Wider die Immersion

von Martin Thomas Pesl

Salzburg, 17. Juni 2019. Salzburg hat – also bei jüngeren Menschen von anderswo – jetzt nicht sooo den guten Ruf: museal, kitschig, teuer, ein aalglattes Disneyland der "Sound-of-Music"-Freaks. Dass es auch hart und dreckig kann, zeigte Adrian Goiginger 2017 im Kinofilm "Die beste aller Welten". Liebevoller schaut jetzt die bewährte lokale Performance-Gruppe ohnetitel gleich in sehr viele Alltagsecken dieser Stadt, in der, wer hätte das gedacht, auch vor und nach den Festspielen echte Menschen leben und arbeiten. Die mehrtätige unkonventionelle Stadtrundfahrt hat große literarische Vorbilder: James Joyce, dessen Protagonist Leopold Bloom 24 Stunden lang durch ein ganz normales Dublin streifte, und Homer, dessen "Odyssee" wiederum Joyces Roman "Ulysses" seinen Namen gab.

Eine Fahrt ins Ungewisse

Einen Tag nach dem offiziellen Bloomsday, dem 16. Juni, eröffnet der erste von sechs Teilen von "Die Späte der Stunde" das internationale Performance-Festival Sommerszene. Gezeigt werden heute die Kapitel 1–4, bis Samstag folgen noch zwanzig weitere: 24 Kapitel für 24 Bloom-Stunden, und jedes findet an einem anderen Ort irgendwo in Salzburg statt. Welche das jeweils sind, das erfahren die bis zu 30 Teilnehmer*innen nicht, wenn sie in den Bus einsteigen. Eine Fahrt ins Ungewisse, das wird betont – eine Odyssee durch Salzburg, deren Montagsstationen nun durch diese Kritik hier gespoilert werden.

DieSpaetederStunde 560a Pesl uThe hills are alive? Das durchaus beeinruckende Schlussbild der Montags-Tour © Martin Thomas Pesl

In der Werkstatt eines Möbelgeschäfts verliest Manfred Kern zunächst eine Art Keynote-Speech. Es handelt sich um einen eigens verfassten humorig-eloquenten, akademisch-ironischen Essay zur Rechtfertigung des ganzen Unterfangens. Da heißt es etwa, Salzburg müsse sich vor Dublin und Ithaka nicht verstecken, denn wo wären die schon ohne Joyce bzw. Homer. Stimmt. Und: "Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα", der Beginn der "Odyssee", klinge immer wie ein Aufzählung von Namen: András Moi, N. E. P. Moser. Für welche Vornamen Frau Mosers Initialen wohl stehen könnten?

Hollywood-Diven am Pool

Wenn dieser Mann noch nicht Latein und Griechisch an einem humanistischen Gymnasium unterrichtet, sollte er dringend damit anfangen, er wäre der beliebteste Lehrer: gebildet, sarkastisch, cool. So wird feinsinnig augenzwinkernd weitergesponnen, während hinter ihm ein Chor Homer zitiert und der Jazzmusiker Gerhard Laber die ausgefallensten Musikinstrumente betätigt: Pinsel auf Kuhglocken, Steine auf Holzboden.

Rätselhafter geht es dann in einer Backstube zu, wo unter anderem ein Musiker von seiner Geige abbeißt und sie so als Backware entlarvt. Während der Fahrt des Busses durch eine Waschstraße im Industrieviertel setzt Manfred Kern seinen Vortrag fort, indem er Odysseus’ Schiffsreise durch diverse Stürme mit Waschstraßenkindheitserinnerungen zusammendenkt. Ja, da ist schon was dran, denkt man, und „Gischt“ ist auch wirklich ein tolles Wort, das kann man nicht oft genug hören.

DieSpaetederStunde 560b Pesl uSirenengesang? Sekt am Pool © Martin Thomas Pesl

Unweit der Sand- und Kieswerke, wo dieses dritte Kapitel stattfand, lässt sich das Publikum rund um den Swimmingpool des Salzburger Golf & Country Club nieder. Auf eine Leinwand im Becken werden Schwarz-Weiß-Filmschnipsel von Hollywood-Diven projiziert, rundherum performt zunehmend das ganze Ensemble des bisherigen Abends eine stumme Choreografie aus Tanzbewegungen, Klangerzeugung mit Sektgläsern und Gehen am Beckenrand. Ach ja, Gehen: Hat nicht Professor Kern vorhin daran erinnert, dass der "vielbewanderte" Odysseus eigentlich sehr wenig wanderte?

Viel Homer, wenig Joyce

Am allabendlich gleichen Endpunkt gibt es bei schöner, sehr klischeesalzburgtypischer Aussicht noch was zu trinken und ein paar Gedanken zu einer homerischen Figur. Montags ist dies Odysseus’ Frau Penelope, und ohnetitel-Ko-Leiterin Dorit Ehlers stützt ihre Rede auf die Abwägung, was wohl schwieriger sei: die Abenteuer des Nachhausekommens oder das Imaginieren dieser Abenteuer während des Wartens?

DieSpaetederStunde 560 Pesl uFast wie ein Meeressturm: in der Waschstraße © Martin Thomas Pesl

Dieses heutige Abenteuer ließ den Reisenden jedenfalls etwas unbefriedigt zurück. Das Verhältnis zwischen langen Busfahrten und kurzen Szenen. Der überpräsente Homer, der kaum spürbare Joyce. Das unkonkret Assoziative hier, das Ausbuchstabieren von Erklärungszusammenhängen da. Die große Geheimnistuerei im Vorfeld gegenüber der ostentativen Lässigkeit einiger Performer*innen, die weder an Illusion noch Immersion interessiert sind.

Andererseits nährt genau dieses Mangelgefühl den Wunsch, die übrigen fünf Performance-Tage mit den Kapiteln 5 bis 24 auch zu erleben. Und noch etwas Positives gibt es zu vermelden: Salzburg ist durch diese Odyssee tatsächlich eine Spur sympathischer geworden.

 

Die Späte der Stunde: Kapitel 1–4
von ohnetitel nach James Joyce und Homer
Konzept und Durchführung: ohnetitel – Netzwerk für Theater & Kunstprojekte, Künstlerische Leitung: Dorit Ehlers, Arthur Zgubic
Mit: Dorit Ehlers, Cornelia Fischberger, Manfred Kern, Gerhard Laber, Ben Pascal, Peter Sigl u.v.m.
Premiere am 17. Juni 2019
Dauer: im Schnitt 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.ohnetitel.at
www.szene-salzburg.net

 

Kritikenrundschau

"Es mischt sich Versmaß mit politischen Andeutungen, Schöpfungsgeschichte und der Macht des Wortes", schreibt Bernhard Flieher in den Salzburger Nachrichten (19.6.2019). "Man verliert sich in einer (Salzburger) Welt, deren einzige Konstante die Ungewissheit über das nächste Ziel bleibt. Tatsächlich passiert, was angekündigt wurde: Es geht vom Hundertsten ins Tausendste. Das ist nicht nur ein Kompliment." Die erste Ausfahrt habe nicht bloß spannende, sondern bisweilen auch langatmige Momente.

Clemens Kainz schreibt auf dem Online-Magazin drehpunktkultur.at aus Salzburg (19.06.2019) über die Folgen 5 bis 8: Als großer Pluspunkt des Abends könne "der Verzicht auf Erklärungen" genannt werden, da man "mit sanfter Leitung" die Orte selbst erkunden und Eindrücke sammeln könne. Die Distanz "zwischen bloßem Zusehen und dem tatsächlichen Erleben" sei geschmolzen, man sei gleichzeitig "Eindringling und Ehrengast", was "atmosphärisch anregende Stimmungsbilder" bewirke. Überall habe es "interessante Szenerien" gegeben, die das alltägliche Erleben von Salzburg auf den Kopf stellten. Müßig sei es, "die Geschehnisse pragmatisch interpretieren zu wollen". "ohnetitel" lege es "vielmehr darauf an, ein vielschichtiges Bild zu kreieren und verschiedenste Assoziationen zu erwecken".

 

 

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