Man kennt sich

von Andreas Klaeui

Zürich, 5. Juni 2019. "Die Idee ist, Menschen zusammenzubringen, die sehr unterschiedlicher Herkunft sind, vor allen Dingen auch unterschiedlich in ihrer künstlerischen Herkunft", sagt Nicolas Stemann. Und Benjamin von Blomberg fügt an: "Was wir ermöglichen wollen, ist, dass jeder hier unter den besten Bedingungen arbeiten und seine Kunst verfolgen kann – was wir gleichzeitig einfordern, ist, dass Menschen sich zu diesem Ort bekennen." Starke künstlerische Handschriften im Rahmen des Stadttheaters zusammendenken: Das ist das Bekenntnis.

Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg treten am Schauspielhaus an, um ein neues Modell für das Stadttheater zu erfinden. Zumindest für Zürich. Ein Theater mit flachen Hierarchien – einer geteilten Intendanz, assoziierten Künstler*innen. Für ein Zürich, das diverser ist, als es den Anschein haben mag, in dem laut Recherchen der neuen Intendanten 30% der Bevölkerung Englisch spricht. Abermals zwei weiße Männer, monieren jetzt manche und ziehen die Brauen hoch. Das fänden sie auch nicht super, sagten beide schon gleich nach der Wahl (nachtkritik vom 21. Juni 2017) – und treten ebendeshalb nicht allein an, sondern mit einer nach Gender, Alter, vor allem aber auch künstlerischer Herkunft diversen erweiterten Gruppe von sieben internationalen Künstler*innen. Ihre Arbeiten sollen aus der Reibung mit dem Ort, der Stadt Zürich, entstehen; sie verlegen samt und sonders ihren Lebensmittelpunkt hierher. Das betonen Stemann wie Blomberg.

Schauspielhaus Team 560 Gina Folly uVorfreude beim neuen Team © Gina Folly

Wer sind die sieben? Leonie Böhm, Alexander Giesche, Suna Gürler, Trajal Harrell, Yana Ross, Christopher Rüping, Wu Tsang. Die Namen versprechen in der Tat ein Spektrum an ästhetischen Handschriften, Schauspiel, Performance, Film und bildenden Kunst, Tanz, das weitgespannt ist und State of the Art im guten wie im ein wenig bedauernden Sinn: eher auf der etablierten, sicheren Seite als wirklich avantgardistisch und Risiko. Manche von ihnen – Alexander Giesche, Christopher Rüping – haben im Schauspielhaus schon gearbeitet. Anderen war eher in Festival-Kontexten zu begegnen.

Festival zur Eröffnung

In der Woche vom 11. bis 15. September kann man sie alle gemeinsam kennenlernen. Dann präsentieren sie sich je mit einer Produktion in einem kompakten "Eröffnungsfestival", allerdings nicht mit neuen Arbeiten, sondern ausschließlich Übernahmen, die sie für Zürich neu einrichten. Das wird logistische Gründe haben – gleich sieben oder mit Stemann acht neue Produktionen in so kurzer Zeit und synchron zu stemmen, ist für jedes Theater ein Ding der Unmöglichkeit –, zugleich hat das Festival-Format wohl auch seine programmatische Richtigkeit: Was sich hier manifestiert, ist ein internationales Netzwerk, wie es eher aus dem Festival- als aus dem Repertoire-Betrieb vertraut ist.

Nicolas Stemann 280 Gina FollyNicolas Stemann © Gina FollyAuffällig ist nebenbei, dass auch in den Künstlerbiografien, die das Schauspielhaus publiziert, namentlich die Festivaleinladungen herausgehoben sind. Ist dies das Stadttheatermodell der Zukunft? Koproduzierende Netzwerke, nomadische Künstler*innen – wie sich solche Strukturen mit dem Anspruch des lokalen Impacts verbinden, wird einzulösen sein. "Es ist eine Besonderheit des Stadttheaters nach deutschem Vorbild, in dem jedes Fürstentum sein eigenes Haus hatte und mit den andern rivalisierte, dass die Produktionen vor Ort entstehen und für den Ort gedacht sind, dass sie dann aber Schwierigkeiten haben, außerhalb des Ortes gezeigt zu werden", sagt Stemann im Gespräch. "Wir suchen nach Partnern im deutschen Stadttheater. Alle sind interessiert, aber noch gar nicht bereit. Einer der wenigen ist Johan Simons in Bochum, der den flämischen Theaterbetrieb gut kennt, wo das ganz normal ist, wie auch in Frankreich: Um eine Produktion zu machen, tun sich vier oder fünf Theater zusammen. Das ist nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch künstlerisch viel schöner, weil die einzelnen Produktionen ein längeres Leben haben können und eine größere Anzahl Zuschauer erreichen können."

Die ersten Arbeiten

Aber nun mal konkret, womit geht es los? Alexander Giesche zeigt schon im August seine Farbnebelinstallation "Das Internet" an vier Orten in der Stadt. Suna Gürler bringt "Flex" als Übernahme vom jungen theater basel, Yana Ross ihre Version des "Wunschkonzerts" von Franz Xaver Kroetz, Christopher Rüping Miranda Julys Der erste fiese Typ von den Münchner Kammerspielen, Wu Tsang «Sudden Rise», Stemann seinen Faust-Marathon, der integral in der Schweiz noch nicht zu sehen war, Leonie Böhm "Kasimir und Karoline", Trajal Harrell "In the Mood for Frankie" vom Museum of Modern Art New York. Anfang Oktober kommt als Gastspiel auch Milo Rau mit Orest in Mossul nach Zürich. Die erste "echte" Zürcher Premiere wird Christopher Rüping inszenieren mit "Früchte des Zorns" nach John Steinbeck Ende Oktober. Nicolas Stemann folgt mit "Schneewittchen" für ein Publikum ab acht Jahren und der Schweizer Erstaufführung von Ayn Rands "Der Streik" im Januar. Auch Christoph Marthaler wird wieder am Schauspielhaus inszenieren, für März geplant ist "Das Weinen (Das Wähnen)" nach Texten von Dieter Roth. Mit ihm, der brasilianisch-französischen Regisseurin Christiane Jatahy und Milo Rau ist eine reguläre Kooperation für die ganzen drei Jahre geplant. Mehr Gastspiele und Koproduktionen bedeutet auch: weniger Kreationsdichte am Haus.Benjamin von Blomberg 280 Gina FollyBenjamin von Blomberg © Gina Folly

So richtig freuen darf man sich schon aufs Ensemble. Auch hier lautet die Devise: "divers wie die Stadtbevölkerung, vielsprachig, vielseitig interessiert und begabt". Was konkret heißt, dass es sich aus nicht ausschließlich theatralen Zusammenhängen rekrutiert, mit Yana Ross kommt etwa die polnische Filmschauspielerin Danuta Stanka nach Zürich, mit Wu Tsang die Performancekünstlerin boychild, die Elektro-Künstlerin Asma Maroof und der Forsythe-Tänzer Josh Johnson. Unter den Neuzugängen stechen auch Thelma Buabeng heraus, Benjamin Lillie vom Deutschen Theater Berlin, Sachiko Hara aus Hamburg, Wiebke Mollenhauer und Maja Beckmann aus München – um nur sie zu nennen.

So sieht man sich wieder

Tolle Zürcher Schauspieler bleiben, tolle Neue kommen hinzu, bei anderen ist es ein glückliches Wiedersehen: etwa bei Nils Kahnwald, der in Zürich aus Christopher Rüpings Frühstück bei Tiffany in allerbester Erinnerung ist, bei Alicia Aumüller, Daniel Lommatzsch, Karin Pfammatter, Sebastian Rudolph, Thomas Wodianka … Die Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig. In diesen Namen spiegeln sich natürlich auch frühere Arbeitszusammenhänge von Stemann und Blomberg; wie insgesamt auch in dem regieführenden und stückentwickelnden Künstler*innen-Ensemble, das jetzt nach Zürich kommt. Es ist also viel Lebens- und Arbeitserfahrung, mithin viel "Altes" im Neuen, das sich ab Herbst in Zürich manifestieren wird – und das sich, auch das fällt auf, als Versprechen vor allem über Persönlichkeiten und Werkzusammenhänge definiert, weniger über Slogans oder Manifeste. Das kann heißen, dass der Verbund zwischen ihnen allen (noch) locker geknüpft ist; das heißt auf jeden Fall, dass hier viel Kunsterfahrung, viel bereits erbrachter Leistungsausweis nach Zürich kommt.


Presseschau

"Die Idee, viele sehr unterschiedliche künstlerische Köpfe am Haus über längere Zeit zu vereinen, hat Potenzial", schätzt Alexandra Kedves vom Tages-Anzeiger (online 5.6.2019) nach der Pressekonferenz ein. Den Akzent setzt ihr Text auf den Koproduktionsgedanken der neuen Theaterleitung: "Das Netzwerken und die sinnvolle Nutzung von Synergien haben sich Stemann und Von Blomberg auf die Fahnen geschrieben. Von Intendanten-Eitelkeiten rund ums Premieren- und Uraufführungsbusiness wollen sie generell absehen: Gute Kunst soll wandern dürfen."

"Stemann, von Blomberg und ihr Team haben sich an der Pressekonferenz als berührbare Künstler vorgestellt, und das ist gut", urteilt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (online 5.6.2019) und benennt aus ihrer Sicht Anforderungen, die erfüllt sein müssen, um aus der Filmstadt Zürich auch eine Theaterstadt zu machen (u.a. Theater soll Ort der Reflexion sein, sinnliche Begegnung ermöglichen, über ein festes Ensemble und Repertoire Identifikation stiften, "Ortskunde und Mentalitätskunde" betreiben).

"Intensiver hat man eine Spielzeitpräsentation noch nicht erlebt", schreibt Julia Nehmiz im St. Galler Tagblatt (online 5.6.2019). Stemann und von Blomberg "warten mit einem aussergewöhnlichen Programm auf, erweitern den herkömmlichen Theaterbegriff".

Als "Schauspielreformhaus" stellt Tobi Müller in seinem auf Vorabrecherchen basierenden Longread in der Republik (online 5.6.2019) die neue Zürcher Theateridee von Stemann/von Blomberg  vor. In vier Kernpunkten umreißt er das Modell dieses Reformhauses (Müller hat sie umfangreichen Gesprächen mit vielen der Beteiligten abgewonnen): 1) "Weniger produzieren, mehr nachdenken, auch im Kollektiv." Das werde möglich, weil die leitenden Künstler*innen sich verpflichtet haben, vor Ort zu arbeiten. 2) "Die Kunst an die erste Stelle setzen, nicht den Apparat, den es zu füttern gilt. Es geht darum, die betriebliche Routine von Bühnenbildentwurf, Bauprobe, langem Warten und raschem Inszenieren zu durchbrechen." 3) Mehr Austausch von Produktionen mit anderen Theatern, was u.a. durch schlankere Bühnenbilder möglich werde. 4) "Kein globales Theater-Shopping, stattdessen Durchmischung vor Ort und auf Augenhöhe mit dem Publikum." Publikumsgespräche und direkte Kommunikation würden anders als in der künstlerisch fruchtbaren, aber kulturpolitisch problematischen Intendanz von Christoph Marthaler Teil der Arbeit am Zürcher Haus. Der Kerngedanke des gesamten Modells liege in der "Entschleunigung" der Arbeitsprozesse.

Auch mit Blick auf den parallelen Neustart am Zürcher Neumarkt sagt Dagmar Walser im Schweizer Rundfunk SRF (6.6.2019): "Zürich steht also ein Umbruch bevor wie er lange nicht war. Wenn dann im nächsten Jahr auch noch das grosse Haus für die freie Szene, die Gessnerallee, von einem jungen Kollektiv übernommen wird, wird sich das Publikum erstmal neu sortieren müssen. Auf neue Impulse und einen breiten Theaterbegriff kann es sich schon mal freuen."

Für Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (online 6.6.2019) klingen die Konzeptideen von Stemann/von Blomberg "wie eine Beschreibung der (Münchner) Kammerspiele im Ist-Zustand". Er schreibt: "A priori wirkt der Spielplan genau so, wie man zeitgenössisches Theater jetzt halt so macht, egal ob in Berlin, München oder eben Zürich. Barbara Frey war da schweizerischer."

 

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