Rendezvous mit der Antike

von Michael Wolf

19. Juni 2019. Vier Stunden pro Tag verharrt sie auf einem Sockel, ruht sich aus, diese erschöpfte Königin. Um sie herum antike Statuen, vor Jahrtausenden gestoppte Zeit. Mit langsamen Bewegungen variiert sie ihre Position, sackt in sich zusammen, steht dann doch auf, streckt die Arme aus, tastet in die Leere, zieht die Hände wieder zurück. Nur für mich, den einzigen Besucher des kleinen Archäologischen Museums von Piräus an einem heißen Nachmittag.

ElenaAntoniou InSitu 560 PanagiotisMinasElena Antoniou "In Situ" © Panagiotis Minas

Elena Antonious Tanz bildet den Fluchtpunkt meiner Augen, die durch die Jahrtausende blinzeln. Mit "In situ" (lateinisch für "am Ort") war die Künstlerin auch schon im Neuen Museum Berlin zu Gast. Die Langzeitperformance ist eine Meditation über den Museumsbesuch. Unaufdringlich korrespondieren Antonious Gesten mit den antiken Statuen an den Wänden. Diese zeigen den fruchtbaren Augenblick, den entrissenen Moment, das Fleisch als Idee. Antoniou erinnert dagegen an die vergangene Lebendigkeit der Vorbilder dieser Exponate. Sie zeigt den Körper als verschlissene Sinnmaschine, die lange schon den Grund vergessen hat, etwas zu bedeuten, nur noch in die Leere greift statt etwas auf den Begriff zu bringen.

Das Festival fühlt in die Stadt hinein

Antonious Performance ist Teil der Sparte "Open to the City" beim Athen und Epidauros Festival, eine Reihe kostenloser Veranstaltungen im Stadtraum. Der scheidendene künstlerische Direktor des größten griechischen Theaterfestivals Vangelis Theodoropoulos hat dieses Engagement vorangetrieben, als die Athener zu Hochzeiten der Finanzkrise nicht genug Geld hatten, die Tickets zu bezahlen. Um nicht den Kontakt zur Stadt zu verlieren, kommt das Festival nun selbst zu den Bürgern. Es leuchtet auch die finsteren Ecken aus.

Teil des offiziellen Programms ist eine Führung mit dem Titel "Invisible Tour". Ein Verkäufer der örtlichen Obdachlosenzeitung führt durch eine Gegend nahe des Zentrums, vor der Touristen gewarnt werden und die selbst viele Einheimische nicht kennen: vorbei an Fixern, Tabak-Schmugglern, Suppenküchen und Bordellen. Ist das Elendstourismus? Im Griechischen gibt es dafür kein Wort. Vangelis Theodoropoulos schüttelt den Kopf. Nein, weil die Touren von Verkäufern der Obdachlosenzeitung selbst organisiert würden. Für das Festival seien sie wichtig. "Wir hatten vorher den Eindruck, diesen Teil der Stadt auszuklammern. Das wollten wir ändern."

ShediaInvisibleTours 560 BigPictureEine der "Invisible Tours" durch Athen © Big Picture

Und das erscheint folgerichtig, gerade in Krisenzeiten. Ohne den Blick hinter die Kulissen bliebe ein schaler Nachgeschmack bei den eingekauften Star-Produktionen, die in der größten Spielstätte, dem berühmten Amphitheater von Epidauros, laufen. Dieses Jahr füllen dort Romeo Castellucci ("La vita nuova") und Robert Wilson ("Oedipus") die Ränge. Auch im Athener Odeon des Herodes (erbaut 161 nach Christus) mit seinen knapp 5000 Plätzen spielt das Gemäuer selbst die Hauptrolle. Das Publikum rutscht in Abendgarderobe auf den unbequemen Steinen herum. Die katalanische Opern-Kompanie La Fura dels Baus ist zu Gast mit Vincenzo Bellinis "Norma". Die verhängnisvolle Liebesgeschichte einer gallischen Druidin mit einem römischen Feldherren spielt bei ihnen auf einer Plastikinsel in der nahen Zukunft, was recht beliebig erscheint, aber nicht weiter stört. Hier steht das Event, das Rendezvous mit der Antike, im Zentrum des Interesses.

OdeioHrodouAttikou 560 HarisBiliosDas Odeon des Herodes Atticus in Athen © Haris Bilios

Richard gegen 50 Statisten – "Richard III." von Little Orchestra

Die Avantgarde findet derweil auf einem stillgelegten Fabrikgelände statt. Die Herausforderung besteht darin, die riesigen Hallen zu füllen. Daran scheitert die freie Theatergruppe Little Orchestra krachend mit ihrer Inszenierung von Shakespeares "Richard III.". Eine quadratische Bühne haben sie in den Raum gestellt, einen Thron für den machtgierigen Intriganten. Rechts und links davon wäre noch genug Platz für Tennisfelder. Anstatt den Blick zu fokussieren, lässt Regisseur Christos Theodoridis sein Ensemble durch Raum und Handlung taumeln. Zu unentschlossen, zu klein wirkt das, wie ein Spiel mit Bauklötzen, wenn Pflastersteine gefragt wären.

Wie ein Trostpflaster haftet das realistische Spiel am Text, verdeckt die Wunde statt sie aufzureißen. Die blutige Spur des machtgierigen Schurken gerinnt auf dem Weg in die Ränge. Zum Finale stürmen um die fünfzig Statisten die Bühne und fallen wie Raubtiere über Richard her, was wie eine Bemühung der Regie wirkt, die eigene Mutlosigkeit der vergangenen drei Stunden vergessen zu machen.

Nazi-Propaganda-Film als Theater – "Himmelweg" von Juan Mayorga/Elena Karakouli

Immerhin entschlossener geht Elena Karakouli in ihrer Inszenierung des Stücks "Himmelweg" vor. Sie führt das Publikum durch drei Räume (auch "Himmelweg" spielt auf dem ehemaligen Fabrikgelände). Im ersten Raum tollt ein entrücktes Paar über eine Grünfläche. Zwei Verliebte, eine Szene des Glücks, könnte man meinen, trügen sie nicht Judensterne an der Brust.

Im zweiten Raum, dem Theatersaal, erfahren wir, worum es geht. Der (spanische) Autor Juan Mayorga rekapituliert die Enstehungsgeschichte des Nazi-Propagandafilms "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" im KZ Theresienstadt. Im Stück zwingt der Lagerkommandant die Gefangenen, einem Gesandten des Roten Kreuz eine heile Welt vorzuspielen. Die wahre Geschichte ist es wert, auf dem Theater gezeigt zu werden. Aber bitte nicht so, wie das hier geschieht.

ElenaKarakouli Himmelweg 560 EviFylaktou"Himmelweg" © Evi Fylaktou

Endlos ziehen sich die Proben für die Inspektion, immer wieder herrscht der Kommandant einen vor Angst zitternden Juden an, er solle eine Verbindung zwischen seinem Text und seinen Gesten finden. Das wirkt mitunter wie eine Parodie auf Machtmissbrauch im Theater. Auf der leichten Schulter aber wiegt das historische Thema zu schwer. Regisseurin Karakouli setzt erst auf Galgenhumor und versucht sich dann mit kitschiger Betroffenheit abzusichern. Das ist in seiner Klebrigkeit schon schwer erträglich, als ein junges Mädchen am Schluss "Die Gedanken sind frei" singt.

An den Rand der Zumutung rückt die Arbeit, als das Publikum nach dem Applaus in einen dritten Raum geführt wird, in dem Fotos aus Theresienstadt hängen und Schuhe in Vitrinen gestapelt sind. Als wolle der Abend sich über das historische Verbrechen rechtfertigen, statt seine Energie darauf zu verwenden, der Geschichte gerecht zu werden.

Schluss mit dem Karneval – "Los Incontados" von Mapa Teatro/Kolumbien

Beeindruckend hingegen, wie die Gruppe Mapa Teatro die Wirrungen der kolumbianischen Gesellschaft über die Jahrzehnte präsentiert. Dicht und szenographisch versiert erzählen sie in "Los Incontados" drei Episoden über das Verhältnis von Party und Politik. Das Motto des Abends: "Wir müssen den Karneval beenden und jetzt mit der Revolution beginnen." Aber weder das eine noch das andere mag zünden. Immer kommt etwas dazwischen, der Biedermeier, die Religion oder das Kokain, lähmender Eskapismus oder überbordender Rausch.

MapaTeatro LosIncontados 560 FelipeCahachoMapa Teatro "Los Incontados" © Felipe Cahacho

Erst sieht man nur ein spießiges Wohnzimmer im Stil der 50er Jahre. Ein paar Kinder hören dort Radio, warten auf den kommenden Aufstand oder auch nur eine Feier. Dann bricht die Rückwand auf, eine Gruppe maskierter Männer in Frauenkleidung stürmt als Teil eines religiösen Rituals einen Partykeller. Später geht es in den Dschungel, wo ein Drogenboss die Machtübernahme und die Legalisierung von Kokain plant.

Das Mapa Teatro ist in Europa längst bekannt, "Los Incontados" war auch schon beim Heidelberger Festival "Adelante!" zu Gast – und das, obwohl die anspielungsreiche Arbeit ein europäisches Publikum eigentlich nur überfordern kann. Gleichwohl schweift der Blick nicht ab, die Bilder ziehen hinein, der Rhythmus leitet durch die Geschichte eines Landes, das nicht zur Ruhe kommt. Man wünscht sich, mehr über Kolumbien zu wissen, um noch tiefer in dieses Spektakel einzutauchen. Aber, und das ist ein Glück, es ist nicht nötig, das Geschehen zu verstehen, um es unbedingt sehen und hören zu wollen.

Athen und Epidauros Festival 2019
5. Juni bis 10. August 2019

greekfestival.gr

 

Offenlegung: Das Athen und Epidauros Festival kam für Reise und Unterkunft des Autors auf.

Mehr zum Athen und Epidauros Festival: Im April 2016 wurde der belgische Choreograph Jan Fabre zum neuen Leiter des Festivals ernannt und trat nach Protesten zurück, noch bevor er die Arbeit angetreten hatte. Ihm folgte Vangelis Theodoropoulos, der als "Berater für Internationale Produktionen" den deutschen Kurator Matthias von Hartz ins Boot holte. Warum die griechische Kulturszene auf Jan Fabres Ernennung und seine Ideen für das Festival mit Protest reagierte, erklärt die Theatermacherin Lena Kitsopoulou auf nachtkritik.de (in English).

 

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