Wo Polly mit dem Rhönrad kommt

von Thomas Rothschild

Heidelberg, 23. Juni 2019. Wer heute "Die Dreigroschenoper" inszeniert, hat es nicht leicht. Mit ihren neunzig Jahren auf dem Buckel ist sie längst ein "Klassiker" und trifft auf berechenbare Erwartungen. Macht man eine Show daraus, zürnen die Brechtianer über die unzulässige Trivialisierung. Versucht man, ihren ursprünglichen gesellschaftskritischen Impetus zu rekonstruieren, versichern die Modernisten, der sei längst veraltet und ziele an unserer Gegenwart vorbei.

Von Weill, nicht von Brecht

Der Wiener Kabarettist Gerhard Bronner meinte einst, "Die Dreigroschenoper" sei von Kurt Weill und nicht von Bertolt Brecht, wie ja auch "Der Rosenkavalier" als Oper von Richard Strauss und nicht von Hugo von Hofmannsthal gelte. Diese provokante Betrachtungsweise verdankte sich Bronners Abneigung gegen den Kommunisten Brecht, aber dass der anhaltende Erfolg des Schlagers von 1928 nicht zuletzt der schmissigen Musik geschuldet ist, lässt sich nicht leugnen. Sie hat schon mancher mittelmäßigen Inszenierung über die Runden geholfen. Und wer sich Bronners Auffassung anschließt, ist aus dem Schneider. Ein Werk von Kurt Weill darf, Brecht ungeachtet, als Musical daherkommen wie zehn Jahre später Knickerbocker Holiday.

Dreigroschenoper0166 560 Sebastian Buehler u"Diamonds are a girls ....?" Sheila Eckhardt als Polly Peachum, changierend irgendwo zwischen Marilyn und Madonna, mit ihrer Boy-Group Bernd Hillgärtner, Dietmar Nieder, Andreas Seifert, hinten Dominik Dittrich Klavier und Gary Fuhrmann Klarinette    © Sebastian Bühler Das dürfte sich auch der Hausherr des Theaters und Orchesters Heidelberg gedacht haben, als er die Regie für "Die Dreigroschenoper" übernahm. Und auch dies: "Die Dreigroschenoper" benötigt keine Sänger. Aber sie braucht Schauspieler, die singen können. In Heidelberg können sie singen, und damit ist der lange, begeisterte Schlussapplaus bereits vorprogrammiert.

Spider-Man, Liza Minelli und H. C. Strache

Den Show-Charakter definieren die Musiker von Anfang an. Sie treten mit Masken und Trikots von Zirkusakrobaten auf, als Konkurrenten von Spider-Man. Sie spielen jeweils mehrere Instrumente, die der Besetzung der Uraufführung wie dem Sound des damals beteiligten Orchesters von Theo Mackeben sehr nahe kommen. Während des berühmtesten Songs, der "Moritat von Mackie Messer", der als Dixieland-Nummer verarbeitet wird, dürfen sich die Darsteller in knallbunten Kostümen vorstellen wie – ja eben wie in einer Revue, ehe sie wie tot zu Boden fallen und auf ihren Einsatz warten.

Zum Revue-Charakter tragen auch diverse Anspielungen auf die Trivialkultur bei. Polly Peachum sieht aus wie Marilyn Monroe und die Spelunkenjenny wie Liza Minelli. Dass Macheath physiognomisch an den gestürzten österreichischen Vizekanzler H. C. Strache erinnert, dürfte Zufall sein. Was hätte Strache mit einem Kriminellen gemeinsam? Der Pastor Kimball fiele mit seiner kleinen Rolle kaum auf, wenn er nicht eine Monstranz als Hut trüge. Nach der Pause rollt Polly im Rhönrad in den Kerker, in dem Mackie Messer auf seine Hinrichtung wartet, und der reitende Bote des Königs kommt als Retter im letzten Moment zusammen mit Hochwürden nicht etwa auf einem Pferd, sondern auf einem Schwan. Obwohl er, genau genommen, mit Lohengrin nicht viel mehr zu tun hat als Mackie mit Strache.

Drei Sätze Kapitalismuskritik

Die Songs lässt Schultze durchaus einsichtig mal in klassischer Konzertmanier ("Die Seeräuber-Jenny"), mal mit groteskem Tanz ("Der Kanonensong"), mal als Crescendo des nach und nach auftretenden Ensembles ("Wovon lebt der Mensch?") vortragen. Das dialogische lyrische Liebeslied "Siehst du den Mond über Soho?" singen Macheath und Polly wie einen Trapezakt oder auch wie entfernte Verwandte von Peter Pan. Eine Einladung zur komischen Umsetzung liefern Text und Musik des "Eifersuchtsduetts". Sheila Eckhardt als Polly und Katharina Wittenbrink als Lucy nützen, sehr zur Freude des Publikums, das Angebot.

Dreigroschenoper0446 560 Sebastian Buehler uUltracooles Paar in der Turbine: Sheila Eckhardt als Polly und Steffen Gangloff als Macheath  © Sebastian Bühler
Das Bühnenbild beschränkt sich auf konzentrische weiß, selten auch rot reflektierende Kreise, die sich zwischendurch in eine Art Turbine verwandeln. Die Hinrichtung Mackie Messers wird auf einem erhöhten Podium vorbereitet. Da steht er, mit einer Schlinge um den Hals. Ehe er aber gerettet wird, verkündet er: "Wir kleinen bürgerlichen Handwerker, die wir mit dem biederen Brecheisen an den Nickelkassen der kleinen Ladenbesitzer arbeiten, werden von den Großunternehmen verschlungen, hinter denen die Banken stehen. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?"

Hand aufs Herz: Sind es nicht diese paar Sätze, die der "Dreigroschenoper" den Ruf eines antikapitalistischen Gleichnisses eingebracht haben? Damit können auch die Liebhaber einer Revue leben. Wenn es einen so unterhaltsamen Abend gibt wie jetzt in Heidelberg. "Die Dreigroschenoper" ist ein Selbstläufer, sogar bei Aktienbesitzern und Bankengründern. Die Nachfrage nach Karten war schon vor der Premiere so groß, dass der Beginn des Vorverkaufs für Aufführungen im September und Oktober vorgezogen wurde.

 

Die Dreigroschenoper
von Bertolt Brecht. Musik von Kurt Weill
Regie: Holger Schultze, Musikalische Leitung: Dominik Dittrich, Choreographie: Christina Comtesse, Bühne und Kostüme: Lorena Díaz Stephens, Jan Hendrik Neidert, Chordirektion: Ines Kaun, Dramaturgie: Maria Schneider.
Mit: Hans Fleischmann, Katharina Quast, Sheila Eckhardt, Steffen Gangloff, Matthias Luckey, Katharina Wittenbrink, Andreas Seifert, Sebastian Strehler, Dominik Dittrich, Benjamin Leibbrand, Hajo Cirkensa, Dietmar Nieder, Claudia Renner.
Premiere am 23. Juni 2019
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

"Mit viel Herz und Biss, als ebenso turbulentes wie hintergründiges Spiel" inszeniere Holger Schultze die "Dreigroschenoper", so Eckhard Britsch im Mannheimer Morgen (25.6.2019). "Die politischen, ja durchaus aktuellen Nuancen sind vorhanden, aber sie werden nicht mit dem Holzhammer, sondern eher subkutan verabreicht. Das passt ausgezeichnet." Die Spielfreude  sei unübersehbar, die Figurenzeichnung immer stimmig und ein besonderer Glücksgriff sei mit der Musik gelungen.

"Polly kann so schön pampig sein", ist Volker Oesterreichs Text in der Rhein-Neckar-Zeitung (25.6.2019) überschrieben. Sexappeal haben die schmissigen Songs des Stücks auch für Heidelbergs Intendanten Holger Schultze, der seit langem als Brecht-Experte bekannt sei. Kurz vor dem Saison-Finale wage er etwas Neues: "Bei ihm rundet sich 'Die Dreigroschenoper' zur Nummern-Revue inmitten der Leuchtkringel des Ausstattungs-Duos Lorena Díaz Stephens und Jan Hendrik Neidert." Sie seien Herrin und Herr der Ringe eines Showrooms, "in dem meistens der Schwarzweiß-Kontrast dominiert, um die knallig bunte Wirkung der großartig designten Kostüme zur Geltung zu bringen". 

"Plötzlich hat man eine Dreigroschenoper, die jetzt nicht direkt gegen die AfD gerichtet ist, aber zumindest so präzise und in der Gegenwart angekommen ist, dass das nur guttut", so Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (23.6.2019). Es sein ein "bunter, abwechslungsreicher" Abend.

Gut unterhalten fühlte sich auch Daniel Stender von SWR2 (24.6.2019). Im Zentrum stünden die Songs. Man merke den Schauspielern die Freude an Brechts Oper an.

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