Oh solitude!

von Martin Thomas Pesl

Wien, 14. Juni 2019. Der Anfang folgt dem Titel der Festwochen-Frühabendpremiere: Missing People. Während allmählich das Saallicht gedimmt wird, weht Operngesang von irgendwoher, brandet im Hintergrund ein leises Wummern auf, klimpert ein Glockenspiel. Wenn dann noch langsamer ein paar Deckenlampen und Neonröhren angehen, ist Zeit, das verspielte Bühnenbild von Christian Friedländer zu studieren: Drei ganze und zwei halbe Kuben sind da, die Drehtüren mit transparenten Farbfolien bespannt. Sie bergen kleine Universen: einen Dschungel aus Topfpflanzen etwa, einen traurigen Souvenirshop, in dem sogar der Postkartenständer leer ist, einen Einkaufswagen, in den ein ganzes Obdachlosenleben passt. Die fünf Menschen, einer für jede Kabine, tauchen erst auf, wenn Klang und Bild voll zur Geltung gekommen sind.

Auf Latein

Es ist dies der erste Abend von David Marton und seinen Wegbegleiter*innen unter dem Label "Road Opera". Der aus Ungarn stammende Regisseur kommt aus der Marthaler-Schule. An den Münchner Kammerspielen gestaltete er neben etlichen Inszenierungen die musikalische Late-Night-Schiene "Sleepwalkers Improvisation Club". Mit den dort regelmäßig vereinten Improvisateur*innen will er fortan ganz offiziell und in freien Arbeitszusammenhängen Abende entwickeln. Das erste Exemplar "Narziss und Echo" ist eine Produktion des Théâtre Vidy-Lausanne, feierte seine Uraufführung aber im Rahmen der Wiener Festwochen in der Halle G im Museumsquartier.

Narziss und Echo c Nurith Wagner Strauss 1Einsame Menschen zwischen bunten Kuben © Nurith Wagner Strauss

Neben dem Bühnenbild stand dabei nur Text aus Ovids "Metamorphosen" von Anfang an fest. Im passend nerdigen Pollunder, mit Brille und Dreitagebart kommt es dem Pianisten Michael Wilhelmi zu, die ersten Worte der Geschichte von Narziss und Echo zu rezitieren – auf Latein. Andere Kolleg*innen werden später nach Belieben deutsch, englisch oder französisch weitererzählen, Übertitel schaffen Klarheit.

Wie die Personen in ihren Echo-Kammern vereinsamen

Nämlich diese: Narziss wurde für seine Schönheit damit bestraft, nur sich selbst begehren zu können. Echo will ihn erobern, darf aber – weil sie zu geschwätzig die Göttermutter Juno vom Stalken ihres Weiberhelden von Mann ablenkte – immer nur die letzten Worte ihrer Vorredner wiederholen. So sind sie beiden dazu verdammt, einander zu verfehlen, und Narziss schmachtet sich an seinem unerreichbaren Spiegelbild zu Tode.

Narziss und Echo c Nurith Wagner Strauss 4Sehnsucht in Primärfarben © Nurith Wagner Strauss

Die kurze, aber tragische Geschichte wird durch hinreißend schrullige Szenen unterbrochen und – das Wichtigste bei der Marton-Familie – musikalisch untermalt. Wilhelmis Klavier, Paul Brodys Trompete, selten eine Klarinette von Vinora Epp und jede Menge Sound vom Band fügen sich zunächst zu unverbindlichem Lounge-Jazz, der sich punktuell ins Dringliche verdichtet. Ab der Hälfte geht es langsam, aber sicher auf den Tod zu, also überwiegen melancholische Töne. Indes sehen wir, wie die Personen in ihren Echo-Kammern vereinsamen, Figuren eines Jacques-Tati-Films ähnlich: Thorbjörn Björnsson wässert seine Pflanzen, Marie Goyette macht sich im Leopardenpelz hübsch. Für gemeinsame Chorstellen ("Oh solitude!") stehen aber stets alle zur Verfügung.

Skurriles Gesamtkunstwerklein

In der zweiten Hälfte werden die Kästchen durcheinandergewirbelt, zu einem einzigen großen Quadrat arrangiert und wieder auseinandergezogen. Im elaborierten Lichtdesign von Henning Streck malen die farbigen Folien dabei bezaubernde Muster auf Bühnenboden und -rückwand. Was szenisch hinzukommt, greift neben dem Motiv der Einsamkeit auch jenes der narzisstischen Selbstbezüglichkeit auf: Da wird Vinora Epp ihr eigenes Abbild aufs Gesicht projiziert, oder sie reiht in zeitloser Traurigkeit Ich-Sätze aneinander. Einmal wird es richtig marthalersch, wenn Marie Goyette als übersexualisierter Mutter in einer spontane Ich-stelle-meinen-Eltern-meinen-Freund-vor-Szene Ovids Erzählung von der Erblindung des Sehers Teiresias vorbringt.

Die ganz großen Kapriolen à la Marthaler lässt der sympathische Trupp freilich aus. So vermeidet er allzu offensichtliches Epigonentum, gelangt aber auch nicht in die vom Schweizer Schrullenmeister bekannten Höhen atemberaubender Virtuosität. Muss ja auch nicht sein, denn allzu große Selbstverliebtheit kann böse enden, wie wir hören. Im Wissen, dass der Abend mit nur 75 Minuten veranschlagt ist, sieht man ihm gerne zu, stellt Bezüge zum Ausgangstext bereitwillig her. Das improvisationsfreudige Team um David Marton hat ein, wenn auch etwas beliebiges, so doch liebenswertes Gesamtkunstwerklein geschaffen.

 

Narziss und Echo (UA)
nach Ovid
Inszenierung: David Marton, Bühne: Christian Friedländer, Kostüm: Valentine Solé, Licht: Henning Streck, Dramaturgie: Lucien Strauch, Musik: Paul Brody (Trompete), Daniel Dorsch (Klanggestaltung), Michael Wilhelmi (Klavier).
Mit: Thorbjörn Björnsson, Paul Brody, Vinora Epp, Marie Goyette, Michael Wilhelmi.
Premiere am 13. Juni 2019
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.wienerfestwochen.at

 

Kritikenrundschau

Mit seinem starken "Road Opera"-Ensemble umkreise Marton die Geschichte von Narziss und Echo, "hin und wieder auch komisch: Wenn die Tochter ihren Eltern den Freund vorstellt, gerät das zu einer herrlichen Fremdschämszene", schreibt Walter Weidrich in Die Presse (15.6.2019). "Ganz so virtuos, hintergründig und humorvoll wie bei Übervater und Vorbild Christoph Marthaler wird das Ganze freilich nicht, das Publikum reagierte trotzdem begeistert."

"Kein unvergessbarer Abend, doch im Trend: Hervorragende Solisten von überall her, doch Instant-Theater mit Text für den Tagesbedarf", schreibt Hans Haider in der Wiener Zeitung (15.6.2019).

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