Falafel mit Senfsoße

von Michael Laages

Jena, 5. Juli 2019. Einmal im Jahr, wenn das Theaterhaus Teil vom "Kulturarena"-Festival in Jena ist, rückt das Publikum raus unter den freien Himmel, auf eine Tribüne auf dem Theatervorplatz. So auch am Ende dieser ersten selbstverantworteten Saison des niederländischen Wunderbaum-Kollektivs. Und Wunderbaum zeigt auch hier, was es in Jena will und was es kann.

Multikulti-Krach im Fahrradladen

Das schräge, schrille und schnelle Spektakel hat sich vom SPD-Politiker Peer Steinbrück den flotten Titel ausgeliehen: "hätte hätte Fahrradkette" spielt tatsächlich im Fahrradladen. Der gehört Herrn Hans. Und dessen Angestellter Abdo, aus Syrien geflüchtet, erhält gerade Besuch von zwei Landsleuten, die in den Niederlanden untergekommen sind. Weil Abdo aber daheim ein Top-Ingenieur war und jetzt in Deutschland nicht als billiger Hilfsarbeiter erscheinen will, tut er so, als gehöre ihm der Laden, als sei Herr Hans der Angestellte und er, Abdo, der Chef. Eine Weile geht das gut, das sprachliche Durcheinander hilft; erst als Herr Hans die gemütlichen Teetrinker als Gäste gern auch mal wieder los wäre, droht Krach.

haette Fahrradkette 2 560 JoachimDette uVerliebt im Fahrradladen: Ramez Basheer und Henrike Commichau, hinter der Scheibe: Ahmad Al Harfi © Joachim Dette

Außerdem haben zwei bio-niederländische Touristen, im Wohnwagen unterwegs und mit Regenjacken über Sandalen mit Socken ausgestattet, im Laden von Abdo und Herrn Hans Elektro-Fahrräder gemietet, sind nun mit denen nicht zufrieden und wollen "den Chef" sprechen. Und wer ist der Chef? Lange hält Abdo durch, bis die Fiktion platzt.

Klischee-Sitcom

Trickreich mischt die Fabel alle verfügbaren Klischees: über den zunächst gutwilligen, dann exzessiv genervten Deutschen, über die Holländer aus dem Bilderbuch (devoter Mann, herrschsüchtige Gattin), über die geflüchteten Syrer: Abdo ein selbstbewusst-gewitzter Karrierist, Said ein frecher Clown voller Vorurteile über den Rest der Welt, Aziz ein Träumer, der nicht küssen kann, weil er nicht küssen darf; die Frau würde davon erfahren. Blöderweise verliebt sich Fahrradhändlers Töchterlein gerade in ihn und will mit ihm zur Selbstverwirklichung nach Nepal fliehen – so kommt noch gehörig mehr an Fahrradkettenstress ins köchelnde Pulverfass.

Um dramaturgisch noch etwas komplexer zu machen, ist die ganze Fabel fürs Fernsehen erfunden. Eigentlich wird hier eine "Sitcom" gedreht, eine Art Vorabendserie fürs allarabische Fernsehen; Al-Jazeera gehört zu den Förderern. Gedreht wird mit deutschem Team und exil-irakischer Regisseurin; mehr Konfliktstoff geht nicht.

Der blödeste aller Schlüsse

Und sehr lange gelingt es dem Theaterhaus-Ensemble wie dem "Wunderbaum"-Team, die vertrackten Bilder-Welten auseinander- und damit das Stück zusammenzuhalten. Gelegentlich wird reflektiert – etwa darüber, ob Abdo nicht einen viel zu hellen, also "unarabischen" Vollbart trägt. Der deutsche Teil vom Ensemble stellt sich in einer Art Sprach-Menuett selbst die Frage, ob Deutsche überhaupt Humor haben.

Und nach einer wirklich extrem unterkomplexen Klamotten-Szene (in der beim Besuch der arabischen Gäste im Wohnwagen der Holländer das Bio-Klo die Hauptrolle spielt) beginnen die Syrer zu räsonieren, in welchem Seifenopern-Schwachsinn sie hier gerade welche Rollen spielen. Sie drohen mit Ausstieg aus dem Ensemble – was den (deutschen) Produzenten dazu zwingt, alle mit allen ins Gespräch zu bringen. Und nach allgemein wohlwollendem Palaver spielen sie einander dann den blödesten aller Schlüsse vor: Aziz soll nun angeblich ein Kämpfer vom IS sein, Herr Hans rastet aus und mutiert zum ortsüblichen Wutbürger; die Polizei kommt, verhaftet aber (weil alle sich für Aziz einsetzen) vorsichtshalber Herrn Hans – jetzt bekommt Aziz die Tochter, und Abdo wird den Laden weiter führen. Die Bio-Holländer beenden sogar den Ehekrieg.

haette Fahrradkette 1 560 JoachimDette uVon Al-Jazeera gefördert: Walter Bart und Maartje Remmers live und auf der Leinwand © Joachim Dette

Das Finale knirscht und knarrt an allen Ecken und Enden. Aber bis kurz davor gelingt tatsächlich eine Farce mit Tiefgang – und wirklich scharfen Pointen. Mal sind die politisch-historisch: wenn Frau Anneke aus Holland nach einem Fahrrad-Unfall auf dem Weg zur Gedenkstätte bei Weimar sagt, dass sie "in Buchenwald beinahe gestorben" wäre; schon vorher hatte sie sich das Elend der geflüchteten Syrer mit Heulen und Zähneklappern angeeignet, als wäre sie selbst fast ersoffen im Schlauchboot auf dem Mittelmeer.

Andererseits forciert "Wunderbaum" die Multikulti-Farce – wenn die Frau vom Catering als Arie zu Flöten-Musik die Speisekarte singt: "Koriander-Frikandel" (so heißt "Bulette" auf holländisch), Thüringer Knödel mit Halloumi-Füllung und "Falafel mit Senfsoße" … echt lecker.

Mit Stars aus Syrien

Echt grandios sind die drei Syrer, alle einst bewährte Schauspieler auf Bildschirm und Bühne daheim: Bassam Dawood aus Homs sowie die beiden Damaszener Ahmad Al-Harfi und Ramez Basheer. Mit Ramez Basheer singt Inaam Wali-Al Battat, Regisseurin aus dem Irak, eine jenseits allen Ulks extrem berührende Geschichte: von der Flucht und vom Leiden an den Lügen über die Hoffnung, die nie stirbt.

Sie alle markieren die großen Chancen, die heimische wie holländische Schauspielerinnen und Schauspieler nutzen können, wenn sie sich einlassen auf fremdes Spiel. Fürs Jena-Ensemble schlagen sich Henrike Commichau, Mona Vojacek Koper und Pina Bergemann, Andre Hinderlich und Leon Pfannenmüller lust- und kraftvoll; und die "Wunderbaum"-Protagonisten Maartje Remmers und Walter Bart sind Knüller für sich. Die Band im ersten Stock des richtig in die Tiefe greifenden Bühnenraumes vom vielbeschäftigten Wahl-Thüringer Maarten van Otterdijk ist sowie ein Ereignis.

Wie überhaupt dieses erste Jahr von und mit "Wunderbaum" in Jena ein starkes Beispiel war und ist für all das, was über Grenzen geht – Grenzen der Sprachen, der Traditionen, der Kultur. Unter diesen Grenzen nämlich breitet sich Wurzelwerk aus, das verbindet. Auch "Wunderbaum" schlägt Wurzeln in Jena.

Übrigens wird "hätte hätte Fahrradkette" im September in Rotterdam gezeigt. Spielen dort dann Deutsche die holländischen Touristen? Und was heißt dort eigentlich "Fahrradkette"?

 

 

hätte hätte Fahrradkette
von Wunderbaum
Konzept und Regie: Wunderbaum, Co-Regie: Matijs Jansen, Bühne und Licht: Maarten van Otterdijk, Kostüme: Cornelia Stephan, Musik: Jens Bouttery, Ward Espir, Dramaturgie: Thorben Meißner, Live-Video: Terence Marowsky, Thai Tai Pham, Arabische Übertitel: Maged Al Din Afaghani.
Mit: Ahmad Alharfi, Walter Bart, Ramez Basheer, Pina Bergemann, Henrike Commichau, Bassam Dawood, André Hinderlich, Mona Vojacek Koper, Leon Pfannenmüller, Maartje Remmers, Inaam Wali Al-Battat, Musiker: Jens Bouttery, Ward Espir, Ahmed Hajjar, Saleh Katbeh.
Premiere am 5. Juli 2019
Eine Koproduktion mit dem Theater Rotterdam.

www.theaterhaus-jena.de


Kritikenrundschau

In diesem Abend "widmet sich das Jenaer Theaterhaus mit tollkühnem Humor und irrwitziger Story dem Thema Zuwanderung", berichtet Ulrike Merkel in der Ostthüringer Zeitung (online 6.7.2019). Das Theaterkollektiv Wunderbaum "eröffnet mit dem Stück eine vieldimensionale Gedankenspirale und enttarnt kulturelle Überlegenheitsgefühle und Empa¬thielosigkeit, die in Orient wie Okzident gepflegt werden".

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