"Die Praxis ist die Message"

12. Juni 2019. Sein Lebenstraum sei es nicht gewesen, und doch schultert er jetzt die Bürde. René Pollesch kehrt an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin zurück und übernimmt die Intendanz des Hauses ab der Spielzeit 2021/2022. Gemeinsam mit "Sisters & Brothers in Crime", wie er sagt. Ein Kommentar.

Von Christian Rakow

Autor und Regisseur René Pollesch (1962 in Friedberg/Hessen geboren), designierter Volksbühnen-Intendant, nach der Pressekonferenz © chr

12. Juni 2019. "Als der Wind ihnen die Brillen vom Gesicht fegte, wurde es vielerorten unscharf." Es gibt nicht viele Menschen, die solche Sätze schreiben können. So voller Witz und Schärfe und Rätsel. Jakob van Hoddis konnte es: "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut." René Pollesch kann es auch. Egal ob in seinen inzwischen irgendwas bei einhundert Theaterstücken oder wie in diesem Falle auf Twitter, wo Pollesch, anders als viele andere Theaterschaffende, eigentlich nie seine Kunst fallen lässt zugunsten von Meinungsbildung, zugunsten von Selbstvermarktung. Pollesch ist Künstler durch und durch, einer, der Texte freistellt, der in seinen Ent-Äußerungen blitzartig aufscheint und verschwindet, einer der wenigen von Rang in der Welt des zeitgenössischen Theaters. Seit heute ist er nun auch offiziell designierter Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz von 2021 bis 2026.

"Back to the roots"-Gefühl

Die Vorstellung bei der Pressekonferenz im gut gefüllten Roten Salon der Volksbühne hat etwas Gehetztes. Kultursenator Klaus Lederer rast durch sein Resümee des Findungsprozesses. Transparenz war versprochen worden, letztlich lief das Wesentliche aber doch backstage, in informellen Gesprächen mit Expert*innen und Vertrauten des Hauses. Das Tempo des Vortrags soll etwaige Bedenken, auch die eigenen, wegfegen, so wirkt's. Dann kommt Pollesch, leicht heiser, aufgeregt, keinen Deut langsamer verliest er sein "Bewerbungsschreiben", wie er es nennt; seinen Entwurf einer Volksbühne als "Autorentheater". Ein Text, so erklärbärlich und überexplizit, wie man noch keinen von Pollesch sah. Der Druck, sich zu legitimieren, scheint groß: "Ich bin ganz klar von Castorf zu unterscheiden", heißt es in dem Statement etwa.

Aber das "Back to the roots"-Gefühl weht natürlich im Raum. Pollesch hat als Leiter des Praters 2001 bis 2007 die Castorf-Volksbühne mitgeprägt, hat ihr später auch am Großen Haus durch dürre Jahre hindurchgeholfen, hat die triumphale letzte Spielzeit 2017 vor dem Intermezzo mit Chris Dercon intellektuell und inszenatorisch entscheidend mitgestaltet. Jetzt kehrt er mit Künstler*innen zurück, die dem Haus sein unverwechselbares Gesicht gaben: Kathrin Angerer, Martin Wuttke, Fabian Hinrichs, Christine Groß, ab 2022/23 auch Sophie Rois (sobald ihr Vertrag am Deutschen Theater erfüllt ist). "Sisters & Brothers in Crime" nennt Pollesch sie.

Zum Jagen getragen?

"Ich sitze hier nicht als trojanisches Pferd der alten Volksbühne", sagt Pollesch einmal. Aber die Kritiker, die nach Namen und Verfallsdaten rechnen, wird er damit nicht umstimmen. Wer in der Linearität des Gestern und Morgen denkt, wer nach Neuerungen und Neuigkeiten lugt, der feixt über die Rückkehr zur "Tradition" (wie es der für die Dercon-Berufung verantwortliche Ex-Kulturstaatssekretär Tim Renner gestern auf Twitter tat). Abstraktionen und Formalismen kennt der Volksbühnen-Streit zuhauf. Schon die auf größten Widerstand beim Volksbühnen-Publikum gestoßene Demission von Frank Castorf war ja mit dem inhaltsfreien Argument "Nach 25 Jahren ist auch mal genug" über die Bühne gegangen.

probleme probleme probleme1 560 Thomas Aurin uRené Pollesch im April 2019 in Hamburg: "Probleme Probleme Probleme" mit Angelika Richter, Sophie Rois und auf der Leinwand Marie Rosa Tietjen © Thomas Aurin

In den kargen Jahren der Volksbühnen-Intendanz vor rund einem Jahrzehnt hörte man verschiedentlich Stimmen, René Pollesch solle doch endlich das Ruder des Hauses übernehmen. Der vielbeschäftigte Dramatiker (und Regisseur ausschließlich in eigener Sache), der heute von Wien über Zürich bis Hamburg an den größten Bühnen der Lande arbeitet, gierte offenbar nicht nach dem Posten. Auch in der Pressekonferenz vermittelt sich der Eindruck, dass hier einer zum Jagen getragen werden muss. "Es ist nicht mein Lebenstraum gewesen, Intendant zu werden", sagt Pollesch. Und doch schultert er jetzt die Bürde. Er bringt mit seiner Offenheit und künstlerischen Unangefochtenheit auch genug Standing mit, um das im Berliner Theaterstreit arg vergiftete Klima rund ums Haus zu befrieden und zur täglichen Arbeit zurückzukehren. Noch die Interimspläne von Klaus Dörr (der nach 2021 das Haus komplett verlässt) wurden und werden ja aufs Heftigste angefeindet.

Im Kern von den Spieler*innen her gedacht

Pollesch habe seine "Verantwortung" für die Arbeitsprozesse am Haus wahrgenommen, sagt er. Die Freiheit und radikale Selbstständigkeit aller Abteilungen, von den Gewerken über die Schauspieler*innen bis zu Autorenschaft und Leitung wird von Lederer und Pollesch übereinstimmend als Singularität der Volksbühne beschrieben. Und dafür ist Pollesch mit seiner durch und durch kollektiven und auf Autonomie bedachten Arbeitsweise der Richtige (vgl. zu dieser Arbeitsweise sein einschlägiges Interview im Tages-Anzeiger aus dem Dezember 2018). Er will gewissermaßen seine kollegiale Regie-Idee auf den gesamten Betrieb ausweiten. "Die Praxis ist die Message", sagt Pollesch und immer wieder: "Ich bin nicht allein". Im Kern werde das Haus von den Spieler*innen her gedacht, die bei Pollesch ebenso als Autor*innen angesprochen sind wie die Textarbeiter*innen. Sie gelten ihm auch als die eigentlichen Regiekräfte. Überall sonst herrsche eine "Praxis, die den Autor an den Regisseur ausliefert", zitiert Pollesch seinen Kollegen Kevin Rittberger. Das soll an der Volksbühne anders sein.

kill1 560 thomas aurin hPolleschs Erfolgsarbeit aus dem Jahr 2012 mit Fabian Hinrichs an der Volksbühne: "Kill Your Darlings. Streets of Berladelphia" © Thomas Aurin

Mehrfach nennt Pollesch seinen Kompagnon Martin Wuttke als entscheidendes Bindeglied in seinem Gefüge. Wuttke, so scheint es, wird die Ansprüche der Spieler*innen gegenüber der Leitung definieren und ähnlich wie anderswo Chefdramaturg*innen wirken (bezeichnenderweise nennt Pollesch nicht eine dramaturgische Position für sein Team). Ida Müller kommt als "Chef-Ausstatterin" in ähnlicher Rolle wie dereinst Bert Neumann. Das genialische Künstlerduo Vegard Vinge/Ida Müller kriegt zwei Arbeiten pro Saison im großen Haus, und zwar nicht als en suite gespielt, sondern fürs Repertoire. Die Choreographinnen Florentina Holzinger und Constanza Macras werden feste Säulen. Die aktivistische Szene um die Volksbühnen-Besetzer*innen aus dem Herbst 2017, mit denen Pollesch seinerzeit schon sympathisierte, soll eingebunden werden; in welcher Weise ist noch unklar.

Blick frei auf das Gemachte

Eher en passant finden Kriterien Erwähnung, die im zeitgenössischen kulturpolitischen Diskurs Konjunktur haben. "Jünger, weiblicher, diverser" solle die Volksbühne werde, hatte Klaus Lederer selbst gesagt. In der Riege der assoziierten Künstler*innen wird sie das ganz gewiss. In der jetzt festgelegten Ein-Mann-Leitung selbstredend nicht. Und doch übernimmt hier "einer der feministischsten Regisseure überhaupt", wie die Kritikerin Christine Wahl Pollesch erst unlängst nannte. Denn Pollesch denkt nicht von biologistisch fixierten Identitäten her, sondern von den Strukturen, in denen sich Gender-Rollen festschreiben. Das ist der Gewinn der Repräsentationskritik, für die Pollesch seit jeher steht. Sie gibt den Blick frei, auf das Gemachte, nicht das Überkommene, auf die Produktionsbedingungen, und nicht das vermeintlich realistische Abbild der Verhältnisse.

cavalcade3 560 reinhardwerner uMartin Wuttke bei René Pollesch: 2013 am Wiener Burgtheater mit Birgit Minichmayr in "Cavalcade or Being a holy Motor" © Reinhard Werner

Offen sind viele Fragen: Wird es ohne Interpretationstheater gehen? Ohne die Klassiker auf den Spielplänen, die auch theaterfernes Publikum locken? Werden schreibende, aber nicht-regieführende Künstler*innen wie etwa Wolfram Lotz gewonnen werden können? Werden sie passen? Das Projekt des zeitgenössischen Autorenhauses ist auch ein Wagnis.

Aber Polleschs mit der Dauer der Pressekonferenz wachsende Euphorie wirkt einnehmend. Die Volksbühne solle wieder ein "Orientierungsort" werden, für Leute, die sich den skizzierten autonomen Arbeitsprozessen und den eigentümlichen "geilen" Spielweisen, die hier gepflegt werden, "familienähnlich" fühlen. Am Deutschen Theater Berlin, wo er derzeit regelmäßig inszeniert, habe er das "zweitbeste Theater, an dem ich je gearbeitet habe", erfahren. Aber es habe seine Sehnsucht nach dem "besten Theater" geweckt. Der beste Dramatiker unserer Zeit am besten Theater. Weniger hat die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz nicht verdient.

 

Einen Audio-Mitschnitt der Pressekonferenz stellt der Alexander Verlag Berlin auf Soundcloud zur Verfügung.

 


Presseschau

Eine "kleinmütige Entscheidung der Berliner Kulturpolitik" sieht Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (online 12.6.2019) in dieser Berufung. "Ein Schritt zurück statt nach vorn", der zudem "populistische Züge" trage. Er würden die "krakeelenden Volksbühnenbesetzer" ebenso zufriedengestellt wie jene, die "gegen traditionelle Strukturen mit 'alten weißen Männern' an der Macht wettern". Denn: "Schließlich ist der 56-Jährige seine eigene coole Marke, und als homosexueller Intellektueller auf Diskurshöhe der Zeit steht er für eine Diversität ein, an der man im Theater nicht mehr vorbeikommt. Einer wie er könnte insofern ein Versöhner sein – zwischen Alt und Neu, Gestern und Heute."

Ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung (online 11.6.2019) schrieb Peter Laudenbach tags zuvor: "Die Volksbühne wieder zu einem politisch-sozialen Ort zu machen und sich und anderen Künstlern des Hauses damit eine künstlerische Heimat zu organisieren, ist ihm offenbar wichtiger als die Solo-Karriere. Gleichzeitig liegt zwischen dem Beginn seiner Intendanz und dem Ende der Castorf-Jahre so viel Zeit, dass alle Vorwürfe, seine Berufung sei ein Akt der Nostalgie, ins Leere laufen."

"Ist diese eher restaurative Personalie wirklich die bestmögliche für eine große Zukunft der Volksbühne?", fragt Johannes Schneider in der Zeit (online 12.6.2019). Natürlich werden die Volksbühne "wieder mächtige Schauspielerinnen und Schauspieler prägen, natürlich werden Text- und Regiearbeitende mit ihnen zusammen den Stoff durchwirken, wie es sonst fast nirgendwo geschieht". Dennoch seien die Protagonisten der Castorf-Volksbühne, zu denen Pollesch und viele aus seinem Kollektiv zählen, nicht unbeschadet aus dem Volksbühnenstreit hervorgegangen: "Im Angesicht von Dercons zugegebenermaßen wabernden Plänen für ein interdisziplinäres und internationales Haus mit allerlei Kunst, Tanz und englischer Sprache wirkten die alten Herrscher nicht nur wie Marie-Antoinette, der gerade ein Sansculotte gegen den Wandteppich geschissen hatte; sie verfielen auch in einen Blut-und-Boden-Ton, der stark am linken, oder allgemeiner: emanzipatorischen, Anspruch zweifeln ließ."

"Sosehr Chris Dercon ein Anfänger auf dem Intendantenposten war, so sehr ist es nun auch René Pollesch", schrieb Peter Kümmel tags zuvor bereits in der Zeit (online 11.6.2019). "Seine Arbeitsmethode weist ihn als einen teamfähigen Eigenbrötler aus (...)." Kümmel prognostiziert die Rückkehr prägender Spieler*innen: "Eine große Retro-Fröhlichkeit wird sich breitmachen." Die Entscheidung so witzelt Kümmel mit Verweis auf eines der jüngeren Stücke von Pollesch, sei gewissermaßen von höheren Geschick getragen: "Wenn die Volksbühne ruft, hat man keine Wahl. Man muss am Ende gehorchen."

"Die Entscheidung ist wenig überraschend, sie ist auch vernünftig", schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel Online (12.6.2019). Aber Pollesch wird "nun sich und die Volksbühne komplett neu erfinden müssen". Als "genialer und genialischer Einzelgänger" bekannt, müsse Pollesch nunmehr "seine Unfähigkeit zur Gemeinschaft" ablegen. Mögliche Konflikte mit einem möglicherweise zurückkehrenden Frank Castorf macht Höbel auch aus. Zudem sagt er mit Blick auf die aktuelle Interimsleitung der Volksbühne: "Je größer der Erfolg des ehrgeizigen Kurzintendanten Dörr sein wird, desto höher werden die Ansprüche an seinen Nachfolger Pollesch."

"Ein Beweis für die kulturpolitische Innovationskraft des Senators ist die Entscheidung nicht", kommentiert Fabian Wallmeier auf rbb 24 (12.6.2019). "Pollesch war zuletzt immer mehr ein Theater-Nomade, der landauf landab inszenierte. Ob es ihm gelingt, den Theatertanker Volksbühne zu steuern, ist fraglich – und hängt davon ab, wen er mit in sein Leitungsteam holt." Am "zukunftsweisendsten" könnte Polleschs "radikale Akzentuierung" sein: "Der klassische Regietheaterregisseur, der Texte vorfindet und nach seinem Gutdünken umformt, wird an der Volksbühne einen schweren Stand haben."

Etwas "reichlich angemoosten Volksbühnen-Mythos, dessen Wiederauferstehung Pollesch letztlich verspricht, ohne Castorf sein zu wollen", erlebte Andreas Fanizadeh von der taz (online 12.6.2019) auf der Pressekonferenz. Pollesch werde es bald mit "Ostalgie" zu bekommen haben, progostiziert er und schließt seinen Kommentar: "Eine verunglückte Episode mit Dercon, eine stabilisierende und geglückte mit dem jetzigen Interimsintendanten Klaus Dörr später, und nun muss Pollesch, der neben Castorf wie kein anderer zuletzt die Volksbühne ästhetisch prägte, beweisen, dass da noch mehr geht. Aber Sehnsuchtsorte existieren meist nur temporär."

"Der große epische Kampf um das wichtigste Theater Berlins ist beendet. Der natürliche Kronprinz wird Intendant der Berliner Volksbühne. René Pollesch ist eine Adenauer-Lösung. Und das ist sehr gut." So hebt der Bericht von Matthias Heine in der Welt (online 12.6.2019) an. Das Adenauer-Nachkriegsmotto "Keine Experimente" scheint dem Kritiker für diese Personalie passend, denn "für ein zerbombtes Theater ist das vielleicht genauso hilfreich wie für ein zerbombtes Land".

"Klientelpolitik" wirft Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (online 12.6.2019) Kultursenator Klaus Lederer vor. "Denn erst einmal sind jetzt die Anhänger der alten Castorf-Zeiten glücklich. Mehr Volksbühnengeruch als bei Pollesch ist nirgendwo zu haben." Und weiter: "Lederers Kulturpolitik trägt ausgesprochen konservative Züge. Erst vor wenigen Tagen hat er Daniel Barenboims Ewigkeitsvertrag an der Staatsoper verlängert. Keine Experimente Unter den Linden – und an der Volksbühne ein Experiment, bei dem die meisten Beteiligten gute alte Bekannte sind. Begrenztes Risiko."

Das "Theater, das Pollesch vorschwebt, ist eine Kollaboration von vielen gemeinsam Theater Schaffenden: Autoren und Schauspielern zum Beispiel", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online 12.6.2019). "Klar wird jetzt auch genörgelt, werden Stillstand und Nostalgie prophezeit. Dabei lässt sich diese Personalie auch problemlos als Meilenstein der Theatergeschichte deuten", schreibt Seidler, schließlich werde sie zur "Bewährungsprobe" für die Gießener Angewandten Theaterwissenschaften und deren Kritik am etablierten Stadttheaterbetrieb. Seidler schließt: Vielleicht schaffe Pollesch es, seine "Utopie der freundschaftlichen und hingebungsvollen Produktionsverhältnisse auf das ganze Haus zu vergrößern. Es zu füllen mit fröhlichem Kopfzerbrechen, mit rauschhafter moralischer Selbstzermarterung zwischen den Verheißungen und Abgründen von Liebe, Ökonomie und Repräsentation. Was woanders unter Kopfschmerzen und Humorlosigkeit krampfhaft implementiert werden muss, steht bei Pollesch längst in der Blüte schönster Selbstverständlichkeit: Feminismus, Antirassismus, Genderfreiheit − immer dialektisch reflektiert ohne in Mutlosigkeit zu verfallen. Der Volksbühnenschlüssel kommt in gute Hände."

Im Interview mit der taz (13.6.2019) begrüßt Sarah Waterfeld, Autorin und Aktivistin der Volksbühnen-Besetzung von 2017, die Entscheidung für René Pollesch: "Unser Kollektiv setzt sich für Dehierarchisierungsprozesse und kollektive Strukturen ein. Wenn ich Polleschs Arbeit der vergangenen 20 Jahre richtig verstanden habe, sind ihm solche Forderungen nicht ganz fremd."

"René Pollesch, wird ohne Frage den Geist von Castorf wieder aufleben lassen", kommentiert Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (12.6.2019). "Pollesch inszeniert seine Texte, die er mit den Schauspielern entwickelt, stets selber, und wie Dercon fehlt ihm die Erfahrung in der Leitung eines Hauses. Doch anders als der glücklose Belgier geniesst er allen Kredit des Milieus und verfügt über ein grosses Netzwerk an Schauspielern und Regisseuren, die jederzeit bereits sein werden, erneut am Projekt Volksbühne mitzutun."

Norbert Mayer schreibt in der Wiener Presse (12.6.2019): Pollesch werde beweisen können, "ob bewegte Zeiten wie jene unter Castorf dialektisch weiterentwickelt werden können". Für ihn spreche seine "enorme Produktivität", der Erfolg seiner Stücke bei Kritikern, Preisrichtern und Publikum, seine "offene Arbeitsweise", die dem Team Respekt zolle. Bei "all der Überspanntheit und Verspieltheit" einer Polleschiade spüre man: "Hier wird das gute alte Sprechtheater noch ernst genommen. Es kann so immer wieder neu entstehen."

"Gemischte Gefühle" bei Elena Philipp im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur (12.6.2019). Sie kritisiert die "Top-Down-Entscheidung“ des Kultursenators", und fährt fort: Obwohl Pollesch erklärtermaßen demokratischer arbeite als viele seiner Kollegen, bleibe das Gefühl: "Da hätte man sich vielleicht nochmal mehr Zeit lassen sollen." Denn so wirke die Entscheidung "wie ein reines Lippenbekenntnis zum Wunsch der Veränderung". So widerstritten in dieser Entscheidung, die Chance, "eine wirkliche Modellinstitution für die Zukunft zu bauen", und gleichzeitig die drohende Wiederholung dessen, "was als glorreiche Vergangenheit wirklich gewünscht wird".

Polleschs Berufung, die "als kleine Hauslösung nicht unbedingt visionär erschien, könnte durch solch einen entschiedenen Fokus auf die Autoren und Schauspieler helfen, sich vom Schatten des Übervaters Castorf zu lösen und ein neues Extra-Zimmer im großen Haus des Theaters einzurichten", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.6.2019). "Nach dem langen Marsch durch die Theaterinstitutionen kennt Pollesch den Leerlauf des Betriebs. Er will diesen ganz im Sinne Brechts nun denjenigen zurückgeben, die ihn machen. Die Idee mit der Praxis ist gut – wie gut, wird die Praxis beweisen."

Interviews mit René Pollesch in der

- Süddeutschen Zeitung am 14. Juni 2019 (Paywall)

- auf Deutschlandfunk Kultur am 15. Juni 2019

- Der Freitag am 19. Juni 2019

- Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 23. Juni 2019

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Kommentare  
Kommentar Pollesch: Das kann nur gut werden!
Am Deutschen Theater Berlin, wo er derzeit regelmäßig inszeniert, habe er das "zweitbeste Theater, an dem ich je gearbeitet habe", erfahren. Aber es habe seine Sehnsucht nach dem "besten Theater" geweckt. Der beste Dramatiker unserer Zeit am besten Theater. Weniger hat die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz nicht verdient...
Das kann nur gut werden! Danke! Ich freue mich auf diese Zeit. Herzlichern Glückwunsch René Pollesch!
Kommentar Pollesch: Freude über Ida Müller
Ida Müller als Chefausstatterin- wie toll!! Da freu ich mich enorm drauf!
Pollesch wird Intendant: Gedanken
Ein paar Gedanken zu Polleschs Wahl und Plänen: https://stagescreen.wordpress.com/2019/06/12/kein-weites-feld/
Kommentar Pollesch: Avantgarde
Danke für diesen differenzierten klugen Text, Herr Rakow. Fabian Hinrichs!! Ida Müller! Florentina Holzinger! Avantgarde eben.
Kommentar Pollesch: sechs Thesen
Zu den Pressestimmen und dem nk-Kommentar:

1. René Pollesch ist nicht darauf angewiesen, Dramaturgen mitzubringen, weil er selbst ein so guter Dramaturg ist, dass er aus seiner Dramaturgie sogar Stückvorlagen für seine Inszenierungen generieren kann und mit Fabian Hinrichs einen für Dramaturgie überaus tauglichen Schauspieler mitbringt.
2. Ida Müller ist eine würdige Nachfolgerin von Bert Neumann. Weil ihre Materialkonzeptionen und ihre in Gestaltung umgesetzten Besetzungen von Denk-Räumen denen Bert Neumanns an Originalität absolut gleichwertig sind.
3. Wenn es dem René Pollesch gelingen sollte, Vinge pro Theaterjahr zuverlässig, in Worten: zwei!, Inszenierungen abzuverlangen, hat er schon mal Castorf als Intendant überrundet.
4. Wenn es dem René Pollesch gelingen sollte, dem Vinge diese zwei Inszenierungen als in Repertoire überführbare abzuringen, ist er allerdings schon mal hinter Castorf zurückgefallen. Denn das wäre ein untrügliches Zeichen dafür, dass er die VB innerhalb kürzester Zeit zur Umerziehungsanstalt umgebaut hat. Dazu könnte man dann weder Vinge noch die Volksbühne beglückwünschen.
5. René Pollesch ist zweifelsohne der beste sich selbst inszenierende Dramatiker, den wir haben. Was aber noch lange nicht heißen muss, dass er der beste Dramatiker ist. Wäre er das, würden seine Textvorlagen – zumal bei bereits an die 100 vorliegenden! - nämlich laufend landaus landein in größeren wie kleineren Häusern von gestandenen wie erst beginnenden RegisseurInnen nach-inszeniert. Und auch die Schuljugend würde freudvoll auf diese in Reclam-Format vorliegenden Texte für ihre Darstellenden Spiele zurückgreifen. Ihn kraft einer selbstgewissen Kritiker-Autorität an exponierter Stelle zum besten Dramatiker, den wir haben, zu erklären, ist also etwas Ähnliches wie eine gewollte Dramatiker-Tötung. Auch –innenenen-Tötung übrigens.(Das dürfen Sie mir gern verübeln, lieber Christian Rakow, Verübeln gehört zum Stoffwechsel von Kritikern, da bleibe ich ganz ungerührt.) Der René Pollesch wird mir das nicht verübeln, wenn ich das so ausdrücke, denn er weiß das ja auch alles selbst von sich und seiner Dramatik.
6. Ich wünsche Dir, lieber René Pollesch, und Deiner Truppe eine gute Zeit mit der Volksbühne und der Volksbühne und ihrem Publikum eine gute Zeit mit Dir!

(...)
Kommentar Pollesch: das Verbot
Pollesch Texte dürfen nicht nachgespielt werden, liebe Rust, der Autor verbietet das, er gibt sie nicht frei.
Kommentar Pollesch: Ablehnung und Zustimmung
...die these bzgl. der qualität zeitgenössischer dramatik "... würden seine Textvorlagen – zumal bei bereits an die 100 vorliegenden! - nämlich laufend landaus landein in größeren wie kleineren Häusern von gestandenen wie erst beginnenden RegisseurInnen nach-inszeniert. Und auch die Schuljugend würde freudvoll auf diese in Reclam-Format vorliegenden Texte für ihre Darstellenden Spiele zurückgreifen." ist ziemlich schwach, sobald wir uns mal anschauen, welche leeren, uninteressanten und plagiative texte denn tatsächlich landauf landein runtergerattert werden... wie kann man davon ausgehen, dass die theaterspielüläne heute noch die qualitätsgaranten zeitgenössischer dramatik sind, wo sie alle nur damit beschäftigt sind ihre eigene daseinsberechtigung zu legitiemieren... das soll hier aber nicht als ein plädoyer für pollesch gelesen werden (heute wird ja gern in schwarz und weiß eingeteilt...), sondern als kritik an den kritischen zuschauer...

allerdings diesen aspekt : "... Ihn kraft einer selbstgewissen Kritiker-Autorität an exponierter Stelle zum besten Dramatiker, den wir haben, zu erklären, ist also etwas Ähnliches wie eine gewollte Dramatiker-Tötung. Auch –innenenen-Tötung übrigens.(Das dürfen Sie mir gern verübeln, lieber Christian Rakow, Verübeln gehört zum Stoffwechsel von Kritikern, da bleibe ich ganz ungerührt.) Der René Pollesch wird mir das nicht verübeln, wenn ich das so ausdrücke, denn er weiß das ja auch alles selbst von sich und seiner Dramatik." stimme ich gerne zu, denn leider ist das wirklich ein riesenproblem und es wächst stetig...
Pollesch wird Intendant: Freude
Ich bin sehr dankbar, dass die Volksbühne nicht als Modellinstitution für die Zukunft herhalten muss - was auch immer das sein mag. Ich freue mich wie Bolle auf René Pollesch und seine Mitstreiter*innen. Lieber René Pollesch – viel Glück! Lass Dich nicht von den Kritikern entmutigen! Du bist nämlich nicht allein.
Kommentar Pollesch: keine Garantie
@"sprachlos": Theaterspielpläne, in denen zeitgenössische Dramatik von mehr oder weniger bekannten lebenden AutorInnen "runtergerattert" wird, sind selbstverständlich keine Garantie für Qualität zeitgenössischer Dramatik! Deshalb habe ich ja auch noch das Argument mit den - wie wir alle wissen, wissenschaftlichen bestens hinterfragten und kommentierten Dramentexten in explizit Reclam-Ausgaben hinzugefügt. Ich meine tatsächlich UND. Der Kritische Zuschauer kann da wenig ausrichten, wenn er gar nicht weiß, dass und welche ungedruckte und ungespielte Dramatik es eben neben der landauf landab gespielten und ausprobierten auch noch gibt. Da liegt natürlich der Spielball bei den Theaterverlagen und den Dramaturgien, die sich angewöhnt haben, immer effizienter nach dem EineHandwäschtdieandere-Prinzip zu arbeiten.
Kommentar Pollesch: Freude
Danke Paula, so sehe ich es auch. Lieber Rene Pollesch, es wird so viel dämlichs Zeug geschrieben. Das Theater spaltet. Ich freue mich riesig! Jeder mag seine Zweifel haben. Ich versuchte auch Dercon eine Chance zu geben, doch nach zwei Besuchen war ich so enttäuscht. Nun weiß ich es, ...Ich weiß nicht... war ein schöner Theaterabend mit Wuttke und Angerer. Stimmen die Schauspieler, stimmt die Dramarturgie, stimmt der Regisseur, stimmt der Autor. ich freue mich genau darauf!
Kommentar Pollesch: Vergangenheitsschuppen
...es ist ja nun egal, ob man Pollesch-Fan ist oder nicht: Avantgarde sieht einfach anders aus. Pollesch ist ein Klassiker, er ist der Kandidat des Abbos, WIR sind so geworden wie die Abonnenten, auf die wir früher so geschimpft haben. WIR jubeln über das, was wir kennen, mit dem wir aufgewachsen sind, über das, was unsere Theater-Sozialisation ausmachte. Pollesch steht für ein weiter wie früher, mit erprobten, schon erfolgreichen Formaten. Er ist gerade nicht das Andere, das Unangepasste, das Neue, das Abseitige sondern diese Entscheidung ist so restaurativ wie damals die Peymann-Berufung ans BE. Überhaupt das BE, die Volksbühne droht jetzt auch so ein Vergangenheitsschuppen zu werden: Das Neue wird künftig woanders stattfinden!
Kommentar Pollesch: Knicks
Ich will nicht verstehen, warum sich viele mit der Berufung von Pollesch so schwer tun. Es interessiert mich nicht. Ich sehe einen Künstler auf der Position des Intendanten, einen Autor. Davon gibt und gab es in Berlin nur sehr wenige. Tiefe Dankbarkeit an diese Realität. Wie sie zu Stande kam, war schlimm, gruselig. Was kann Pollesch dafür? Hat er sich nicht hinreichend gewehrt?! Ich liebe Leidenschaft und Hingabe. Er hat sich klein kriegen lassen. Das ist groß.

Es gibt zwei Systeme. Einmal die Theaterdynastien. Dazu gehört Baumbauer. Einer seiner Ableger ist der Intendant in Dresden oder aber Düsseldorf. Khuon. Börgerding in Bremen ist nur einer seiner Zöglinge. Auch der Schauspieldirektor in Bonn gehört dazu. Dann gibt es die Ader Castorf. Kleiner Blick nach Köln und man kann schon wieder jemanden einsortieren.

Dann gibt es die neuen Netzwerke, die ebenfalls Personen installieren wollen. Ich glaube Julia Wissert für Dortmund weiß noch gar nicht, wie sehr sie von den Erwartungen, die man in sie setzt, und wieweit sie von den Hoffnungen, die sie an sich selbst stellt, wie extrem sie von diesem Vorgang in die Zange genommen werden könnte. Bon Chance!

Das der feministischste der Autoren sich der alten männlichen Linien bedient, um alleinige Macht am Haus zu erhalten, kann man nur in dem Sinne verzeihen, dass er sie wohl gerne teilen möchte mit ganz und gar weiblichen Dispositionen. Wir dürfen gespannt sein auf die genannten Frauen, die er mitbringt.

Ich persönlich stehe für die absolute Souveränität und Unabhängigkeit von Künstlerinnen und Künstler. Pina Bausch erscheint mir in diesem Zusammenhang schon fast unwirklich. Aber niemand redet darüber, wer ihr Intendant war. Gratulation für diese großartige Leistung über den Tod hinaus. Möge Pollesch Ähnliches widerfahren.

Knicks.

Ihr Baucks
Kommentar Pollesch: Unentschuldbar!
Die Entscheidung des Kultursenators ist politisch brisant, leider fatal – und wegen ihrer Systematik unentschuldbar. Warum?
1. Klaus Lederers Vorgänger Tim Renner hat Chris Dercon zum Intendanten berufen, für fünf Jahre und demokratisch legitimiert. Ob Herr Dercon für dieses Amt geeignet war, ist umstritten. Allerdings hatte er auch keine Chance zu reüssieren. Wie soll jemand künstlerisch sensibel arbeiten, wenn ihm schon vor seinem Start von seinen Vorgängern tiefste Missachtung, von der Belegschaft höchstes Misstrauen, von zehntausenden Bürgern eine Petition, von Aktivisten eine mehr oder weniger gewaltsame „Besetzung“, dann von Unbekannten Kot und hunderte (tausende?) „Tschüs Chris“-Plakatüberklebungen entgegengeworfen werden?
2. Herr Lederer hatte sich bereits während seines Wahlkampfs gegen Herrn Dercons Berufung ausgesprochen. Entsprechend legitim erschien es, dass er Dercon in dieser verfahrenen Situation nicht den Rücken stärkte, sondern vielmehr die Vertragsauflösung nahelegte. Auf dem folgenden sogenannten Volksbühnenkongress versprach er denn auch einen sorgfältig erwogenen Neuanfang.
3. Doch dieser Kongress war, wie damals schon spürbar, jetzt offensichtlich, eine Farce! Denn hier wurde ein Thema fast komplett ausgespart: der außergewöhnliche Umgang mit Herrn Dercon. Offensichtlich sah Herr Lederer gar keinen Bedarf für einen echten Neuanfang. Nein, wie sich jetzt zeigt, war die Rückkehr der Castorf-Clique bereits avisiert und die vergehende Zeit sollte die Fakten nur ein wenig vergessen lassen. Dabei ging und geht es nur um einen Machterhalt einer Klientel, die der Linkspartei offensichtlich stark verbunden ist. Es ist einfach nicht glaubhaft, dass es keine alternativen begabten/spannenden Theaterleute für die Leitung der Volksbühne gegeben hätte!
4. Was bleibt? Senator Lederer hat mit seiner Entscheidung für René Pollesch das Mobbing von Chris Dercon nachträglich legitimiert. Seinen Parteifreunden hat er damit vielleicht einen Freudentag verschafft. Der Demokratie und den mir ihr verbundenen Institutionen hat er aber nachdrücklich geschadet. Dieses rohe Vorgehen erinnert an Vorgänge in der Endphase der Weimarer Republik und ist heute ein Präzedenzfall.

Herr Lederer, wie wollen Sie jetzt noch gegen Theaterschließungen durch AFD-Politiker argumentieren?
Kommentar Pollesch: Vergessen?
@13
Diesmal also Prosa. Lederers Entscheidung für Pollesch sei undemokratisch, verstehe ich Sie da richtig? Ein rohes Vorgehen? Wo sehen Sie das? Pollesch der falsche Mann? Wo Dercon ihn wollte! Ich muss lachen.
Zum Glück gab es so viele Menschen, die beizeiten erkannt haben, dass Dercon mit dieser Volksbühne nichts anfangen konnte, die sich nicht von seiner Kuratorensprache haben einlullen lassen. Zum Glück gab es diese Solidarität mit den Leuten in der Volksbühne, die Angst um ihre Arbeitsplätze in den Werkstätten hatten. Viele Tage stand die Volksbühne zur Schau erleuchtet, aber leer, weil Herr Dercon es nicht vermochte, wenigstens Veranstaltungen zu organisieren, von Theateraufführungen ganz zu schweigen. Eine teuere Zuschauertribüne hat er bauen lassen für Tempelhof, dafür Lottogelder bekommen. Was soll ich noch alles aufzählen? Dercon hatte außer den 500 000 Euro von der Lottostiftung 2,3 Millionen für die Vorbereitung der Intendanz. Dercon hat kein Repertoire geschaffen und ein Ensemble auch nicht, wie er es immer beteuert hat.
Die Volksbühne ist nur deshalb mit einem blauen Auge davongekommen, weil Rücklagen aus der letzten Castorf-Spielzeit vorhanden waren und Klaus Dörr innerhalb kurzer Zeit mit vielen Gastspielen und einigen Neuinszenierungen das Haus wieder ausgelastet hat. Viele sind auch davon enttäuscht, aber das ist für ein Theater dieser Größe eine enorme Leistung, auch wenn das natürlich keine richtige künstlerische Handschrift vermittelt. Aber wer sonst hätte das Haus retten können?
Und dann sind wir wieder bei Pollesch, der, das habe ich aus der Pressekonferenz erfahren, sehr viel Neues plant. Auch wenn da alte Bekannte auftauchen, wird es nicht die alte Volksbühne, sondern eine neue. Und wenn sie sich auf Traditionen des Hauses bezieht, dann authentisch und nicht wie ein Dercon, der mit einer Bert-Neumann-Streichholzschachtel wedelt und diesen zitiert und doch immer nur sich selber meint.
Kommentar Pollesch: uneinnehmbare Zunft mit ungeschriebenen Regeln
@14

Hätte sich Pollesch entschieden das Angebot von Dercon anzunehmen, wäre er heute noch der Intendant der Volksbühne. Auch er hätte dann auf die Rücklagen von Castorf zugreifen können. Es war die Politik, die sich ein Konzept wünschte und von Dercon bekam, welches sie zugleich nicht seriös finanzierte.

Die Geschichte um Dercon herum ist ein Meisterstück dafür, wie man in der deutschsprachigen Theaterlandschaft Menschen kalt stellen kann und alle haben mitgemacht. Das Haus, die Kritiker, die Netzwerke, die anderen Intendanten und die Zuschauer. Theater lebt von Stimmungen. Wenn man permanent Stimmung gegen jemanden macht, ihn zudem noch perfekt isoliert, vom Markt abschneidet, dann darf man sich sicher sein, dass am Ende nichts dabei heraus kommt. Dieser Vorgang hat stattgefunden. Das ist nicht diskutierbar.

Die wesentliche Frage, die sich stellt, ist: Wieso hält sich eine Branche der Hochkultur immer eine Option offen Personen komplett kalt zu stellen und ihre Karrieren zu zerstören? Marietta Piekenbrock kann ihre Karriere wahrscheinlich als beendet betrachten. Um Dercon muss man sich keine Sorgen machen. Warum hält eine Branche ständig die Angst hoch, wir können Künstler und ihre Macher wann immer wir wollen ruinieren und fallen las! Wozu und wem dient diese Angst?

Sie dient der Herrschaft, der Machtausübung. Es war eine Machtdemonstration der gesamten Branche und die wird nun durch die Berufung von Pollesch weiter fortgeführt. Er selbst war an dieser Demonstration passiv beteiligt. Das wird auch immer ein wenig an ihm hängen bleiben. Man kann ihm nur verzeihen, das ist alles.

Das Dercon und dem Druck als Quereinsteiger Fehler gemacht hat, war zu erwarten. Aber selbst, wenn er alles richtig gemacht hätte, es wäre ihm nie gelungen das Haus hochzufahren, weil alle diese Machtdemonstration konsequent fortgesetzt hätten. Das war das erklärte Ziel. Alle hatten sich längst darauf geeinigt, dass Dercon nicht der Richtige ist.

Und alle hatten sich auch schon darauf geeinigt, dass es jemand wie Pollesch braucht. Selbst Renner und Dercon sahen das so. Jedoch wollten sie zugleich, und Müller wollte es ebenfalls, dass Haus auch noch in andere Richtungen öffnen. Das ist schlicht gescheitert. Zuletzt auch an einer nicht vorhandenen Finanzierung, wie ausbleibenden Publikum.

Die Branche hat wieder einmal ihre geschlossene Stärke bewiesen. Noch ist sie immer noch eine uneinnehmbare Zunft mit ungeschriebenen Regeln in der wenige Figuren die Steuerung übernehmen und Pollesch gehört ab sofort dazu. Die Branche hat indirekt ihren Wunschkandidaten besetzt zu ihren Konditionen und seinen vermeintlichen Widersacher verjagt mit Plakaten über die ganze Stadt verteilt: Tschüss Chris!

Viele haben hier genau diese Struktur zu recht kritisiert. Es handelt sich am Theater nicht um eine gläserne Decke, sondern um klar sichtbaren Beton. Und jeder kann ihm zum Opfer fallen. Männer, Frauen, jung, alt, queer, heteronormativ. Die Branche bestimmt wer in ihr Künstler sein darf und wer nicht. Es ist ein fein verästeltes, dynastisches Netzwerk, welches genau nachvollziehbar ist, wenn sich jemand mal die Mühe machte einen Stammbaum dieser meist männlichen Linien zu zeichnen. Dercon und Piekenbrock waren nicht Teil dieses Stammbaumes. Pollesch ist ein Herzstück darin.
Kommentar Pollesch: Erinnerung an Arno Wüstenhöfer
"Die Gattung der Prinzipale ist fast ausgestorben im Theater, wo Karrieren heute schnell gemacht, schnell vergoldet, schnell abgewirtschaftet werden. Arno Wüstenhöfer hatte noch die Tugenden dieser Gattung. Er war weder ein Wurstler noch ein Diktator, weder ein Aufsteiger noch ein Blender. Aber ein Schaffer, immer bewegt von der Sache, die er als die seine betrieb, obwohl sie eine öffentliche war. Er hatte noch den langen Atem, hatte noch Zeit in sich für Beobachtungen, für Nachdenken, für eingehende Gespräche - und ließ sie auch anderen. Vertrauen schenken gehört zu diesem Amt, durchstehen miteinander. Pina Bausch, die Arno Wüstenhöfer in Wuppertal in sein Theater zog, weiß, was das heißt. Er hat das Theater nach dem Krieg mitgeprägt." (G. Rühle, FAZ, 26.7.2003)
Kommentar Pollesch: konsequent
"Endphase der Weimarer Republik"- geht es bitte eine Nummer kleiner?

Wer weiss ob die Volksbühne der Startschuss war. Tatsache ist allerdings, daß sich diese Konflikte international häufen (Gentrifizierung, Publikum, Produktionsbedingungen, Geldverteilung), ganz unabhängig von den Berliner Personalien.

Zum Beispiel der anhaltende Konflikt um das Abby Theatre Dublin. Die in einem offenen Brief vom Januar veröffentlichten Zahlen zeigen eindringlich die Folgen des neu eingestellten Systems von Koproduktionen, namentlich weniger Diversität und verstärkte Prekarität. (https://www.irishtimes.com/culture/stage/abbey-theatre-uproar-300-actors-and-directors-complain-to-minister-1.3750135)

In einem kürzlich publizierten öffentlichen Brief stellen sich Kulturarbeiter und Künstler gegen eine eventuell angepeilte Verschmelzung des Kaaitheaters Brüssel mit Rosas, der Tanzkompanie von De Keersmaeker ("Big is not the way to go").(https://www.rektoverso.be/artikel/a-call-for-transparancy)

Last but not least stehen dieselben grossen Fragen rund um ein Megaprojekt wie "The Shed" New York im Raum (https://news.artnet.com/opinion/the-shed-review-1508725).

Persönlich finde ich den Ansatz von Pollesch notwendig und konsequent. Glückwunsch.
Kommentar Pollesch: Gelogen
@15 Sowohl Dercon und Piekenbrock, als auch Müller und Renner haben die Öffentlichkeit permanent belogen. "Ensembletheater" wurde wieder und wieder versprochen, erst auf dem Intendantengipfel in der AdK im Dezember 2017 gab Piekenbrock kleinmütig zu, dass ihr Konzept gar kein Ensemble zulasse. Widerwillig wurde dann zu Frank Willens noch Anne Tismer unter Vertrag genommen. Erst danach ist Sophie Rois gegangen, nämlich als klar war, dass es kein Ensemble geben wird, was den Namen Ensemble verdient.
Es ist sehr einfach, das Versagen von Dercon und Piekenbrock auf den Gegenwind zurückzuführen. Der Gegenwind war nur Ergebnis des eigentlich Offensichtlichen, das die Politik nicht aussprechen wollte.
Zum Etat, die Rücklagen der Castorf-Volksbühne waren der Grund, weshalb es nach Dercons Weggang ohne Nachschießen von Geldern durch die Politik auskam. Dercon hat sich auf den Rücklagen ausgeruht und den Karren immer weiter in den Dreck navigiert. Zum Glück hat die Kulturverwaltung die Zahlen im Blick gehabt und die Bremse gezogen.
Kommentar Pollesch: Unterschied
@18

Mit Pollesch hätte es ein Ensemble gegeben. Dercon konnte kein Ensemble engagieren, weil niemand von Rang an das Haus gehen wollte und dies auch alle laut verkündeten.
Kommentar Pollesch: Legenden? Lügen?
Werter Baucks, verbreiten Sie keine Legenden! Hallo nachtkritik, warum veröffentlich ihr diese Lügen? Muss das jetzt wirklich alles noch mal durchgekaut werden? Erspart uns das!
Kommentar Pollesch: Aufarbeitung fehlt noch
@20

Wenn man das liest, weiß man, die jüngste Geschichte der Volksbühne muss erst noch aufgearbeitet werden, bevor es wirklich wieder losgehen kann.
Kommentar Pollesch: der Jackpot
mit vinge/müller mega jackpot,mehr brauch ich nicht zu wissen. ida schlägt bert um meilen. krasseste und ganz eigene und nicht nachzuahmende ästhetik. das wird mir eine freude pur!Wir können uns auf tolle überraschungen gefasst machen.
hauptsache keine mittelmäßigkeit und keine langeweile die meiner meinung nach auch schon bei castorf sich eingeschlichen hat.
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