Theater und Politik

von Falk Richter

Hamburg 20. Juni 2019. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Lehrende, liebe Studierende, was kann Theater? Was soll Theater bewirken? Und wie politisch kann und soll Theater sein?

Theater ist politisch, denn es setzt sich immer in Bezug zur Gesellschaft, bewusst oder unbewusst, und im besten Fall bezieht es Stellung zu den Machtverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft und setzt sich mit den gesellschaftlich relevanten und drängenden Themen auseinander und lässt die Möglichkeit oder zumindest die Ahnung der Möglichkeit eines anderen Lebens, eines anderen Miteinanders aufscheinen.

1. Die Freiheit der Kunst ist bedroht

Wir leben in Zeiten, die jeden Künstler, jede Künstlerin zu einer politischen Haltung aufrufen. Die Freiheit der Kunst ist auch in Europa, auch in Deutschland wieder bedroht. Parteien, die ein totalitäres Weltbild propagieren und gegen bestimmte von einer imaginierten völkischen Norm abweichende gesellschaftliche Gruppen mobil machen, agitieren auch gegen die Freiheit der Kunst, gegen die Freiheit der Theater, sie verklagen Theaterschaffende, wollen unliebsamen Künstler*innen Gelder kürzen und wollen dem Theater Vorschriften darüber machen, welche Stoffe es verhandeln darf, welche Menschen es sichtbar machen darf und wessen Geschichten es auf welche Weise erzählen soll.

Falk Richter 560 Krafft Angerer uDer Autor und Regisseur Falk Richter (1969 in Hamburg geboren) bei seiner Rede in Hamburg © Krafft Angerer

Eine neurechte rassistische, homophobe anti-aufklärerische Bewegung schreitet europaweit voran, sitzt in Polen, Ungarn, Russland, Italien und bis vor wenigen Tagen auch in Österreich in der Regierung, hat auch im Osten Deutschlands einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich, stellt in den USA und Brasilien den Präsidenten und erobert mehr und mehr gesellschaftliche Räume, heizt eine von Hass und Feindseligkeit geprägte gesellschaftliche Stimmung an, leugnet die auf uns zurollende Klimakatastrophe und hetzt ihre Anhänger auf, Jagd auf Fremde zu machen, Journalisten einzuschüchtern, Morddrohungen auszusprechen, Schwule, Lesben und Transmenschen zusammenzuschlagen, Anschläge auf Unterkünfte für Geflüchtete aus Kriegsgebieten zu verüben, über einen bevorstehenden Bürgerkrieg in Europa zu sinnieren und Todeslisten mit unliebsamen Kritikern in sozialen Netzwerken zu verbreiten. Der gelebte Hass, die Angriffe auf Menschen und demokratische Institutionen nehmen täglich zu, in Deutschland wurde gerade ein Politiker, zu dessen Ermordung mehrfach von rechten Hetzern im Netz aufgerufen wurde, per Kopfschuss ermordet und die rechte Internetgemeinschaft feiert diesen Mord wie einen Sieg in einem Bürgerkrieg, in dem es darauf ankommt, möglichst viele "Freunde der Einwanderer" und der "linken Elite" aus dem Weg zu räumen.

Man könnte dies für ein zugespitztes, dystopisches dramatisches Szenario halten. Aber dies beschreibt – wenn auch pointiert zusammengefasst – die Realität, in der wir heute als Künstler*innen Theater machen und zu der wir uns verhalten müssen.

Im aktuellen, von rechtsnationalen und neufaschistischen Kräften bestimmten öffentlichen Diskurs werden Menschen immer wieder ihrer individuellen Geschichte beraubt, sie werden einer Kategorie zugeordnet und über die Stereotype, die diesen Kategorien zugeschrieben werden, markiert und abgewertet: Die "Muslime", "die Flüchtlinge", "die Schwulen", "die Gutmenschen". Der öffentliche Diskurs ist von einengenden, abwertenden, rassistischen, sexistischen, nationalistischen, homosexuellenfeindlichen Zuschreibungen durchzogen, so dass der Blick auf den einzelnen Menschen, seine ganz eigene Geschichte, seine Erfahrungen, sein Leben völlig verstellt und verunmöglicht wird.

Das Theater kann diese Prozesse sichtbar machen, es kann die dahinter liegende Ideologie kritisch untersuchen, es kann die Sprache analysieren, die zu diesen totalitären Weltbildern führt. Und das Theater kann den einzelnen Menschen aus diesen einengenden Zuschreibungen herauslösen und sich auf die ganz eigene und eigenwillige und widersprüchliche Geschichte eines jeden einzelnen Menschen konzentrieren, das Leben und die Geschichte eines einzelnen Menschen erfahrbar machen und Nähe aufbauen, wo abwertende Zuschreibungsstrategien eher Distanz, Konflikt, Ablehnung und Hass herzustellen versuchen. Gesellschaftliche Vielfalt, diversifizierte Lebensentwürfe sind gelebte Realität. Das Theater kann von ihnen erzählen, ihnen eine Stimme verleihen, ihnen eine Bühne, einen Rahmen geben und die Angst vor ihnen auflösen durch Begegnung, Erfahrung, Austausch, Empathie. Das scheinbar Fremde kann im Theater vertraut werden, dem Zuschauer nah kommen, dann "tritt an die Stelle der Andersheit die Differenz".

Die Differenz zu einer angenommenen Norm ist das Material, aus dem Geschichten für das Theater entstehen.

Theater kann und soll von Komplexität erzählen, davon, wie bedrohlich Komplexität wirken kann, da sie manchmal überfordert, aber auch davon, wie sehr Komplexität eben eine Feier des Lebens darstellt. Denn das Leben heute ist komplex und in der Komplexität, in der Vielfalt liegt ein Reichtum, ein kultureller, gesellschaftlicher, menschlicher Reichtum. Diese Diversität, diese Vielfalt sollten wir feiern, sie sollte uns keine Angst machen.

2. Welche Gesellschaft wollen Sie abbilden?

Ich zitiere aus dem Berliner Tagesspiegel:

"Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat den Shitstorm kommen sehen und dann trotzdem einen Post bei Facebook abgesetzt, für den er jetzt heftig kritisiert wird. 'Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die Deutsche Bahn die Personen auf dieser Eingangsseite ausgewählt hat', schreibt der Grünen-Politiker. 'Welche Gesellschaft soll das abbilden?' Daneben ein Screenshot von der Website der Deutschen Bahn, auf der Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben abgebildet sind.

Die Deutsche Bahn wirbt in einer aktuellen Kampagne unter anderem mit dem afrodeutschen TV-Koch Nelson Müller, der türkisch-stämmigen Moderatorin Nazan Eckes und dem ehemaligen Formel-1-Rennfahrer Nico Rosberg.

Seinen Post beginnt Palmer mit den Worten: "Der Shitstorm wird nicht vermeidbar sein."

Nur Minuten später stößt er mit seinem Post in den sozialen Netzwerken auf die Ablehnung, mit der er gerechnet hatte." (oder, die er sicherlich auch provoziert hat. Denn Palmer, das sage ich jetzt, liebt es über rassistische Äußerungen Aufmerksamkeit zu erzeugen.)

Jetzt wieder Tagesspiegel: "Auf Palmers Frage, welche Gesellschaft abgebildet wird, antwortet etwa die 'Türkische Gemeinde in Deutschland': 'Eine plurale und vielfältige Gesellschaft. (...) Eine Gesellschaft die Ihre eindimensionalen Kriterien längst überwunden hat. Willkommen im Jahr 2019!'"

Wenn wir über "Theater und Politik" sprechen, dann müssen wir auch über "Besetzungspolitik" sprechen und über die Frage, wer sichtbar werden im öffentlichen Raum und der Bühne? Wer darf teilhaben an der öffentlichen gesellschaftlichen Repräsentation? Für Boris Palmer gibt es da offensichtlich eine unausgesprochene Richtlinie, nach der es ein "zu viel" an Diversität gibt. Ihm waren offenbar zu viele nicht-weiße Menschen abgebildet. Das ist nicht sein Verständnis von Gesellschaft.

koerber 3 560 Koerber Stiftung Krafft Angerer uPause beim Körber Studio Junge Regie © Körber-Stiftung/Krafft Angerer

Jede Theaterinszenierung bildet durch die Besetzung immer auch Gesellschaft ab, oder verweist darauf, wie Gesellschaft anders abgebildet werden könnte, wie sie im utopischen Sinne gestaltet werden könnte. Sie kann die Normen verschieben, zu neuen Sichtweisen auf Gesellschaft beitragen. Auf welche Gesellschaft wollen Sie mit Ihrer Besetzungspolitik verweisen? Welchen Menschen wollen Sie zu Sichtbarkeit verhelfen, wem einen Raum geben, mit wem wollen Sie da in Ihren Probenräumen kooperieren? Selbst die rassistischen Äußerungen eines Bürgermeisters können wir als Theaterschaffende noch zu Rate ziehen, wenn wir uns Gedanken über eine andere, bessere, utopische Gesellschaft machen. Fragen Sie sich doch mal, was für Sie diese unausgesprochene Grenze sein könnte: Ab wann ist eine Besetzung zu schwarz, zu schwul, zu weiblich … oder haben Sie da andere Kategorien? Denken Sie das anders? Welche Kategorien haben Sie da im Kopf, wenn Sie sich für eine Besetzung für Ihre Inszenierung entscheiden müssen?

3. Soziale Utopien

Das Theater ist immer auch ein Ort der gelebten sozialen Experimente, und des Ausprobierens gesellschaftlicher Utopien.

Unsere Gesellschaften müssen aus einem toxischen Konkurrenzdenken herausfinden. Statt Einzelkämpfertum und hierarchischen Modellen brauchen wir neue Kollektive und solidarische Verbindungen von Menschen, die sich offen und gleichberechtigt begegnen und gemeinsam versuchen, angelernte rassistische, sexistische und homophobe Sichtweisen zu hinterfragen und zu überwinden und einen neuen Raum schaffen, in dem Menschen ohne Angst und ohne abwertende Zuschreibungen aufeinandertreffen können.

Wenn wir über "Theater und Politik" sprechen, dann sollten wir auch über Hierarchien und Machtstrukturen sprechen und über die Frage, wie Entscheidungen innerhalb des Produktionsprozesses getroffen werden.

Gibt es innerhalb des künstlerischen Schaffensprozesses die eine Führerfigur oder gibt es ein künstlerisches Kollektiv? Gibt es flache oder straffe Hierarchien? Wie sehen Sie sich als Künstler*in? Sind Sie ein Einzelkämpfer, eine Einzelkämpferin oder wollen Sie ein Künstlerkollektiv, ein Netzwerk gleichberechtigter Künstler*innen schaffen, in dem Sie als ein Impulsgeber von vielen, oder als Motor, als treibende Kraft fungieren? Welche Räume für Zusammenarbeit wollen Sie schaffen? Wer wird in den Entscheidungsprozess mit einbezogen, wer darf mitbestimmen, wer soll nur Anweisungen ausführen? Wessen Meinung wird eingeholt? Welche gesellschaftlichen Modelle von Hierarchie wollen Sie überwinden und was für ein neues Miteinander wollen Sie ausprobieren?

4. Was können wir von Ihnen lernen?

Jede Generation bringt ihre neuen Themen, ihre neuen Formen und ihre neuen Kämpfe hervor. Wir Lehrenden können dabei begleiten, als Mentor zur Verfügung stehen, unser über die Jahre gesammeltes Geheimwissen über künstlerische Prozesse zur Verfügung stellen oder manchmal auch nur als wandelnder Wikipediaeintrag zu unseren Fachthemen zu Diensten stehen. Und vor allem können auch wir zuhören und zuschauen und von den Studierenden lernen.

Von den jungen Generationen kommen meist künstlerische und politische Impulse, die wir heute noch nicht imaginieren können und die die Kraft haben könnten, die Welt zu verändern.

Und daher, liebe Studierende: Zeigen Sie uns, was wir von Ihnen lernen können.

Erzählen Sie von sich. Lassen Sie uns wissen, wer Sie sind und wie Sie auf die Welt schauen, und was Sie in ihrem Leben dazu gebracht hat, so auf die Welt zu schauen, wie Sie es heute tun. Das was Sie selbst bewegt, wird auch uns bewegen. Zeigen Sie uns Ausschnitte von Welt, die nur Sie auf Ihre ganz eigene Weise gesehen haben.

Lassen Sie uns wissen, welche Widersprüche Ihnen in der heutigen Welt auffallen und lassen Sie uns erahnen, welche andere Welt Sie für möglich und für erstrebenswert halten. Was uns interessiert ist Ihr genauer Blick, Ihr Empfinden, Ihre persönliche Geschichte oder Ihre Fähigkeit, genau zuzuhören und das Gehörte wiederzugeben oder für die Bühne aufzubereiten. Ist Ihr Ausschnitt von Welt, den Sie beobachten und uns erfahren lassen oder ist die Welt, die Sie in sich tragen, die Sie erfinden, die Sie auf der Bühne zum Leben erwecken.

koerber 560 Koerber Stiftung Krafft Angerer uWarten auf den Einlass © Körber-Stiftung/Krafft Angerer

Die voranschreitende Erdüberhitzung wird uns in gesellschaftliche Herausforderungen und Überforderungen führen, die wir uns heute hier noch kaum vorstellen können. Der Planet selbst steht kurz davor, wie ein zürnender Rachegott uns Zerstörer abzuschütteln. Wir leben in einer Zeit, in der gesellschaftliches Leben anders gedacht werden MUSS, wenn wir als Menschheit überleben wollen. Wir brauchen ein neues Miteinander, einen anderen Umgang mit der Natur, mit Tieren, mit anderen Menschen – diese alte europäische Ideologie des ständigen Wachstums und der Ausbeutung anderer Länder, Menschen, Tiere, der Natur selbst, muss durch ein solidarisches Miteinander ersetzt werden. Kurzum: Wir brauchen eine andere Gesellschaft, sonst haben wir bald keine Gesellschaft mehr. Also brauchen wir auch Erzählungen für eine andere Gesellschaft und Arbeitsweisen, die andere Gesellschaften erahnen lassen.

Wir stecken mitten in der vierten großen Revolution der Menschheitsgeschichte: Der Digitalisierung. Auch diese wird die Gesellschaft grundlegend verändern: Für die Ausübung vieler Berufe werden Menschen nicht mehr gebraucht werden. Durch technische Möglichkeiten wird die Vermischung von Realität und Fiktion weiter vorangetrieben werden, so dass es immer schwieriger werden wird, zu bestimmen, welche Bilder inszeniert, welche authentisch, was überhaupt als real, was als Fiktion anzusehen ist. Das Theater wird sich weiter wandeln und sich – wie zu jeder Zeit – immer weiter öffnen für neue Formen, neue technische Mittel, neue Diskurse, neue Schauspielstile – und das ist auch gut so! – ABER das Theater wird auch immer der Ort sein, an dem Körper direkt aufeinandertreffen, an dem Menschen sich von Angesicht zu Angesicht begegnen und sich in eine unmittelbare Auseinandersetzung miteinander begeben, wo frei gedacht und experimentiert werden kann, wo das, was ist, reflektiert und kritisch hinterfragt werden kann, und wo eine neue andere vielleicht bessere Gesellschaft für Momente aufleben kann.

Und dafür, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleg*innen, lohnt es sich, diese Kunstform zu bewahren und gegen alle äußeren Kräfte, die versuchen, sie zu zensieren, einzuschränken oder für ihre nationalistischen Fantasmen zu missbrauchen zu verteidigen – GEMEINSAM! Mit allen Kräften. Und wenn es sein muss bis auf den letzten Tropfen Theaterblut!

Ich bin gespannt auf das, was Sie, liebe Studierende, uns in den nächsten Tagen mit Ihren künstlerischen Arbeiten zeigen, mitteilen und erfahren lassen werden und ich wünsche uns allen eine aufregende Woche mit spannenden radikalen bewegenden und anregenden Theaterereignissen! Vielen Dank!

 

Falk Richter, 1969 in Hamburg geboren, ist Regisseur und Autor. Seine Stücke, darunter "Gott ist ein DJ", "Electronic City", "Unter Eis" und "TRUST", liegen in mehr als 35 Sprachen vor und werden weltweit inszeniert. Ab 1999 arbeitete er als fester Autor und Regisseur an der Schaubühne Berlin. 2017 wechselte er als Hausregisseur ans Deutsche Schauspielhaus in Hamburg. Seit der Spielzeit 2015/16 ist Falk Richter zudem Artiste associé am Théâtre National de Strasbourg. Er unterrichtet als Gastdozent an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin und gibt Masterclasses in Paris, Madrid, Wien, Venedig und Tel Aviv. 2016 übernahm Richter die 5. Saarbrücker Poetikdozentur, die als Buch mit dem Titel "Disconnected. Theater Tanz Politik" vorliegt.

www.falkrichter.com

 

Alles zu Falk Richter auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

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Kommentare  
Falk Richter: Frage
Eine Frage, mag banal sein: Das ist eine Rede. Jetzt tauchen in dem Text Gender-Sternchen auf. Die kann man nicht sprechen. Also wird in irgendeiner Form vom Gesprochenen ins Schriftliche übersetzt. Aber nach welchen Regeln? Und warum kann man nicht einfach wiedergeben, was er tatsächlich gesagt hat?

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Lieber Berliner,
wir verstehen uns als Autorenmedium, oder eben als Autor*innenmedium. Das bedeutet auch, dass wir die Enscheidung, ob und wie gegendert wird, unseren jeweiligen Autoren überlassen. Das Manuskript wurde uns mit * übermittel, daher folgen wir dieser Maßgabe.
Es ist übrigens durchaus möglich, den * zu sprechen, das Zeichen markiert dann eine kurze Sprechpause.
Viele Grüße aus der Redaktion
miwo
Falk Richter: gesprochene Gendersternchen
Ich war bei der Rede dabei und Falk Richter hat die Gendersternchen tatsächlich sehr elegant betont - es fiel auf, war aber keineswegs störend. Man könnte fast meinen, der gute Mann hat beruflich mit Sprache und Interpretation zu tun...
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