"Nur spielen reicht nicht mehr"

von Georg Kasch

6. Juni 2019. Urlaub, Seenplatte, Herzogtum: Wer an die kleine Stadt Neustrelitz im östlichen Mecklenburg denkt, hat selten zuerst das Theater auf dem Schirm. Dabei wird dort seit knapp 250 Jahren gespielt. Im Landestheater – außen 20er-Jahre-Klassizismus, innen Charme der frühen DDR – residiert ein Mehrspartenhaus mit Oper, Schauspiel, Ballett, Orchester und Bürgerbühnenformaten. Deutsche UNESCO-Stadttheaterlandschaft in der Nussschale. Und wie an vielen größeren Häusern zeigt sich auch hier der tägliche, unterfinanzierte Kampf um die kulturelle Vielfalt, um das Publikum, aber auch um Details wie Saumfassungen und Akzente im Klavierauszug.

Davon erzählt Lucas Thiems Dokumentarfilm "Nicht hier um zu kritisieren – Theater bis der Vorhang fällt". Er begleitet einige Menschen, die in Neustrelitz Theater machen, über einige Wochen im Jahr 2015, in einer Situation, in der nicht klar ist, ob das Haus überleben wird.

Was macht den Organismus Stadttheater aus?

2015 lief alles darauf hinaus, dass Neustrelitz – seit 2000 in einer Theaterehe mit Neubrandenburg – gemäß dem METRUM-Gutachten mit dem Theater Vorpommern (Stralsund, Greifswald, Putbus) zum Staatstheater Nordost hätte fusionieren müssen, umfangreicher Personalabbau inklusive. Dank des Theaterpakts von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig ist das jetzt vom Tisch – die ehemalige Residenzstadt mit ihren nur gut 20.000 Einwohnern bleibt Produktionsort.

Dass davon nicht im Film erzählt wird (der zum Zeitpunkt dieser Entscheidung längst abgedreht war), sondern im Vorspann, rückt das Geschehen in eine historische Perspektive. Seine Fragen aber bleiben dringend: Was macht es mit einem Theater, seinen Mitarbeiter*innen, einer Stadt, wenn das Damoklesschwert der Schließung drüber schwebt? Und was macht den Organismus Stadttheater aus?

NHUZK Standfoto 1 560 LucasThiem uDas Theater schließt Lücken im Musikunterrricht. Der Neustrelitzer Theaterfilm "Nicht hier um zu kritisieren". Standfoto © Lucas Thiem

Zusammen mit der Kamera heftet man sich an die Fersen mehrerer Mitarbeiter*innen, hört den kleinen Opernchor in einer Probe heftig tremolieren, sieht einer Perückenmacherin beim Haare-Knüpfen zu, erlebt den Leiter des Abendpersonals bei den Vorbereitungen und betrachtet eine Matinee zur Premierenvorbereitung, bei der das spärlich besetzte Publikum nicht so richtig in den Dialog mit der Dramaturgin eintreten möchte.

Unterfinanzierung bei wachsenden Aufgaben

Das ist alles nicht uninteressant, kommt aber so betont ruhig daher wie ein Mecklenburger am Gartenzaun. Stark wirkt der Film, wenn er exemplarisch wird, die Probleme deutscher Stadttheater zeigt: Fließbandproduktion bei chronischer Unterbesetzung, Unterfinanzierung und wachsenden Aufgaben. In der Theaterpädagogik zum Beispiel oder in der Musik, wo die Theater längst Lücken im Schulsystem ausgleichen müssen.

NHUZK Standfoto 2 560 LucasThiem uBlick auf den Neustrelitzer Theaterbau. Standfoto © Lucas Thiem

Und wenn er Utopien entwickelt. Was kann ein Stadttheater sein? Kreativwerkstätten, in denen Fragen danach gestellt werden, was diese Gesellschaft braucht, findet Musiktheaterregisseur Wolfgang Lachnitt. Ein Ort, an dem man Visionen für ein zukünftiges Miteinander entwickeln kann, "eine neue Gesellschaftsordnung, neue Geschichten", die einem helfen, Ängste abzulegen, sagt Inspizientin, Souffleuse und Schauspielerin Martina Block. "Nur spielen reicht nicht mehr", argumentiert Spielleiterin Isolde Wabra und schlägt vor, Seminare zu machen, Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, eine Sommerakademie: "Wir müssten viel aktiver sein, auch was die Theaterpädagogik betrifft." Aber mit einer Person?

Zwischen Kolonialdeutschland und Schiller

Immer wieder taucht der Begriff des Hamsterrads auf, in dem sich alle befinden, die Überlastung, mit zu wenigen Leuten den Betrieb aufrecht zu erhalten und auch noch Perspektiven zu entwickeln. Um nämlich wirklich Zukunftslabor zu sein oder noch umfassender in die Stadt hineinzuwirken, bräuchte es mehr Mittel. Manchmal melden sich beim Schauen auch Zweifel an: Ist für solche Utopien ein derart hierarchisch organisiertes Gebilde nicht vielleicht doch der falsche Ort?

NHUZK PortraitLucasThiem 3 BildnachweisRobertGardlowskiDer Filmemacher Lucas Thiem © Robert GardlowskiInteressant wird der Film auch dann, wenn er – selten genug – Konflikte zeigt. Auf einer Bühnenprobe zu "Hänsel und Gretel" motzen sich Bühnen- und künstlerisches Personal an. Frank Mösel, ein Mitarbeiter, kotzt sich beim Angeln am See über die Politik in einer Weise aus, dass man ihn sofort in der Aluhut-Ecke vermutet. In den Werkstätten hängt eine Karte, die "Unsere Kolonien in Afrika" zeigt – bestimmt das Überbleibsel einer Inszenierung. Aber wenn sie so dekontextualisiert ins Bild gerät, fragt man sich schon, ob sich die Mitarbeiter*innen etwas dabei gedacht haben, sie da hängenzulassen, und wenn ja, was.

Thematisiert wird das alles nicht, was sicher daran liegt, das Thiem aus Neustrelitz kommt und sein Herz für die Menschen schlägt, die hier kämpfen. Aber auch daran, dass der Film über Crowdfunding finanziert wurde und zu den Gebern auch viele Menschen aus dem Theaterumfeld gehören.

So ist der Tenor des Films deutlich: Dieses Theater muss sein. "Wenn das wegfällt, hört unsere Kultur irgendwann auf zu existieren", sagt etwa Schauspieler Fabian Quast. Es sei "total wichtig, auch in einer kleinen Stadt wie Neustrelitz zu sein, zu bleiben und zu sagen, ich mache hier Theater", weil sich nur so kulturelle Vielfalt erhalten lässt. Wie zufällig gleitet später einmal die Kamera langsam über die Fassade des Baus, von dessen Giebel Schillerworte grüßen: "Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!" Jedenfalls solange der Lappen hochgeht.

 

Nicht hier um zu kritisieren – Theater bis der Vorhang fällt
Regie: Lucas Thiem, Buch: Lucas Thiem, Gunnar Rossow, Christoph Kurzweil, Kamera: Gunnar Rossow, Set-Ton: Sebastian Brattka, Schnitt: Juan Rzmv, Lucas Thiem.
Mit: Charly Hübner, Joachim Kümmritz, Hajo Funke, Fabian Quast, Ramin Varzandeh, José Caba, Isolde Wabra, Rebekah Rota, Martina Block, Benjamin Irmer, Maria Wolf, Lisa Voss, Wolfgang Lachnitt u.a.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten

 

Hier finden Sie Nachtkritiken über Theaterabende an den Verbundhäusern Theater und Orchester Neubrandenburg-Neustrelitz.