Tanzen am Grund der Flasche

von Katrin Ullmann

Hamburg, 6. Juni 2019. Wein, Bier oder Wodka? Die Bar ist durchgehend geöffnet und selten war ein Drink auf Kampnagel so günstig wie heute. Kommt, trinkt! "Der Alkohol ist ein Monster", ruft Franck E. Yao, und "Ich bin der, der das Monster bekämpft!" Zuckend führt er eine unsichtbare Flasche zum Mund, stößt sie weg. Zittert, bebt und widersteht erneut der Verführung. Martialisch sind seine Bewegungen, martialisch auch die Sounds, die diese begleiten. Mitten im Raum steht der ivorische Tänzer, Performer und Co-Gründer von "La Fleur". Kraftvoll. Und abstinent. Am Ende des Abends wird er wieder dort stehen. Und widerstehen.

Ganz nach unten

Dazwischen hört und sieht man die Geschichte von Gervaise, der Hauptfigur aus Émile Zolas "Der Totschläger", oder auch "Die Schnapsbude". Der Roman aus dem Jahre 1877 war der Durchbruch des französischen Schriftstellers und gehört zu dessen Zyklus über die Familie Rougon-Macquart. 20 Bände umfasst die Reihe, "Nana" zum Beispiel entstammt ihr, "Der Bauch von Paris", "Das Paradies der Damen" und "Germinal" sind die bekannteren Titel.

Da Zola darin die Verfallsgeschichte einer Familie erzählt, geht es natürlich auch mit Gervaise, die anfangs glücklich verheiratet und sogar ein bisschen wohlhabend ist, im Laufe der Geschichte stetig bergab. Und zwar tiefer als jene drei Treppenstufen, die in manche Spelunke führen. Vom ersten Mann betrogen, verliert sie bald den Glauben an das andere Geschlecht, trifft einen Neuen, verliert diesen an den Alkohol, bekommt ein paar Kinder, arbeitet als Wäscherin, verliert die Hoffnung wieder, trinkt und säuft. Sie geht anschaffen und auf wie ein Schwamm, so wird es erzählt, und stirbt am Ende elend einsam unter einer Treppe.

Feiert mit!

Immer wieder werfen die Performer von "La Fleur" Versatzstücke des Romans in den Raum. Distanziert und ungerührt erzählen, skizzieren sie dessen Handlung – meist auf Französisch und simultan übersetzt von Monika Gintersdorfer, der Regisseurin und Mitgründerin von "La Fleur". Sie tanzen die ein oder andere Episode, probieren mit den Rougon-Macquarts eine Familienaufstellung. Sie zeigen Milieu, ohne illustrativ zu werden, feiern den Exzess und laden die Zuschauer permanent zum Mitfeiern ein.

IMG 3499Reich gedeckt © Katrin Ullmann

Diese haben fast keine andere Wahl. Frei im Raum stehen sie, werden zum Mittanzen aufgefordert und immer wieder zum Barbesuch. "Keine Sitzplätze", stand schließlich im Kleingedruckten. Und so gerät und bleibt der Raum in Bewegung. Mal rücken kurze Choreografien die Mühen der körperlichen Arbeit ins Bild, mal lenken Videos den Blick nach Paris in den Stadtteil Chateau Rouge, mal wird vom ähnlich verruchten Nachtleben im Hamburger Quartier St. Georg erzählt, mal dominieren die Bässe (Arvild Baud) und mal erscheint eine grüne Fee (Cora Frost) mit geistreichen Tipps, bevor zur gemeinsamen Raucherpause geladen wird.

Der Abend ist voll kluger Verknüpfungen und feinsinniger Andeutungen. Die Atmosphäre ist lässig, musikalisch-spielerisch sind die Abläufe, grandios die deutschen, französischen, ivorischen und die egal-woher-sie-kommen-Performer. Der Zuschauer wird leichtherzig Teil dieser Gemeinschaft.

Dass später auch noch über die Kolonialisierungsroute des Alkohols mäandert wird, über fliegende Händler, Eckkneipen mit Juke-Box, AfD-Flugblätter und Polizeimaßnahmen, ist ziemlich entbehrlich. Und Gedanken zu Ausbeutung und Selbstausbeutung, wie es der programmatische Titel "Körper als Unternehmen" vermuten ließe, werden lediglich in ein paar Nebensätzen laut.

Literatur in Bewegung

Mit Die Selfmade-Aristokratie waren "La Fleur" im Herbst 2017 zuletzt auf Kampnagel zu sehen. "Getanzte Literatur" nannten sie ihr neues Genre, lose assoziativ bezogen sie sich darin auf Honoré de Balzacs "Das Mädchen mit den Goldaugen". Auch in ihrer aktuellen Arbeit wird Literatur getanzt und Zola mit Sankt Georg, Raucherkneipen mit Vergnügen, Alkohol mit Verfall verknüpft. Der Abend geht deutlich länger als eineinhalb Stunden und als alle – und vor allem die Musik – nach dem Schlussapplaus noch mal aufdrehen, ruft der Schreibtisch. Er ruft laut. Lauter, viel lauter als die Musik. Leider!

 

Körper als Unternehmen
von La Fleur
Regie: Monika Gintersdorfer, Choreografie: Franck E. Yao alias Gadoukou la Star, Musik: Arvild Baud, Bühne: Lydia Schellhammer, Chris Mukenge, Kostüme: Abdoulaye Kone alias Bobwear, Produktionsleitung: Gregor Zoch.
Mit: Annick Choco, Danny Banany, Jean Claude Dagbo alias DJ Meko, Léonard Engel, Cora Frost, Carlos Martinez Velazquez, Ordinateur, Jesseline Preach, Franck E. Yao alias Gadoukou la Star, Gregor Zoch.
Premiere am 6. Juni 2019 auf Kampnagel in Hamburg
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de

 


Kritikenrundschau

Yao und Gintersdorfer interessiert an Zolas Roman "nicht der moralische Gehalt des Stoffes, sondern die Frage: Was sind das für Strukturen, in denen die Figuren handeln? Welche Codes sind zu beachten?", schreibt Falk Schreiber im Hamburger Abendblatt (8.6.2019). "Man sieht kleine Choreografien, die man nicht versteht: eigenartige Begrüßungsrituale, Tänze, angedeutete Kämpfe. Show." Und: "Wie oft bei La Fleur findet der Abend keinen befriedigenden Schluss."

 

Kommentar schreiben