitweise in doppelter Ausfertigung, denn eine real umgesetzte Spiegelung der Szene, massiv wie das Original, stellt hinter der Schiebetür aus dem Hintergrund klar, dass sich hier niemand der Abgrenzung zwischen Traum und Trauma, Tief- und Wahnsinn sicher sein sollte. Alles kann Fakt sein oder Manipulation, was die schummrige Psycho-Logik des nicht mehr ganz so jungen Nathanael antreibt, wenn er zwischen der Vernunft-Verlobung mit seiner soliden Braut Clara, die so schön lachen und dabei Servietten falten kann, und der irrationalen Faszinationskraft des weiblichen Automaten Olimpia taumelt. Wo soll das nur hinführen?

Die große Schwester von Alexa

Clara Weyde und Brigitte Ostermann haben für ihre Nürnberger Fassung nicht den forschenden Blick von außen gewählt, sondern die (von ihnen) gelenkte Fantasie des Nathanael zum Maß aller Dinge gemacht. Ein Standpunkt wird festgeklopft und an sehr elastischer Dramaturgen-Leine im großen Radius umkreist. Die Inszenierung folgt den Obsessionen des tragischen Helden quer durch alle irrlichternden Rückblenden, die da durch zungenbrechende Gedenkreden flimmern,  und setzt seine Partner dem scharfen Blick der satirischen Zuspitzung aus. Die ganze Gesellschaft ist wie von Teletubbies durchpulst, Professoren und Trauerredner verschlucken sich am Tonträgersalat der eigenen Rhetorik, Schreckensfiguren huschen wie ein Gruß von Harry Potter in Todesser-Pose durch die Szene, ein Menuett rutscht in die Disco und Cliff Richard singt "Living Doll".

Der Sandmann3928 560 Konrad Fersterer uAnnette Büschelberger (Mutter), Maximilian Pulst (Nathanael) © Konrad Fersterer

Mit dem Sackkarren wird die große Liebe für subtilere Aufgaben herbeitransportiert, der Automat Olimpia. Keine Puppe wie im Original, sondern "lernende Intelligenz" verführt den Träumer zwischen den Welten und stöpselt sich in Notfällen selber zur Abschöpfung der nötigen Energien ans Netz. Die große Schwester von Alexa bleibt bis zum Exit mit sanfter Stimme im Spiel. "Wenn du Olimpia liebst, dann liebst du ein Programm", wird gewarnt. Soll schon vorgekommen sein. Maximilian Pulst zieht als panisch naiver, von Angst und Sehnsucht umstellter Nathanael in ein spannendes Manöver gegen die Eindeutigkeit, das in den weltensprengenden Dialogen mit Pauline Kästners fleischgewordener Internet-Stimme die größten Erfolge hat. Die Selbstauflösung in Flammen ist hier ein Unfall des Betriebssystems, weil Olimpia versehentlich das falsche Stichwort gesagt wird. Immerhin, an Jacques Offenbach oder Robert Wilson denkt bei diesem "Sandmann" niemand.

Schnell-Biografie

Aus dem Gedenk-Ritual am offenen Sarg zu Beginn entwickelt sich eine komödiantisch übermalte Schnell-Biografie von knapp hundert Minuten (laut Programmheft war die Inszenierung allerdings bis kurz vor der Premiere noch 20 Minuten länger), die der geheimnisvoll dunklen Romantik des E.T.A. Hoffmann und ihrem Hang zum Schwebezustand nicht wirklich traut. Insofern ist gegen das Ende, wenn die lieben Freunde zur gemeinsamen Tat schreiten, kaum etwas einzuwenden. Der Außenseiter guckt nochmal hoffnungsvoll aus dem finalen Möbelstück auf den Lauf der Welt, aber das Kollektiv will nichts so sehr wie Ordnung: "Deckel drauf und alles Gute!"

Der Sandmann 3810 560 Konrad Fersterer uAnna Klimovitskaya (Clara), Tjark Bernau (Sigmund), Maximilian Pulst (Nathanael), Pauline Kästner (Olimpia)
© Konrad Fersterer

Am Rande bemerkt: Die Premiere fand im Schauspielhaus am vorletzten Abend des 21. Internationalen Figurentheaterfestivals statt, wo zuvor schon an acht Tagen in der nächsten Nachbarschaft von Erlangen, Fürth und der Nürnberger Tafelhalle immer wieder Gruppen auftauchten, die Roboter-Träume, Maschinen-Seelen und Prothesen-Poesie hingebungsvoll in Stellung brachten. Eine Kooperation der beiden Systeme (Staatstheater/Festival) bei einem schon so lang im voraus erkennbaren glücklichen Zufall der vergleichbaren Thematik hätte als Vergleich oder als Erweiterung unterschiedlichster Formate produktiv sein können – hat aber in diesem Fall leider nicht stattgefunden.

 

Der Sandmann
von E.T.A. Hoffmann, Fassung von Clara Weyde und Brigitte Ostermann
Regie: Clara Weyde, Bühne: David Hohmann, Kostüme: Clemens Leander, Musik: Thomas Leboeg, Choreographie: José Hustado, Licht: Tonias Krauß, Dramaturgie: Brigitte Ostermann.
Mit: Maximilian Pulst, Pauline Kästner, Anna Klimovitskaya, Annette Büschelberger, Sascha Tuxhorn, Felix Mühlen, Nicolas Frederick Djuren, Cem Lukas Yeginer, Tjark Bernau, Frank Damerius.
Premiere am 1. Juni 2019
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

"Nein, 'Der Sandmann' ist kein Fiasko. Aber eben auch nicht der große Wurf, der er sein könnte. Fragt man sich doch, und das sehr bald, wo es hinführen soll, wenn nur eine schräge Idee auf die nächste folgt, eine magisch gemeinte Szene auf die andere, ohne dass daraus so etwas wie eine Geschichte wird", schreibt Wolf Ebersberger in der Nürnberger Zeitung (3.6.2019). Clara Weydes Regie liefere zwar konsequent Bildertheater, schlüssig wirke das Ganze dennoch nicht. "Statt die Romantik der Vorlage ernstzunehmen, löst Weyde die Handlung in einen Reigen kurioser Gestalten und Momente auf."

"Clara Weyde setzt bei ihrer aufwändigen Inszenierung auf die surreale Logik des Traums und eindrucksvolle Rätsel-Bilder", schreibt Steffen Radlmaier in den Nürnberger Nachrichten (3.6.2019). "Die Dialoge zwischen Olimpia und Nathaniel gehören zu den eindringlichsten Szenen der Inszenierung, die den 'Sandmann' mit der Problematik der Künstlichen Intelligenz konsequent zusammendenkt." Nicht alles erschließe sich in diesem sehenswerten 'Sandmann'.

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