Spiel mit dem Feuer

von Steffen Becker

Worms, 12. Juli 2019. Bei den diesjährigen Nibelungenfestspielen lernt das Publikum: Königin Brünhild kommt gar nicht aus Island, sondern aus Isenburg an der Ruhr. Der Drache, in dessen Blut Siegfried angeblich gebadet hat: Nur eine Echse. Das riecht nach Sakrileg – und in der Tat haben Autor Thomas Melle und Regisseurin Lilja Rupprecht vor dem Wormser Dom nichts anderes vor, als den Stoff hops zu nehmen.

"Überwältigung" fragt danach, ob die Katastrophe wirklich Schicksal war. Der zum Finale der Sage getötete Ortlieb, Sohn von Kriemhild, hält als eine Art Geist eine Tirade gegen die Welt der Erwachsenen, die ihm kein Leben gegönnt hat. Im blutigen Pyjama (mit Drachenmotiven) erlebt Lisa Hrdina die Schlüsselszenen der Geschichte erneut. Naiv, trotzig und wütend kommentiert er sie, aber (Spoiler!): Die Nibelungensaga ist pure Politik – Bündnisse, Intrigen, falsche Versprechungen. Wer hört da schon auf die Stimme der Jugend.

Leiter hoch, Leiter runter

Dabei erweckt die Inszenierung vordergründig durchaus den Eindruck, dass auch alles anders hätte sein können. Das Bühnenbild ist mit weißem Stoff abgedeckt. Man wartet regelrecht darauf, dass darunter eine andere Realität sichtbar wird. Der Bühnenaufbau erinnert zudem an ein Leiterspiel, bei dem die Figuren mehrere Ebenen nach oben gelangen, aber auch wieder abstürzen können – wenn nur die Würfel etwas anders fallen.

Ueberwaeltigung1 560 DavidBaltzer uVorne Kathleen Morgeneyer als Kriemhild und Klaus Maria Brandauer als Hagen. Auf der Leinwand Lisa Hrdina als Ortlieb und Edgar Eckert als Spielmann © David Baltzer
Auch die Figuren der Inszenierung sind auf Gegenrealität gebürstet. In den Nebenrollen tauscht Regisseurin Rupprecht die Geschlechter. Andreas Leupold gibt eine resignierte Königinmutter Ute, Winfried Küppers eine männerhassende Brünhild-Amme Frigga. Siegfried hat einen ersten Auftritt, der an eine arrogante Drag Queen in Glitzerrüstung erinnert. Alexander Simon tut auch im weiteren Verlauf gekonnt alles, damit man seinen Siegfried nicht als Held, sondern für einen wenig sympathischen Aufschneider hält, der die politische Dimension seiner Handlungen nicht durchdringt.

Ein Mastermind, viele Schwächlinge

Auf politische Anspielungen legen Melle und Rupprecht auch den Schwerpunkt des Stücks. Die Hunnen sind Chiffre für Bedrohungen der eigenen Macht. Während Kriemhild sich nach einem Umbruch sehnt (den sie in Siegfried zu erkennen glaubt) propagiert Hagen Abwehr jeglicher Veränderung. Da es zwischen diesen Gegenteilen keinen denkbaren Ausgleich gibt, kann auch die alternative Familien-Aufstellung von "Überwältigung" zu keinem guten Ende führen.

Eine Sonderrolle nimmt dabei Klaus Maria Brandauer als Hagen ein. Er übernimmt teilweise die Rolle eines Erzählers. Einerseits, klar: Der Mann ist das Zugpferd, ein auf ihn zugeschnittener Part braucht Raum. Aber diese Zurschaustellung als Mastermind, der alle menschlichen und politischen Mechanismen durchschaut, verfolgt auch einen tieferen Sinn. "Überwältigung" lässt ordentlich die Luft raus aus dem Pathos des Nibelungenlieds. Nicht Schicksal oder höhere Mächte führen zu den fatalen Fehlentscheidungen, sondern gesellschaftliche und zwischenmenschliche Strukturen.

Ueberwaeltigung4 560 DavidBaltzer uWeiße Stoffbahnen, Leiterspiele und animalisch-verquere Kostüme wie für Drag Queens: Szenerie in "Überwältigung" © David Baltzer

Brandauers Hagen analysiert das cool, souverän - und ergibt sich doch diesen Strukturen. Ein echter Realpolitiker. Den er in der ihm eigenen formvollendet eleganten Boshaftigkeit gibt. Der Kniff, Hagen den Mythos schrumpfen zu lassen, gibt der Inszenierung Raum für Selbstironie. Etwa wenn Brandauer in Anspielung auf die jährlichen Festspiele ein "Wir sind euch wohl noch nicht oft genug gestorben" ins Publikum schleudert.

Regisseurin Rupprecht betreibt ein subtiles Spiel mit verschiedenen Ebenen – ohne je in Klamauk zu verfallen. Der Hagen-Kniff hat aber den Nachteil, dass die Frauen in "Überwältigung" ins Hintertreffen geraten. Für Inga Busch als Brünhild und Kathleen Morgeneyer als Kriemhild gibt es wenig Raum zur Entfaltung, ihre Figuren bleiben flach. Eine Überraschung dagegen ist Moritz Grove als König Gunther. Den schwachen König als eindimensionalen Loser zu zeigen hätte nahe gelegen. Doch in Text und Inszenierung ist er die einzige Figur, die ihre Unzulänglichkeit fühlt und darüber reflektiert.

Seitenhiebe inklusive

Grove zeigt Gunther als Nervenbündel, aber auch als einzig zugewandte Person. Er steht denn auch im Mittelpunkt der Szene, die am stärksten die Illusion nährt, dass eine andere Welt möglich wäre. Er gesteht Brünhild den Betrug, der zu ihrer Ehe führte. Aus seinem Eingeständnis von Schwäche will er eine neue Basis für die Beziehung herleiten. Brünhilds Forderung nach dem Tod Siegfrieds macht den Moment jedoch zunichte.

So kommt es wie es kommen muss in Worms. Alle sterben, wenn auch in abgewandelter Form. Brandauers Hagen macht daraus einen weiteren Seitenhieb auf den "Festivalzirkus" Nibelungenfestspiele. "Alles, was überleben will, muss sterben und als Symbol auferstehen. Ich werde nun in etwas eingehen, das ich schon kenne. Bisher spuckte es mich verlässlich wieder aus. Diesmal möge es mich endlich für immer bei sich behalten." Der Wunsch wird nicht erhört werden – zumal das verrückt-verquere "Überwältigung" durchaus Lust macht auf weitere Varianten des Nibelungenstoffs.

Überwältigung
Von Thomas Melle
Regie: Lilja Rupprecht, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Annelies Vanlaere, Lichtdesign: Hartmut Litzinger, Jürgen Kapitein, Video: Tilo Baumgärtel, Moritz Grewenig.
Mit: Klaus Maria Brandauer, Alexander Simon, Kathleen Morgeneyer, Inga Busch, Moritz Grove, Boris Aljinovic, Winfried Küppers, Edgar Eckert, Andreas Leupold, Lisa Hrdina.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.nibelungenfestspiele.de

 

Mehr von den Nibelungenfestspielen Worms: Im vergangenen Jahr inszenierte dort Roger Vontobel die Bearbeitung des Stoff, Siegfrieds Erben von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel.

 

Kritikenrundschau

Im Deutschlandfunk Kultur "Fazit" (12.7.2019) findet Christoph Leibold Thomas Melles Neuinterpretation der Nibelungensage schlüssig – und sah ein Ensemble in guter Besetzung glänzen.

"Es ist ein poetisches, mit vielen tollen Sprachkunststücken und einigem Witz auftrumpfendes Stück, das Thomas Melle da geschrieben hat", schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel online (14.7.2019). "Weil es nach genauem Zuhören verlangt, ist es für den Rummel einer Freiluftaufführung allerdings nur bedingt geeignet. Noch schwerer wiegt womöglich, dass der Dramatiker Melle nicht recht zu wissen scheint, wo er eigentlich hin will mit dem Plot." Lilja Rupprecht fahre in ihrer Regie "allerhand auf, um gegen die Macht der Domkulisse anzukommen: honigsüße musikalische Untermalungen, die Zeichentrickprojektion eines von Tieren durchstreiften Zauberwaldes und sogar eine Feuerspucknummer".

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (14.7.2019) würdigt Simon Strauss die Nibelungenfestspiele in erster Linie als "am­bi­tio­nier­tes ge­sell­schaft­li­ches Er­eig­nis". Thomas Mel­les Nibelungensagen-Ad­ap­ti­on schrumpfe "die alt­be­kann­te Hand­lung um den Dra­chen­tö­ter Sieg­fried und sei­nen fol­gen­rei­chen Be­trug an Brun­hild zu ei­ner wack­li­gen Kon­struk­ti­on mit kar­di­na­lem Sys­tem­feh­ler zu­sam­men, die durch Kor­rek­tur an der rich­ti­gen Stel­le zu Fall ge­bracht wer­den kann", so Strauss. "Vol­ler Frei­luft­thea­terkli­schees, vom ham­peln­den Spiel­mann bis zur live über­tra­ge­nen Hoch­zeit im Dom" prä­sen­tiere Lilja Rupprecht das ad­ap­tier­te Ge­sche­hen "auf der chris­to­haft weiß­ver­hüll­ten Büh­ne eher hilf­los". "Aber es ist na­tür­lich auch schwer, die volks­tüm­li­chen Er­war­tun­gen zu un­ter­lau­fen, oh­ne sich ganz im Schien­bein­tre­ten ge­gen die Kon­ven­ti­on zu ver­lie­ren. Da­zu braucht es ei­nen si­che­ren In­stinkt für die Mög­lich­kei­ten des frei­en Spiels und nicht nur ein paar schlecht ko­pier­te Cas­torf-Vi­deo-Ide­en."

"Ortliebs Kampf gegen den fatalen Geschichtsverlauf ist der Grundgedanke der 'Überwältigung', an dessen Umsetzung es dann allerdings hapert", schreibt Roland Müller in den Stuttgarter Nachrichten (15.7.2019). "Sprachlich, weil Melles hoher Ton – teils in gereimten Versen, teils in rhythmisierter Prosa – oft nur Banalitäten veredeln soll. Und inszenatorisch, weil die Regisseurin Lilja Rupprecht (…) für ihre Uraufführung keine starken, schlagenden Bilder findet: Die Schilderung der Nibelungensage bleibt ebenso matt wie das Aufbäumen gegen die ihr innewohnende Katastrophe." 

Einen "von gefühliger Musik untermalten Abend mit Operngesang, Kirchenfensterromantik und Marienkitsch" hat Christine Dössel gesehen und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (15.7.2019): "Thomas Melle hat einen klugen, gewitzten Text geschrieben, der sich zwar stellenweise im Nibelungennetz verheddert, aber den Mythos doch auf ganz eigene Weise packt – aufgeladen mit den Ängsten und Zukunftsfragen von heute." Dass Klaus Maria Brandauer, "der österreichische Schauspielkünstler, der im Theater nur noch selten Rollen annimmt, als Oberrecke mitwirkt, ist für Worms allein schon wegen seiner Berühmtheit ein Hauptgewinn", so Dössel: "Für Lilja Rupprechts allzu unbeholfene, vieles probierende, lieblich arrangierende Inszenierung ist dieses Schwergewicht im Zentrum ein wichtiger Anker."

"Zwischen teils weit auseinanderfallenden Szenen wird die Grundidee allmählich zerrieben, Szenen, die die Regisseurin Lilja Rupprecht auf Anne Ehrlichs christo- oder umzugsmäßig weiß verschnürter, nicht sehr ertragreicher Bühnenlandschaft geduldig aneinanderreiht, ohne sie verbinden zu können", kritisiert Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (15.7.2019). "Vor allem erfährt die Grundidee nicht die dramaturgische Raffinesse, die sie verdient hätte. Eine Alternative zum Nibelungenlied muss sitzen, und sie muss auch auf etwas hinauslaufen, das sitzt."

Thomas Melles Stücktext halte dem "hohen Anspruch, dass Sprache eben alles vermöge, nicht stand, wenn er gerade in der gebundenen Rede bisweilen gezwungen, ungeschickt und hilflos erscheint, als wollte der Autor fortwährend ein hohles Pathos der Haltung in der passenden Diktion darstellen", schreibt Tilman Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.7.2019).

Das Problem am Text sei nicht nur, der Autor sich von seinem Assoziationsreichtum ständig hinreißen lasse zu Pathos und schiefen Metaphern. "Thomas Melles These, dass am kindlichen Wesen die Welt genesen werde, stellt sich zwar auf der Bühne als ziemlich abwegiges Gedankenspiel heraus. in der Realität aber hofieren Politiker aller Couleur die Akteure der Freitags-Demonstrationen", schreibt Christian Gampert in der Zeit (18.7.2019). Lilja Rupprecht liefere "volle optische Bespaßung (...) bei fragwürdiger dramaturgischer Konstruktion". Brandauer spiele den Bösewicht Hagen von Tronje "auf fast unheimliche Weise entspannt, reflektierend, ins Geschehen nur peripher eingreifend".

 

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