Unglücklichster Tag des Lebens

von Anna Landefeld

München, 15. Juni 2019. Eine Kopie von einer Kopie von einer Kopie. Eine steril-grell ausgeleuchtete Erinnerung im leeren Raum an etwas, was man sich immer wieder und solange erzählt hat, bis nichts übrig bleibt außer Abgeklärtheit, Nüchternheit. Toderzählt. Ein Protokoll über nichts weiter als den Untergang der Welt, aufgefüllt mit Detailfetzen, die einem halt so sinnlos hängen bleiben im Gedächtnis: über etwas in seiner ganzen so unheimlichen Unvorstellbarkeit und ja, auch in seiner ganzen unheimlichen Schönheit. Felix Rothenhäusler distanziert sich mit seiner Bühnenfassung von "Melancholia" größtmöglich von Lars von Triers bildüberwältigender Film über die weltentrückte Justine, die sich die Kollision des blauen Planeten Melancholia mit der Erde herbeisehnt, die Erlösung im Tod – getragen von Richard Wagners leitmotivisch verwendetem Vorspiel zu "Tristan und Isolde". Bei Rothenhäusler ist das nur noch ironischer, gesprochener Kommentar, ein netter Fakt, für alle die den Film mal gesehen haben.

Schöne neue Weltentrücktheit

Was bleibt, wenn man sich so weit wie möglich von der visuellen Vorlage lösen möchte und die Geschichte einer schlechten Welt und einer daran verzweifelnden Frau erzählt? Ein Wagnis auf einer leeren, spiegelglatten schwarzen Bühne, mit zwölf kalten Scheinwerfern und fünf befremdlich-grotesken Rollen-Karikaturen, die über zwei Stunden lang in den Münchner Kammerspielen ein Drehbuch voller unschöner Sprache nachskizzieren. Wer leidet hier eigentlich – die Welt oder die, die an ihr leidet? Achso, ja. Dass man bei Rothenhäusler diese Frage zumindest nicht ganz vergisst, liegt vor allem an einer großartigen Schauspielerin: Julia Riedler als Justine.

In dem kalten Isolationsraum von Bühnenbildnerin Katharina Pia Schütz feiert Justine ihre Hochzeit. Das heißt, eigentlich feiern alle bis auf Justine. Jeder steht abwechselnd neben dem Justine-Körper und redet auf sie ein, nicht mit ihr. Sie reden alle auf jene schlimme, weil verzweifelte Weise, mit der sie sich selbst von ihren hohlen Sätzen befreien wollen, bei dem die Reaktion ihres Gegenübers ihnen und ohnehin gleichgültig ist.

02 melancholia 560 c armin smailovicSpiegelglatte Spielfläche für die Hochzeitsgäste: die Bühne von Bühnenbildnerin Katharina Pia Schütz in "Melancholia" in München © Armin Smailovic

Eva Löbau als biedermeierlich-belastete Justines Schwester Claire - mit ihrem himmelblauen puffigen Polyester-Plissee wirkt sie, als hätte man sie aus einer abgesetzten Achtzigerjahre-Drama-Serie hervorgekramt, da hilft auch die edgy Frise nichts - ist besessen vom hysterischen Glücklichstentagdeineslebens. Was der gekostet hat, rechnet Majd Feddah mit schmierigem Geschmeide um den Hals als Claires Mann John ihr massiv-unsympathisch und grabschend vor. Dazu liegt, hängt, lungert Gro Swantje Kohlhof als Emo-Kid Leo in kurzen Jeans-Hotpants immer irgendwo auf der Bühne rum, aber so unmotiviert, dass es eine Freude ist, ihr dabei zuzuschauen.

Vom Glück besessen

Eigentlich soll das hier eine "Barbiehochzeit" sein, so eine mit vielen Reden, Gästen und Essen. Barbie ist hier nur Julia Riedlers hüftlanges, blondes Plastikhaar. Zu einer verzerrten Version von Drunk in Love von Barbies Antithese Beyoncé sind sie und ihr Bräutigam Michael, Thomas Hauser, noch smooth auf ihre eigene Feier gestolpert. Liebestrunken, mit Großer-Liebe-großes-Glück-Gerede ist hier aber nur Hauser. Er wiederholt es so lang, bis er sich selbst glaubt. Nur einmal wird er neben Riedler stehen, ängstlich wissend um die zerbrechliche Leere seiner Worte und mit seinen Fingern an ihrem Unterarm hinab zu ihrem Handgelenk, zu ihren Fingern hinabkrallen und fragen: Wer habe eigentlich jemals gesagt, dass man glücklich sein muss? Für einen kurzen Moment überträgt sich Riedlers tieftraurige Gleichgültigkeit auf Hauser. Für einen kurzen, aber intensiven Moment ahnt man, was "Melancholia" hätte sein können.

Julia Riedler trägt die Last dieses zähen Abends bravourös. Es ist, als ob sie allen Schmerz auf sich genommen hat, ihren und den der Welt. Ihr Innerstes stülpt sie nach außen. Dafür muss sie kein einziges Wort sprechen, nur ertragen. Dabei lässt sie einen an etwas teilhaben, was so kaum greifbar ist. Hin und her wankt sie unter einer Last, balanciert von einem auf das andere Bein, um nicht darunter zusammenzubrechen.

MelancholiaSZ1 560 ArminSmailovic uTraurig-glückliche Braut: Julia Riedler als Justine © Armin Smailovic

Die Knie zittern, die Arme, das Kinn, die Lippen. Sie taumelt trunken von Qual. Aus ihren Augen dringt bleierne Leere, die ihre Lider, ihren ganzen Körper hinabzieht – bis sie irgendwann minutenlang mit geschlossenen Augen schweigend im Zuschauerraum sitzt. Immer weiter trägt sie. Erschöpft und überwältigt von der Vorstellung, wie der Planet Melancholia auf die Erde zurast, ihn verschlucken wird. Alles nur noch Feuer ist, schließlich Asche - wenn sich dann ihr Gesicht plötzlich und kaum merklich aufhellt und man noch nie jemanden so zart lächeln sah über die kommende Apokalypse.

Verwaschene Erinnerung

Die Apokalypse? Es ist, als ob Rothenhäusler in diesem Moment seinen Schauspieler*innen nicht vertraut. Er lässt sie sitzen, nicht mehr stehen, wie noch zuvor bei der Hochzeitsfeier, und er lässt sie wieder einmal mehr nur Text vortragen, aber nicht spielen. Da sitzen sie dicht beieinander, halten sich bei den Händen, wenn Gro Swantje Kohlhof plötzlich You should see me in a Crown von Pop-Melancholikerin Billie Eilish anstimmt.

Aber dieser starke und treffende Einwurf über ein "Königreich des Nichts" verpufft fast fast peinlich und unbeachtet zur Nebensächlichkeit, wenn plötzlich Eva Löbaus Gesicht vor Angst verzerrt, aus ihrem Mund herausbricht, wovor sich alle fürchten - eigentlich. Eigentlich, weil hier alles so grell-weiß ausgeleuchtet ist, weil hier alles so sehr nach einer verwaschenen Erinnerung klingt, die man sich gegenseitig toderzählt hat, so dass sie weder etwas mit den übrigen Schauspieler*innen noch mit dem Zuschauer macht. Das Schreckliche bleibt blass und lässt einen erschreckend kalt zurück.


Melancholia
von Lars von Trier
Regie: Felix Rothenhäusler, Bühne: Katharina Pia Schütz, Kostüme: Elke von Sivers, Live-Musik: Christian Naujoks, Licht: Stephan Mariani, Dramaturgie: Tarun Kade.
Mit: Majd Feddah, Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Eva Löbau, Julia Riedler, Christian Naujoks.
Premiere am 15. Juni 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 
Kritikenrundschau

Das nied­ri­ge schwar­ze Bühnen-Pla­teau "si­gna­li­siert die Ver­suchs­an­ord­nung", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.6.2019). "Lang ge­hal­te­ne Fre­quen­zen, ener­vie­rend wie­der­keh­ren­de Se­quen­zen, Bäs­se, die in den Kno­chen vi­brie­ren, in den ers­ten an­dert­halb der zwei Stun­den Spiel­zeit gibt es kei­nen Rück­zugs­ort für das Pu­bli­kum." Im zweiten Teil werde das Spiel zu­neh­mend sta­tischer, "ne­ben­ein­an­der auf­ge­reiht sit­zen zu­letzt die fünf Schau­spie­ler und der Mu­si­ker". Mu­tig sei die­ses Er­zähl­thea­ter auf den Zu­schau­er aus­ge­rich­tet. "Das Re­sul­tat ist ei­ne halb­fer­ti­ge, un­ge­schmir­gel­te Thea­ter­er­fah­rung, die in die­ser Ab­sicht den­noch rund ist."

"Es wäre blanker Irrsinn, sich an den schwelgerischen Bildern des Films zu versuchen. Das weiß zum Glück auch Regisseur Felix Rothenhäusler", schreibt Annette Walter in der taz (18.6.2019). Sein Konzept des permanenten Nacherzählens des Plots erschöpfe sich mit der Zeit, man erfahre aber zumindest ein wenig von existenziellen Themen. Sich von den Filmbildern zu lösen "fällt nicht leicht im Verlauf dieses artifiziellen und wenig sinnlichen Thea­ter­abends. Der große Erleuchtungsknall bleibt aus."

Felix Rothenhäusler inszeniere "Melancholia" als reines Sprachspiel. Dabei vermeidet er jede Haltung zum Stoff, so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (17.6.2019). Kenne man de Film, dann sei der Abend eine Evokation der Erinnerung. "Man geht in den Filmbildern spazieren, entdeckt hie und da eine kleine Abweichung." "Hat man langen den Eindruck, dass diese Aufführung möglicherweise total nullig ist, überwunden, stellt sich Faszination ein. Es ist der Abend zweier Frauen." Eva Löbau erzähle und spiele Claire, "sie ist das emotionale Moment der Aufführung", Julia Riedler ist Justine, aber sie Justine nicht depressiv, sondern durchscheinend, fragil.

Die Inszenierung mache von Beginn an aus ihrem Willen zur Kunstanstrengung keinen Hehl, so Sven Ricklefs im DLF (16.6.2019). "Kaum einmal, dass es direkte Dialoge gibt. Schon erzählt wieder eine der Personen die weitere Handlung aus der jeweiligen Ich-Perspektive." Zudem lasse der Regisseur in einem demonstrativen Frontaltheater zumeist direkt an der Rampe agieren, was die Spieler oft aber einfach nur ihres Potentials beraube. "Eine spröde und vielfach einfach nur langatmig dahingehende Theateradaption."

 

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