Münchhausen - Volksschauspiele Ötigheim
Geliehenes Glück
von Harald Raab
Ötigheim, 22. Juni 2019. Große Sprüche, große Bilder, große Kulissen, großes Gewoge von Menschenmassen, mit Pferden, einem Esel und einem Monster. Ein bunter Rausch von Kostümen, Reifröcken, Perücken, russischen und orientalischen Trachten, Musketen und einer Kanone. Es knallt und kracht, pyrotechnischer Bühnenzauber, Musik, Tanz und Gesang. Volkstheater, ausgereizt bis zum Geht-nicht-mehr. Nicht kleckern, sondern klotzen. Ein Megaspektakel im oberrheinischen Ötigheim für einen fantastischen Aufschneider, den Baron Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen. "Sein wahres Leben in 15 Lügengeschichten nach einer Vorlage von Erich Kästner". So steht's im Untertitel des Freilichttheaters auf der Volksschauspielbühne in einer ehemaligen Kiesgrube.
Theater im freien deutschen Licht
Wenn die Sonne gesunken ist und es nicht heftig regnet, erwachen sie überall zu einem bunt-dramatischen Leben – nicht nur in Ötigheim: Deutschlands Sommertheater. Ob in Parkanlagen oder am Seeufer, ob in Steinbrüchen oder in romantischen Burgruinen und an anderen außergewöhnlichen Orten: Freilichtaufführungen sind eine deutsche Spezialität. Über 100 solcher Bühnen gibt es in deutschen Landen, auffallend viele davon im Südwesten, in Baden-Württemberg und in Bayern. Meist sind es Laientruppen, die ohne Gage, aber mit viel Leidenschaft und oft erstaunlichem Können zugange sind. Beim Further Drachenstich im Bayerischen Wald etwa, beim Hornberger Schießen im Schwarzwald, auf der Freilichtbühne Wagenfeld in Niedersachsen. Dort wird Plattdeutsch gesprochen.
Das größte dieser Amateur-Spektakel jedoch findet wenige Kilometer von Karlsruhe entfernt statt – in dem 4.700-Einwohner-Ort Ötigheim, im Landkreis Rastatt. Zwischen 400 und 600 Mitwirkende auf und hinter der Bühne. So ein Engagement muss man erst einmal aufbringen. Mehr als 100 Jahre reicht die Theatertradition zurück. Begründet hat sie ein Pfarrer, um der wachsenden Verrohung der Dorfgemeinschaft kulturell Einhalt zu gebieten.
Das Kalkül geht noch heute auf. Viele Familien im Ort sind beteiligt. Man ist stolz auf so manche Prachtrolle, manches Talent, das sich darin beweisen kann. Der gebotene Mix aus einem Lustspiel, einem Klassiker und einem Kinderstück lockt Zuschauer aus Nah und Fern an. 4.000 überdachte Plätze warten auf ein gut gelauntes Publikum. Heuer im Programm: Schillers "Räuber", "Der gestiefelte Kater" und eben "Münchhausen".
Kästner, Albers, Brecht
Gespielt wird nach dem UFA-Film von 1943 mit Hans Albers in der Titelrolle. Die Bertolt-Brecht-Enkelin Johanna Schall hat diesen Plot für die Bühne adaptiert – und reichlich ausgebaut. Statt einem Staraufgebot wuchert sie mit dem Pfund, das ihr die Ötigheimer reichlich bieten: ein schier unglaubliches Engagement und die erfrischende Naivität einer Theaterbegeisterung, die nur Liebhaber aufzubringen vermögen. Sie erobern, sozusagen, "die Herzen des Publikums im Sturm", sie "entführen in eine magische Welt der unglaublichsten Abenteuer" – ein Schuss Kästnersche Lebensphilosophie inbegriffen: "Das Glück wird uns vom Schicksal nicht geschenkt. Es wird uns nur geliehen."
Eine große Geschichte wird da erzählt. Es gibt viel zu lachen, Spannung und etwas Melancholie. Die Bühne ist 170 Meter breit, die Aufbauten sind 25 Meter hoch. Jedes Detail ist präzise ausgearbeitet. Sebastian Kreutz verkörpert den ollen Baron Münchhausen, ausgefuchster Erzähler, der alle Tricks kennt, mit denen man sein Publikum bei der Stange hält: mit Schalk, Chuzpe und Grandezza.
Sprechendes Pferd, Kanonenkugel, Seefahrt
15 Lügengeschichten, eingebettet in ein bisschen Biographisches des alten Haudegens. Erzählt wird im Schloss Bodenwerder, dem Stammsitz derer von Münchhausen. Braunschweig, Kurland, der Zarenhof in St. Petersburg, ein Märchenorient samt Sultan und Prinzessin. Die Frauen fliegen auf den schicken Offizier. Ein sprechendes Pferd und sein treuer Diener Kuchenreutter (burlesk und bodenständig Paul Hug) begleiten ihn.
Auch den ziemlich unwahrscheinlichen Ritt auf der Kanonenkugel gibt es. Ein Meisterstück der Bühnenmagie. Es knallt zweimal, einmal beim Abschuss der Kanonenkugel, auf der der Baron Platz genommen hat, und ein zweites Mal als die Kugel samt ihrem Passagier einige Meter weiter einschlägt. Immer wieder jagen Reiter im gestreckten Galopp über die Naturbühne. Selbst eine stürmische Seefahrt muss nicht fehlen. Zu guter Letzt die Landung auf dem Mond mit einem Ballon. Die Erde leuchtet als blaue Kugel im Hintergrund. Die Theaterillusionstechnik ist vom feinsten.
Mit ihrem opulenten Konzept geht es der Regisseurin um eine gute Story, die spannend erzählt und mit Leichtigkeit und Witz in Bilder verwandelt werden muss. Das gelingt ihr mit ihrer unerschöpflich engagierten und ebenso talentierten Truppe ganz vorzüglich. "Ich bin ein Träumer", singt Münchhausen in einer großen Schlussapotheose – und alle auf der Bühne stimmen ein. Ein verzaubertes Publikum dankte mit einem Riesenapplaus für dieses Sommertheater-Erlebnis.
Münchhausen
nach einer Vorlage von Erich Kästner
Regie: Johanna Schall, Kostüme: Jenny Schall, Regieassistenz und Spielleitung: Luisa Schoenemann, Musikalische Leitung / Großer Chor: Matthias Hammerschmitt; / Jugendchor: Maria Bagger; Choreografie: Andrei Golescu, Julia Krug Berlin; Kostümanfertigung und Kostümwerkstatt: Anja von Lenski; Bühne: Bettina Scholzen; Soufflage: Anita Mancino; Reiterinspektion Simone Fettig, Jutta Kühn; Gespannfahrer: Gustav Schäfer; Pferdedressur, Pferdestunt, Stuntteam: Sandor Czirjak, Stephanie Kröcker, Andreas Wolter, Nina Wolter.
Mit: Sebastian Kreutz, Lissi Hatz, Elisabeth Hug, Paul Hug, Anna Hug, und 42 weitern Mitwirkenden, dazu zwei Chöre Cho, Tanzgruppe und Reiterei plus Mandolinen- und Gitarrenorchester und einem Großaufgebot von Statisten.
Premiere am 22. Juni 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.volksschauspiele.de
Von "einem Schwindel in 15 Bildern erfassen" ließ sich Sibylle Orgeldinger von den Badischen Neuesten Nachrichten (o.D.). Lobend erwähnt sie die Naturkulisse, das opulente Bühnenbild, und die Pyrotechnik, rückt dann neben den "rund 300 engagiert spielenden, tanzenden, singenden und musizierenden Mitwirkenden" die Regisseurin und der Hauptdarsteller in den Fokus: Münchhausen-Spieler Sebastian Kreutz, von 1998 bis 2011 am Badischen Staatstheater Karlsruhe engagiert, habe dort mit Johanna Schall "mehrfach erfolgreich zusammen" gearbeitet, so Orgeldinger. Ihnen gelinge, in das "Spektakel im besten Sinne des Wortes" eine "melancholische Note einzubringen", wenn Münchhausen am Ende sein Traum vom ewigen Jungbleiben schal erscheine. Schließlich basiere das Stück auf dem UFA-Film mit Erich Kästners pseudonym verfasstem Drehbuch: "prachtvolle Unterhaltung, während der Zweite Weltkrieg seinem bitteren Ende entgegenging".
Vor allem die Schauspieler*innen lobt Thomas Weiss vom Badischen Tagblatt (24.6.2019): "Auch wenn die von Johanna Schall geschickt geleitete Aufführung mit Augenfutter nicht geizt", schreibt Weiss, obgleich die farbenprächtigen Kostüme von Jenny Schall die unterschiedlichen Szenen "geschickt illustrieren" und die Tanzgruppen wie auch die Reiterei der Volksschauspiele Ötigheim "für viel Szenenapplaus sorgen, so trägt doch Sebastian Kreutz mit Unterstützung seiner Kollegen und Kolleginnen dank seiner Bühnenpräsenz und der Ausstrahlung das Stück". Auf Deutschlands größter Freilichtbühne vermöge Kreutz "jeder noch so fantastischen Geschichte des Lügenbarons ein Körnchen Wahrheit zu entlocken".
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