Fünfzehnter Brief

"Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." (Friedrich Schiller)

Der spielende Mensch

von Olga Grjasnowa

29. Juni 2019. Was ist ein spielender Mensch? Im Prinzip ist er unser Zeitgenosse. Ein Hipster. Ein RTL2-Zuschauer. Einer von der Latte-Macchiato-Fraktion, wie es sie nur noch in der Provinz gibt. Viele Mutmaßungen über ihn und sie stehen im Raum. In Zeiten der Selbstoptimierung, in denen selbst das Aufräumen zu einem Event mit therapeutischer Wirkung erhoben wird, hat das Spiel etwas zutiefst archaisches und zugleich zeitgenössisches. Es handelt sich um verschwendete, nicht genutzte Zeit. Einer der wenigen verbliebenen Freiräume. Das Spiel ist heute allgegenwärtig: Candy-Crush-Saga auf den Handys, Brettspiele für Erwachsene, Instagram, die Kommentarspalten der Zeitungen – und dennoch haben diese Spiele nichts mit "Schönheit" zu tun. Eigentlich auch nichts mit dem Spiel, zumindest mit dem intellektuellen. Die Schönheit geht uns verloren. Vielleicht nehmen wir sie nicht ernst genug. Womöglich haben wir sie einfach verspielt.

Doch was ist denn mit dieser "Schönheit" gemeint? Wie ist diese definiert? Gerade heute wird der Schönheitsbegriff pluralistisch ausgelegt, und das ist eine sehr gute Entwicklung. Schiller verstand unter der Schönheit womöglich die Hochkultur, das Intellektuelle, Sperrige, Kunstvolle, das nicht Marktkonforme und nicht unbedingt den "bürgerlichen Mief", mit dem sie heute zumeist suggeriert wird. Schillers Schönheit ist der ästhetische und intellektuelle Anspruch, den er der Kunst abverlangt: eine globale Kultur, als eine Technik und zugleich die geistige Reife, die uns ermöglicht, unsere Leben, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und uns selbst zu hinterfragen und gedanklich zu erfassen, die Erkenntnisse in Bilder zu übertragen und diese zu gestalten.

Tatsächlich ist auch die Kunst heute viel verspielter, als Schiller es sich hat träumen lassen. Sie ist auch vielfältiger und vielleicht sogar demokratischer. Gleichzeitig wird nun auch viel öfter behauptet, dass wir die Kunst nicht mehr brauchen, oder zumindest haben wir sie nicht in ihrer "künstlerischen" Form nötig.

ImmernochBarbaren3D CoverDie Hochkultur gerät immer mehr in Verruf, oder besser gesagt, allmählich setzt sich in manchen Theaterbetrieben die Meinung durch, das Theater soll doch bitte für Menschen gemacht werden – diese Forderung klingt so, als ob das Theater bisher für Nagetiere gemacht wurde, die unter den Sitzbänken sich noch ein wenig Hochkultur antun wollten. Volksnah soll es wieder auf den deutschen Bühnen zugehen. Diese "Volksnähe" suggeriert zwar Demokratie, meint aber fast immer ein völliges Unvermögen, ein Fehlen von jeglicher theatraler Ausbildung und jeglicher Technik, selbst der schlechtesten. Die Forderungen nach dem Unterkomplexen werden vor allem laut, wenn es darum geht, Diversität auf der Bühne zuzulassen. Dies geschieht oft paternalistisch: Geflüchtete Künstler*innen werden ausgebeutet, ihre Geschichten exotisiert, aber die Machtpositionen verändern sich nicht. Macht wird nicht geteilt, Wissen abgewertet. Schlechte Kunst und mangelndes Talent ersetzen die Form und bevormunden die Zuschauer*innen, indem sie gesellschaftliche Verhältnisse reproduzieren und den Zuschauer*innen vor Augen führen, dass schlechte Kunst einen Migrationshintergrund hat. Die bildende Kunst und die klassische Musik sind dem Theater hier Jahrzehnte voraus. Wir brauchen eine freie Kultur und wir brauchen nicht weniger, sondern mehr von ihr. Aber wir brauchen auch eine Kultur, die sich ihrer selbst bewusst ist, ihrer Geschichten, Techniken und Traditionen – global und durch alle Epochen hindurch. Die Schönheit ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen und sie wird erst auf gleicher Augenhöhe sichtbar. Dazu gehört auch, dass wir andere Traditionen respektieren, in Schulen und Universitäten auf den Lehrplan setzen, unterrichten und versuchen zu verstehen.

Spielen muss man können und es schadet nicht, ein paar Spielregeln zu kennen – das kann nicht durch eine vermeintlich exotische Biografie ersetzt werden. Form, Ideal, Logik, Moral*, Prinzipien, Anstand – das alles wird zugunsten von Dilettant*innen abgeschafft.**

Zugleich wird aber auch die künstlerische Bildung immer mehr ins Abseits gedrängt. Musik und Kunst sind die unwichtigsten Fächer in den Schulen, die Lehrkräfte schon fast belächelt. Schiller fordert die Teilnahme eines Menschen an der Kultur. Nein, eigentlich sagt er, dass die Voraussetzung für das Menschsein die Teilhabe an der Kultur sei. Natürlich hat er völlig recht: Wir brauchen auch eine Bildung, die unabhängig von der Herkunft und dem Einkommen der Eltern stattfindet. Denn wir müssen nicht nur den Erwachsenen, sondern und vor allem den Kindern den Zugang zu dieser ermöglichen. Weshalb kann man nicht die Musikschulen verstaatlichen? Und auch die Tanzschulen und Malkurse? Weshalb sollte Kunst das Privileg einiger weniger sein?

* Zugegeben, auch Schiller hätte gerne weniger von ihr.
** Dies ist allerdings auch der Literatur nicht fremd, in einem offenen Brief prangerten Buchhändler kürzlich die Literaturkritik an, sich ein ästhetisches und moralisches Urteil bilden zu wollen und sich dabei über den Markt zu erheben. (Aufgerufen von: https://www.boersenblatt.net/2019-02-27-artikel-debatte_um____stella___.1613841.html)

 

 

Der Text ist Teil des Bandes Immer noch Barbaren? Neue Briefe 'Über die ästhetische Erziehung des Menschen', inspiriert von Friedrich Schiller, den Juliane Hendes und Christian Holtzhauer anläßlich der 20. Internationalen Schilltage am Nationaltheater Mannheim herausgegeben haben. Dafür luden sie 27 internationale Autor*innen ein, sich mit Schillers 27 Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" auseinderzusetzen und die Frage "Wozu Kunst?" für unsere Zeit zu beantworten. Der Band erschien im Wunderhorn Verlag (154 Seiten, 20 Euro).

Olga Grjasnowa
, geboren 1984 in Baku/Aserbaidschan, ist Schriftstellerin. Für ihren vielbeachteten Debütroman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. 2014 erschien "Die juristische Unschärfe einer Ehe", 2017 folgte "Gott ist nicht schüchtern". Die beiden ersten Romane wurden am Berliner Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert, "Gott ist nicht schüchtern" ist für 2020 am Berliner Ensemble geplant.

www.nationaltheater-mannheim.de

 
 

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