Bibel, Babel, Blasphemie

von Martin Thomas Pesl

Melk, 19. Juni 2019. Da soll also ein himmelhoher Turm draus werden, aus diesen kubenförmig angeordneten, gegeneinander verschiebbaren Stahlgerüstmodulen. Vielversprechend. Aber weil wir in Babel oder "Babylon" sind, wird es letztlich nur ein Bühnenbild. Das sich gegen das durchaus vollendete Bauwerk dahinter sowieso bescheiden ausnimmt. Denn da thront das Stift Melk über der Donau.

Archaische Sätze aus dem Zweistromland

Das Zelt der Wachauarena für die Sommerspiele in der niederösterreichischen Stadt wird stets mit der Öffnung hin zum Benediktinerkloster aufgebaut. Der Abt sitzt bei jeder Premiere in der ersten Reihe, egal ob Luzifer oder irgendwelche heidnischen Götter ihr Unwesen treiben. Zumindest auf dem Spielplanpapier schafft es Melk-Intendant Alexander Hauer Jahr für Jahr, verblüffende Setzungen gegen den Sommertheater-Mainstream aus Shakespeare und seichter Komödie zu bieten (neben einer sehr populären Musikrevue freilich): Er lässt Filme wie "Metropolis" oder historische, mythologische oder religiöse Stoffe durch wechselnde Autoren bearbeiten und inszeniert so laufend Uraufführungen.

Babylon 1 560 Daniela Matejschek uGroßes Theater vor großer Kulisse: "Babylon" © Daniela Matejschek 

Diesmal hat er einen vermeintlichen Coup gelandet: den streitbaren Deutschen Feridun Zaimoglu und seinen Dramen-Koautor Günter Senkel, die bei den Wormser Nibelungenspielen schon einschlägige Erfahrung sammelten. In Melk durften sie sich zum Thema "Babylon" verwirklichen. Gegenüber dem Vorjahr, als der Thrillerschreiber Bernhard Aichner für Melk einen triviales Mash-up gefühlt aller bösen Menschen der Geschichte entwarf, bedeutet das diesjährige Spektakel jedenfalls literarisch einen Aufstieg (und das trotz Bad-Sex-in-Fiction-Award-verdächtiger Sprüche wie "Tief in mir wühlst du, und du wässerst mich"). Zaimoglu/Senkel finden eine Sprache aus kurzen, archaischen Sätzen, die man gerne bereit ist, in der Blütezeit des Zweistromlands Mesopotamien zu platzieren.

Abgestraft für den Größenwahn

Außerdem gibt es eine halbwegs komplexe Handlung mit Nebensträngen: Die Tochter (Ursula Leitner) des Baumeisters (Max Niemeyer), der für Babels König (Giuseppe Rizzo) den Turm bis in den Götterhimmel errichten soll, liebt den Königssohn (Rafael Haider), des Königs Konkubine (Dagmar Bernhard) entpuppt sich als Göttin, und so weiter. Noch dazu sind am Ende genreuntypisch nicht alle tot, eher im Gegenteil.

Babylon 2 560 Daniela Matejschek uWohlauf, lasst uns einen Turm bauen: Kajetan Dick, Sophie Prusa und Christian Kainradl (v.l.) © Daniela Matejschek 

Die Autoren haben fleißig recherchiert. Zu den Namen der Figuren findet man Geschichte oder Geschichten, die Zusammenführung zu einem Stück muss aber nochmal ein Stück Arbeit gewesen sein. Wie sie babylonischen Schöpfungsmythos, Historie und Bibel verbinden, ist geradezu blasphemisch. Denn während in den gerade mal neun Versen im Alten Testament Gott die ganze Menschheit für ihren Hochmut mit der Sprachverwirrung straft, erteilt hier die pluralistische babylonische Göttergemeinschaft einem größenwahnsinnigen Herrscher eine Lektion. Nachdem dieser Enmerkar nämlich alles Erdenkliche erobert hat, lässt er sich als Gottkönig verehren.

Bogen in die Gegenwart?

Und genau das könnte ja interessant sein und einen Bogen in die Gegenwart spannen – tut es angeblich auch laut einer vom Band kommenden einleitenden Ansage des Intendanten nebst Fotografierverbot und Handy-ausschalt-Erinnerung. Enmerkar könnte ein Trump sein, der Bauherr, der sich anmaßt, alles great again zu machen, und die kassandraartigen Träume seiner Gattin (Maxi Blaha) als Eifersucht abtut. Auch das Massengebet für Ex-Kanzler Kurz kommt in den Sinn. Um das griffig zu machen, bräuchte es aber eine beherzte Regie mit Interesse an mehr als nur der großen Geste.

Klar, die Anforderungen an Alexander Hauer sind enorm. Er muss von einer riesigen Bühne aus eine riesige Tribüne erreichen, mit dem prächtigen Stift als ständiger Konkurrenz. Auf Humor als Crowdpleaser kann er nicht zurückgreifen, und der lokale Laienchor "Bühne frei!" will auch beschäftigt werden. Also drückt Hauer auf die Tube. Er lässt Rizzo unmotiviert die Hände gen Himmel strecken, Blaha nach einer Schimpftirade gegen die Nebenbuhlerin abrupt zu Boden sinken, alle anderen fotogen übers wacklige Baugerüst klettern. Dabei tönen fast alle Sätze, als wären sie die letzten vor dem Tode. Das lähmt gehörig und macht die handelnden Personen hohl, haben sie doch nichts als ihren Text, mit dem sie aber nichts machen dürfen. Nur Sophie Prusa als Tochter Tashmetu und Kajetan Dick als Krieger Sargaz erlauben sich Ausbrüche aus der Monotonie.

Hauers Theater zielt darauf ab, für halb aufmerksames Publikum wie ganz großes Theater zu klingen und auszusehen. Wie ein Passionsspiel. Das Stück über den sperrigen Babel-Stoff dagegen ist wie der dortige Turm: ausbaufähig.

 

Babylon
von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel
Uraufführung
Regie: Alexander Hauer, Regie-Mitarbeit: Ursula Leitner, Bühne: Daniel Sommergruber, Kostüm: Julia Klug, Musik: Gerald Huber-Weiderbauer, Christoph Richter, Maske: Beate Lentsch-Bayerl, Licht: Dietrich Körner, Ton: Bernhard Sodek.
Mit: Dagmar Bernhard, Maxi Blaha, Kajetan Dick, Rafael Haider, Christian Kainradl, Ursula Leitner, Max Niemeyer, Sophie Prusa, Giuseppe Rizzo sowie dem "Bühne frei!"-Ensemble: Wilhelm Amreiter, Jennifer Baumgartner, Daniela Frey, Ferdinand Fuchsbauer, Siliva Maria Hieber, Katharina Hobiger, Elisabeth Hössl, Flora Königsberger, Erich Lechner, Robert Olah, Jutta Renner, Valerie Sieberer, Bea Strobl, Andreas Zimmerl.
Premiere am 19. Juni 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.wachaukulturmelk.at/de/sommerspielemelk

 

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