Being King Lear

30. August 2019. Collagen, Soundfiles, Solos über Solos: Text-DJ Sebastian Hartmann bricht Shakespeares "King Lear" am Deutsches Theater Berlin auf wie in einem Prisma, verzerrt und zigfach gespiegelt. Aber so richtig in sich hat's erst der Bonustrack von Wolfram Lotz, performt von Cordelia Wege.

Von Christian Rakow

30. August 2019. Auf manchen Musikalben, den ganz besonderen natürlich, gibt es hinten in der Auslaufrille den "hidden track", den verborgenen Song. Das sind mitunter kleine hingeworfene Spielereien, Übriggebliebenes aus den Studio Sessions. Manchmal aber stoßen diese Tracks das Tor noch einmal ganz weit auf, collagieren Motive des Albums, heben sie in andere Sphären.

Ahnungen von Unerzähltem

Das Theater des Regisseurs Sebastian Hartmann ähnelt im Spielerischen wie im Entrückenden diesen "hidden tracks". Wenn bei ihm klassische Dramen- oder Romanstoffe auftauchen, dann nicht in treuer Nacherzählung, sondern wie in einem Prisma gebrochen, verzerrt und zigfach gespiegelt. In freien, scheinbar unzusammenhängenden Solos tänzeln oder wuchten seine Akteure lose Motive an die Rampe. Manchmal tragen sie betont sinnfrei Requisiten umher. Surreale Atmosphären verströmen sich, alles ist musikalisiert, alles mäandert, fiept und weltraumnebelt, als lausche man in ein Schwarzes Loch. Es sind zugleich Erinnerungen an versunkene Erzählungen und Ahnungen von Unerzähltem. Theaterträume, nahbar, unnahbar.

So steht es auch um diesen Hartmann'schen "Lear" zur Saisoneröffnung am Deutschen Theater. Der verhält sich zum "King Lear" von Shakespeare ungefähr so wie die sperrige Toncollage "Revolution No. 9" vom weißen Album der Beatles zum gefällig groovenden "Revolution" ("Revolution No. 9" war streng genommen kein echter "hidden track", aber dem Charakter nach eben doch). Soll heißen: Mehr als Bruchstücke gibt es nicht von der Geschichte des greisen Königs, der kopflos sein Reich unter seinen Töchtern aufteilt und dann dem Wahnsinn verfällt, als seine Erbregelung sich als fatal erweist. Und auch von Lears Pendant, dem alten Grafen Gloucester, der seinen aufrechten Sohn verstößt, weil er dem unehelichen Intriganten aufsitzt, werden allenfalls intime Kenner des Originals Spuren finden.

lear1 560 arno declair uVerströmen surreale Atmosphären: Elias Arens, Birgit Unterweger, Markwart Müller-Elmau in "Lear" © Arno Declair

Stattdessen gibt es eben Collagen, Shakespeare als Soundfile, Solos über Solos, angereichert mit Politeinschüben zur Krise der Gegenwart, zu den globalen Verheerungen. Videos von Tsunamis und Flächenbränden flimmern nebst Stadtansichten der Wolkenkratzer von New York schemenhaft im Hintergrund. Hartmann stellt ganz auf den Generationenkonflikt ab, aber er zielt nicht auf Komplizenschaft mit den Alten, sondern übersetzt den Stoff in eine Anklage der Jungen.

Alles ist Fragment

In zwei Krankenhausbetten unter einem riesigen Windrad siechen Michael Gerber und Markwart Müller-Elmau als Verkörperungen von Lear und Gloucester weitgehend stumm dahin. Wie Erinnyen umspielen Linda Pöppel und Birgit Unterweger sie. Zwei Töchter, wie man sie nun keinem Vater wünscht: Pöppel mit zornigen Reminiszenzen an die Szene der Reichsteilung; Unterweger in harscher, übergriffiger Erotik. Wie Spukgestalten im dementen Kopf der Greise schwirren sie rein und raus. Being King Lear – wir sehen das Drama in konsequenter Innenschau. Alles ist Fragment, Erinnerungsschnipsel, aus dem nurmehr Halbbewussten geschöpft.

Dass man diese Herangehensweise an den "Lear" durchaus als Zumutung empfinden kann, wird nach gut einer Stunde der Premiere deutlich. Da sitzt gerade Peter René Lüdicke als melancholischer Narr am Krankenbett und tröpfelt Erratisches ins Ohr des schwachen Lear, als ein Zuschauer aus dem Rang zu rufen anfängt: "Ich hab gedacht, es gibt heute hier Shakespeare! Leute, lasst Euch das nicht gefallen!" Ein Raunen greift um sich, Lachen, Zustimmung, Widerspruch. Es gab mal Zeiten bei Hartmann, da wäre an diesem Punkt Halligalli losgegangen. Zumal mit Lüdicke, der lange schon und insbesondere zu Hartmanns Intendanz-Zeiten am Centraltheater Leipzig ein Protagonist des Regisseurs ist. Aber Lüdicke bleibt hier stumm, regelrecht versunken. Hartmanns Theater ist melancholischer geworden, introspektiver.

An diesem Abend aber zeigt die Unterbrechung doch auch eine ehrliche Ratlosigkeit. So recht sind Hartmann und die Seinen mit diesem Stoff nicht fertig geworden. Etwas Bleiernes liegt auf der Szene. Manuel Harder will's mit einem nackten Solo rausreißen und schafft es halb. Die Energie sackt wieder ab. Es wabert. Harder und Elias Arens packen wiederholt Schwertkämpfe aus, aber es ist nicht mehr als Schattenfechten. Die globale Krisendiagnose bleibt letztlich Behauptung, der Umgang mit dem "Lear"-Stoff über die gewitzte, in der Praxis aber recht statische Vaterstudie mit Demenz hinaus nebulös.

Politikverdruss mit Pointen

Nun aber kommt die schlechte Nachricht für alle, die gern mal einen Theaterabend auslassen. Hartmann hat diesem "Lear" noch einen Epilog verpasst. Und von dem wird man noch in Jahren sprechen, mein Wort drauf. Wolfram Lotz hat ein neunundneunzigseitiges Poem verfasst, "Die Politiker" betitelt, und wenn man's so liest, meint man erst: Das hat Heiner Müller aber kürzer hingekriegt – "Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa". Bei Lotz hingegen neunundneunzig locker bedruckte Seiten Politikverdruss, mit allem, was die gute Timeline in Social Media-Zeiten thematisch hergibt, samt privaten Einschüben, Schreibreflexionen, Literatenwitz. Alles bewusst flächig und sprunghaft.

lear2 560 arno declair uCordelia Wege oder Die Leuchtende © Arno Declair

Aber dann kommt Cordelia Wege zur Uraufführung im DT, mit schwarzem Cocktailkleid und irgendwie auch schwarzem Cocktailhumor, hockt sich an die Rampe und hämmert das Ding raus, praktisch ungekürzt, in aberwitzigem Tempo. Und der Lotz strahlt, wird schärfer, bissiger, dann wieder relaxter, jede Verschiebung funkelt, jede Pointe passt. "Die Politiker knacken die Nüsse. / Es klingt wie Schüsse."

Hinter Wege leuchtet das Windrad neongelb, Live-Musiker Samuel Wiese steuert noch ein paar seiner schwebenden Club-Sounds rein. Der Schweiß perlt, bei Wege, beim Publikum. Alles Anämische ist verschwunden. "Die Politiker stolpern über Dinge / die herumstehen in der Ewigkeit." Und irgendwann ist's vorbei, und die Leute, die lange mit Grund murrten, jubeln. Und also schlich sich in das Theater noch spät ein echter "hidden track" rein, das Unvermutete und Unvergessliche, das hinausträgt, ins Offene.

 

Lear

nach William Shakespeare

Deutsch von Rainer Iwersen

Die Politiker

von Wolfram Lotz

Uraufführung


Regie, Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Rainer Casper, Live-Musik: Samuel Wiese, Chorleitung: Christine Groß, Dramaturgie: Claus Caesar.

Mit: Elias Arens, Michael Gerber, Manuel Harder, Peter René Lüdicke, Markwart Müller-Elmau, Linda Pöppel, Natali Seelig, Birgit Unterweger, Cordelia Wege.

Premiere am 30. August 2019

Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause



www.deutschestheater.de

 

Über seine Poetologie spricht Wolfram Lotz in unserer Video-Reihe Neue Dramatik in 12 Positionen. Er trägt im Rahmen des Gesprächs auch eine Passage aus Die Politiker vor (ab 51:45).


Kritikenrundschau

In "einem lockeren Schwadronier-Abend übers Erben und Sterben" fand sich Wolfgang Höbel von Spiegel Online (31.8.2019) wieder. "Vom Furor und poetischen Charme" jüngerer Hartmann-Arbeiten sei an diesem Abend "nichts zu spüren". Vielmehr erleide man "die Ausrottung aller Diskursgrundlagen" und eine "bemerkenswert selbstgefällige Reizarmut und Denkfaulheit". Der Epilog von Wolfram Lotz sei "ein hinreißender Witz und eine virtuose dadaistische Kunstübung". Aber er ähnele auch Hartmanns Regietheater-"Lear", denn: "Es kommt in beiden Veranstaltungen sehr vieles zur Sprache: Wichtiges und Unwichtiges, Schönes und Grausames, Bedenkliches und Dummes. Nur leider: Gesagt wird in beiden Fällen – eigentlich nichts."

Von einer "verkopften spröden Saisoneröffnung" berichtet Ute Büsing für rbb 24 (31.8.2019). Aber der Schlussmonolog von Cordelia Wege mit Wolfram Lotz' "Politiker"-Text "ist ein Highlight, ein Wachmacher und ein vitalisierender Motor für neues Denken. Rhythmus, Tempo, Komik, Dringlichkeit. Jetzt wird alles nachgereicht."

Hartmanns "Lear" gehe "existenziellen Endzeitträumen nach", zeige einen "Angsttrip des Sterbens, des Untergangs und der Hoffnungslosigkeit", berichtet Barbara Behrendt im "Fazit"-Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur (30.8.2019). Sein Interpretationsversuch "bleibe aber spröde". Der Lotz-Epilog dagegen biete die "Intensität", die zuvor fehlte, und werde zum "einsamen Höhepunkt des Abends".

"Generationswechsel, gekappte Traditionszusammenhänge, der Demenz-Schlummer bisheriger Macht- und Meinungshaber und ehrliche Ratlosigkeit, wie's weitergeht" – das seien die Themen, die Hartmann in seinem "Lear" umkreist, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (1.9.2019). Das Stück sei als "Bewusstseinsstrom eines scheintoten Patriarchen" angelegt. "Konzeptionell ist das klug und konsequent gedacht. Praktisch aber bleibt diesmal vieles lose angerissen bei Hartmann, gehen die Motiv-Variationen oft eher in die Breite als in die Tiefe." Am Schluss aber biete die "sensationelle" Cordelia Wege einen "rasanten Tempo- und Atmosphärenwechsel" und performe Lotz' Text, "der der Learschen Depression, ironisch mehrfach gebrochen, eine Art Wutbürger-Suada entgegensetzt: die Wiederkehr der Tragödie als Farce".

Dieser "Lear" sei "eine laute Anklage der jüngeren Generation, die fassungslos am Sterbebett der älteren steht", schreibt Felix Müller in der Berliner Morgenpost (31.8.2019). Allerdings verliere der Abend in der ersten Hälfte an Energie, es "dämmert eine große Ratlosigkeit auf dieser Bühnenbaustelle" – bis das "großartige, umwerfende Finale dieses Abends" einsetzt, von dem es heißt: Der "Text schrammt ohne Angst vor Kalauern immer dicht am Wahnsinn entlang. Cordelia Wege feuert dieses wunderbare Kunstwerk in einer geschätzten halben Stunde in den Zuschauerraum und wird von heftigem Zwischenapplaus unterbrochen. Es ist so umwerfend, so gegenwärtig, so hellwach, dass man sich erinnert, warum man ins Theater geht: Nur hier gibt es so aufregende Erlebnisse wie dieses."

"Hartmann verbindet einen Assoziationsreigen zu Shakespeares 'King Lear' mit der Uraufführung eines grandiosen, hier als Gedankenbeschleunigungsmonolog uraufgeführten neuen Textes von Wolfram Lotz", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.9.2019). Im "Lear" mache Hartmann "Menschheitsverbrechen zu Signalreizen, um seine konfuse Inszenierung mit der Simulation von ein wenig Bedeutung und Tiefsinn zu versehen." "Die Lear-Totentänzer gehen ab wie Gespenster. Und dann wird es spannend", so Laudenbach: So "geistesklar und präsent" wie Cordelia Wege Lotz' Text spiele, sei es "die beste bewusstseinserweiternde Droge, die derzeit im Theater zu haben ist". "Es dürfte die Uraufführung des Jahres sein."

 

 

 

Kommentare  
Lear/Die Politiker, Berlin: vergessen, vergeben
War der Auszug des Zuschauers wirklich nicht inszeniert? Habe ich falsch gesehen, dass der Lear-Darsteller gerade ein paar Worte (und das laut und ein einziges Mal während der Aufführung) gesagt hatte oder eben sagen wollte und und just in diesem Moment ein Zuschauer (im Learalter) sagte, lasst es Euch nicht gefallen (ein Stücktitel von Shakespeare)? Und die Aufführung ging dann weiter, mit einem Sprung: zwei Töchter überquerten die Bühne ohne Zusammenhang von rechts nach links, dann kam ein „Pferd“ von links, als wäre die Bruchstelle geplant gewesen.
Die ganze Inszenierung war recht überflüssig; das sich nach 10 Minuten erschöpfende Kalauer-Gedicht ist laut Regisseur ein “Stück”, das allein durch die Performance von Cordelia Wege interessant wurde und pc „Die Politiker*innen“ hätte heissen müssen, obwohl: wahrscheinlich ging es hier wirklich um Politiker und nicht *innen, aber egal ... vergessen vergeben ...
Lear/Die Politiker, Berlin: willkürlich zerlegt
Dass unsere Welt komplexer geworden ist, wissen wir alle. Dass ein Theater bzw. Regisseur deswegen den großen Shakespeare bzw. Lear derart willkürlich zerlegen dürfen, ist eine Zumutung. Die Themen Machtverzicht und Erbe bieten soviel Stoff. Wenn ihr subjektiven Weltschmerz inszenieren wollt, dann benennt es auch so. Und ueberlasst, Shakespeare den Künstlern und Zuschauern, die ihn noch ernst nehmen.
Lear/Die Politiker, Berlin: Fanbriefe
könnte die nk bitte mal darauf achten, dass zünftig keine fans von regisseurInnen in die abendende gehen um sie öffentlich zu besprechen?
es ist wirklich zu haara raufen!
diese kritiken sind nichts weiteres als fanbriefe... SCHRECKLICH!!!! es geht hier immerhin um eine institution die durch steuergelder, öffentliche gelder finanziert wird- diese öffentlichkeit hat mehr aufrichtigkeit als fangebabell verdient...!
Lear/Die Politiker, Berlin: Abwechselung
@3. Sehr geehrter kotzrotz, ich habe mal flink die Hartmann-Rezensionen der jüngeren Vergangenheit herausgesucht. Sie stammen von:

Matthias Schmidt (Schuld und Sühne, Dresden)
Simone Kaempf (Hunger. Peer Gynt, Berlin)
Janis El-Bira (In Stanniolpapier, Berlin)
Matthias Schmidt (Erniedrigte und Beleidigte, Dresden)
Elena Philipp (Ulysses, Berlin)
Frauke Adrians (Gespenster, Berlin)
Hartmut Krug (Berlin Alexanderplatz, Berlin)
Steffen Becker (Der Raub der Sabinerinnen, Stuttgart)
Grete Götze (Der Revisor, Frankfurt am Main)

Sie sehen also, Nachtkritik achtet auf Abwechselung. Auf die ästhetischen Prägungen und Vorlieben der Autor*innen hat die Redaktion keinen Einfluss, den will sie auch gar nicht. Sie sorgt sich lediglich darum, dass man anhand der Rezension begreift, was an einem Theaterabend Sache war und wieso er so oder so beurteilt wird.

Was die Nachtkritik zum "Lear" anbelangt: Inzwischen ist bereits eine gute Zahl an Rezensionen anderer Medien erschienen und es entsteht ein relativ einheitliches Bild. Ihrem Alias-Namen lese ich ab, dass Sie es gut gefunden hätten, wenn dieser Abend in Grund und Boden verdammt worden wäre. Damit kann so recht niemand dienen. Die wonnigsten Worte in Richtung Verriss hat vielleicht noch Spiegel Online.
Lear/Die Politiker, Berlin: in Schieflage
Entschuldigen Sie, Herr Rakow, aber ich muss kotzrotz Recht gegen. Ihr Forum IST tendenziös - pro Castorf (und Epigonen, wozu ich den Lear- naja "Regisseur" zähle), pro Volksbühne, pro "gequirlte Kunstk...". Aus diesem Grund stellte ich mein Spendenengagement für nk vor Monaten ein. Vielleicht täte dieser Seite und ihren Rezensent*innen eine Pause, ein Neuanfang gut? nk hat mit der Theaterrealität und besonders mit der Publikumsrealität, für die die Theater gedacht sein sollten und von denen diese Häuser subventioniert werden, zu tun. Ihr Forum ist an dieser Schieflage nicht unbeteiligt.
Lear/Die Politiker, Berlin: verlorene Stunden
Also ich verstehe alle jene Zuschauer, die vorzeitig die Inszenierung verlassen haben. Es war weder Shakespeare (damit konnte man rechnen, wenn man im Vorfeld recherchiert hat), noch irgend etwas, was an diesem Abend ernsthaft verhandelt wurde. Es blieb alles im Ungewissen, nur nebulöse Andeutungen und schöne Bilder/Projektionen, die nichts wollten, deren einzige Intention scheinbar darin bestand, intellektuell auszusehen und ästethisch zu wirken. Und das in einer Zeit, in der es um Alles oder Nichts geht, wo es gilt, Haltung zu zeigen, um unser demokratisches Zusammenleben und unseren Planeten zu retten. Also wirklich schlimm, dass diese Inszenierung so gar nichts will, außer evtl. Hartmanns Egotrip zu beweisen. Im Übrigen ist das Frauenbild des Regisseurs sehr fragwürdig und so furchtbar eindimensional. Zumindest zeigt die Inszenierung mal wieder nur "wahnsinnig erotische" Frauen in knappesten Kleidern. Sie werden hier durch die Brille eines geilen alten weißen Mannes gezeichnet.
Alles in allem so kein gutes, ein sinnloses Theater für mich. Schade um die verlorenen Stunden, in denen man soviel Gutes für Herz und Hirn hätte machen können.
Lear/Die Politiker, Berlin: der wohlwollende Blick
Herr Rakow-
Sie missverstehen die Kritik...
Ich meine, dass beispielsweise Sie sich für einen bestimmten Style interessieren und dies bei den jeweiligen Styles mehr als deutlich wird... Interessant wäre aber Kritiken von Kritikern zu lesen, bei dem nicht die ausschließlich persönliche Vorliebe den Inhalt der Kritik bestimmt...
Denn auch interessant ist es ja eben, dass jene Kritik ohne langjährigem persönlichen Besuchen von gehypten Rdgietalenzen, irgendwie objektiver und sachlicher ausfallen und damit auskommen lediglich ihre Beobachtungen zu teilen ohne ihre Leserschaft überzeugen zu wollen (meistens noch bevor jene Leser den besprochenen Abend überhaupt gesehen zu haben)...

Mein Tip:
Gehen Sie doch alle mal in jene Abende, die sich eventuell im Mittelfeld des jeweiligen Interessengeld bewegen und weniger in Abende, bei denen Ihnen und der Kollegschaft im Vorfeld der wohlwollende Blick nicht das bestimmende Element für den Befund des Abends sein kann, weil man eben nicht jeden Inszenierungsmangel gleich damit aufwertet, indem es plötzlich nicht mehr um den tatsächlichen Abend geht, sondern vielmehr um das eigene Verständnis aller Arbeiten des jeweils getypten Regisseurs...
Lear/Die Politiker, Berlin: keine Zaubertafeln
@5., @7. Ich verstehe den Unmut noch immer nicht ganz. Ist es, weil der obige Text probiert, das Plausible in der Anlage dieses Abends darzulegen, während weniger Interessierte dazu rufen mögen „Leute, lasst Euch das nicht gefallen!"? Dass der Ansatz für den "Lear"-Part keineswegs aufgeht, wird ja nun nicht verschwiegen. Schönreden ist nicht.

Ich würde allerdings behaupten, dass es zur Aufgabe von Kritik gehört, Verständnisangebote zu unterbreiten, sofern man Sinnstiftendes entdeckt. Und ich würde ebenso behaupten, dass Kritik auch bedeutet, einen Geschmack auszubilden und entsprechend manche Ästhetiken höher zu halten als andere. Wir sind als Menschen (und so auch als Kritiker!) ja keine Zaubertafeln, auf denen sich jeder Abend wie zum ersten Mal einträgt. Und beim nächsten Besuch ist alles erloschen. Nein, Werten ohne Wertschätzen geht nicht. Allerdings sollte es durch die Explizitheit der Beschreibungen und Wertungen in der Kritik auch gänzlich anders gestimmten Leser*innen möglich werden, das gefundene Urteil für sich zu bewerten und zu relativieren. Es gibt Kritiker*innen, da kann ich mir sicher sein, wenn er/sie das lobt, dann ist das definitiv nichts für mich.

Worin ich zustimme: Die Ausbildung des Geschmacks darf nicht in Tunnelblick und Beckmesserei führen. Das Wichtigste und zugleich Schwierigste liegt darin, sich offenzuhalten für die Beschreibung und Wertung diverser Ästhetiken. Was die kritisierte Besetzungspolitik von Nachtkritik anbelangt, kann ich nur sagen, dass die vergleichsweise starke Rotation von Schreiber*innen genau darauf abzielt: immer wieder andere, unterschiedlich vorgeprägte Kritiker*innen mit verschiedenen Theatersprachen zu konfrontieren. Die Beispiele für die Rotation in Sachen Hartmann sind in #4 gegeben.
Lear/Die Politiker, Berlin: Family
Sie haben aus meiner Sicht Recht. Die Premieren verkommen auch in Berlin zu Family and friends-meet and greet Events. Mit viel Jubel für "seine Lieben". Und bei Stücken wie Ugly ducking ganz furchtbar wie uffm Dorf. Also Berlin...
Lear/Die Politiker, Berlin: Startrampe
So unvermutet und 'hidden' war der Schluss natürlich nicht: der Abend heißt ja 'Lear/Die Politiker'. Warum gerade Lear und allerhand anderes quasi als Startrampe für die Rakete zum Schluss diente, blieb mir verborgen. Klar, ich assoziiere mir da auch meinen Teil auf der Assoziationsfläche herum, aber je... Es ist eine lange Zeit der Vorbereitung, mit Atmo-Sound, Chorpassagen, Deklamieren, Sich-Ausziehen, Sich-Umziehen, Videoprojektion, kurzes zweimaliges Ablassen eines Tuchrüssels, unterbrochen durch das Highlight des Herausgeher-Rants (der m.E. nicht inszeniert ist, aber wirklich gut passte), bis dann endlich das Windrad hingerückt und die Lampen an sind und der Abschlussmonolog kommt. In der Tat beeindruckend gut vorgetragen und ein guter Schlusspunkt. Ich aber hätte mich gefreut, eine andere Art der Auseinandersetzung mit diesem Text zu sehen, der ja vielleicht auch alleine trägt. So bleibt mir der Eindruck eines Kunststücks, klug berechnet mit direktem Übergang in den Schlussapplaus, zu dem dann auch die anderen DarstellerInnen wieder hervorkommen. Jubel? Zunächst, aber meiner Zählung nach drei Vorhänge bei dieser Premiere. Die Rakete verpufft ein bisschen.
Lear/Die Politiker, Berlin: wieder was erzählen
@Tobias: Den Eindruck habe ich leider auch.
Ich kenne weder den Regisseur noch die Schauspieler persönlich, gehöre also nicht zu Family& Friends, möchte mir aber immer gerne die Hartmann- Premieren angucken, da ich großer Fan von ihm bin, auch wenn seine Arbeiten in letzter Zeit, meiner Meinung nach, eher nicht mehr besser werden. Jedenfalls achte ich immer genau auf den Vorverkaufsstart und wenn ich dann übers Internet Karten kaufen möchte, gibt es immer noch gerade ma l eine Handvoll Karten. Im Publikum erkenne ich auch immer viele Schauspieler aus anderen Häusern. Es mag sein dass ein Großteil der Karten an Abo-Kunden weggeht, doch scheint es mir eher so zu sein, dass der überwiegende Teil der Karten an Freunde, Kollegen etc geht (und natürlich an Kritiker). Zur Inszenierung: die letzte Stunde war tatsächlich grandios, davor war alles wie in den letzten Hartmann- Inszenierungen. Wenig Substanzielles, meines Erachtens werden die tollen Schauspieler größtenteils verschenkt. Der sensationelle Rene-Peter Lüdicke fällt mir da in vorderster Front ein. Zu den Vorwürfen bezüglich Frauenbild von Kassandra: Quatsch. Zunächst zog sich (meines Erachtens unmotiviert) Manuel Harder komplett aus, später dann (meines Erachtens zwingender) Birgit Unterweger halb aus. Zu den Kostümen, die stammen von Adriana Braga Peretzki. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sebastian Hartmann da groß reinredet. Und wenn doch: Sie sagen es ja selbst, dann wäre es durch die Brille eines "weißen alten Mannes".
Ich finde es wäre mal wieder an der Zeit, dass Sebastian Hartmann wieder etwas erzählt (wie etwa in seiner Leipziger Zeit), das kann er für mein Dafürhalten deutlich besser.
Ansonsten finde es toll, dass das Deutsche Theater bewusst in Kauf nimmt, einen großen Teil seiner Zuschauer zu erschrecken und nicht damit zu bedienen, was es sehen will. Davon gibt es am DT genug.
Lear/Die Politiker, Berlin: fetzig
Herr Rakow...

Sie reagierten tatsächlichmit folgendem Satz auf die Kritik bzgl der Art und Weise Ihrer und der vielr KollegInnen (mitterweile steigt der Trend...) formulierten Theaterkritiken: "@5., @7. Ich verstehe den Unmut noch immer nicht ganz. Ist es, weil der obige Text probiert, das Plausible in der Anlage dieses Abends darzulegen, während weniger Interessierte dazu rufen mögen „Leute, lasst Euch das nicht gefallen!"? ..."?! Ihr Ernst? Sowas ist Ihr erster Rechtfertigungssatz nachdem der erste Absatz Ihrer Kritik folgendermaßen ist: "Berlin, 30. August 2019. Auf manchen Musikalben, den ganz besonderen natürlich, gibt es hinten in der Auslaufrille den "hidden track", den verborgenen Song. Das sind mitunter kleine hingeworfene Spielereien, Übriggebliebenes aus den Studio Sessions. Manchmal aber stoßen diese Tracks das Tor noch einmal ganz weit auf, collagieren Motive des Albums, heben sie in andere Sphären." - solch absolut unverhältnismäßige Vergleiche kommen leider bei Fans verkleidet als Kritiker vor... Soll ich nun wirklich einen Essay hier verfassen, was solch ein sprachlich/semantischer Anfang in der Kritik, gefolgt von weiteren
unverhältnismäßigen Adjektiven und Verben, die anscheinend einfach nur vorbeugend wirken wollen auf "Buhhh-RuferInnen"...

Interessant ist, dass viele Ihrer weiblichen NK-KollegInnen diese Schreibart des Hypes oder Todesurteils in poppig fetzigem Gewand nicht nötig haben... Auch sollte erwähnt werden, dass Dirk Pilz ebenso einer der Nicht-Lobbyisten war... Das sollte Ihrer Redaktion docheinfach nur mal zu denken geben.
Lear/Die Politiker, Berlin: Pro Kritik
Ich finde die Besprechung von Herrn Rakow sehr anziehend und intelligent. Vor allem der zweite Absatz ("Das Theater des Regisseurs Sebastian Hartmann […]") ist absolut gelungen und beschreibt Hartmanns Arbeiten fast schon poetisch.
Die Kritik ist m. E. nach ausgewogen. Auch wenn der Verfasser grundsätzlich pro Hartmann eingestellt sein mag, finde ich es total falsch, von Lobbyismus zu sprechen. Kritiken sind immer subjektiv gefärbt. Und gerade Hartmann wurde auf Nachtkritik oft negativ besprochen.

Diese Aufgeregtheit in den Kommentaren ist in meinen Augen total überzogen. Wir sollten dankbar sein, dass hier qualitative (!) Kritiken in solcher Bandbreite kostenlos zur Verfügung gestellt werden, anstatt drauf loszumeckern, zu pöbeln und zu unterstellen.
Lear/Die Politiker, Berlin: Link
"Niemand sonst stellt das Theater so auf, als Ensemble aus Texten, Körpern, Musik, Licht, Bühne, Nichts." Ekkehard Knörer https://www.cargo-film.de/anderes/theater/alles-schon-verschwunden-zu-sebastian-hartmanns-leardie-politiker/
Lear/Die Politiker, Berlin: Etikettenschwindel
Was das eine mit dem anderen zu tun hat, lässt sich sicher trefflich konstruieren - irgendwie. Ich hätte genausogut in einen Mobilfunkshop gehen können. Da kommt man auch anders raus als man reingegangen ist. Mit was untergejubeltem. Natürlich freue ich mich über die künstlerische Freiheit ... aber ich frage mich auch, was da los ist, mit der künstlerischen Leitung am dt. Wer Lear möchte, sollte lieber nochmal bei einer guten Flasche Wein das Reclam Heftchen lesen aber wer Lust hat sich ein bißchen zu ärgern muss unbedingt in diese Inszenierung. Ne glatte 6
Lear/Die Politiker, Berlin: erst Absitzen, dann Energie
(...) Und so mäandert dieser Abend mit einer Spannungsfreiheit dahin, lässt er Figuren-, Text-, Motivfragmente in den Raum purzeln, ohne dass sie irgendeine Spur hinterlassen, dass das Murmeln in Zuschauerraum zunimmt, manche*r die Flucht ergreift, Gedanken schweifen und der Theaterabend zum Absitzen wird. Dass sich die Sünden der Väter vererben, wenn man es nicht schafft, sie abzuschütteln, dass menschliche Gesellschaften so konstruiert sind, dass sie ein solches Abschütteln verhindern, ist keine ganz neue Erkenntnis. Nur fällt Sebastian Hartmann leider wenig mehr ein – außer sein Publikum die pessimistische, hoffnungslose Wahrheit von der Notwendigkeit der Wiederholung des Immergleichen auf unerträgliche Weise erdulden zu lassen. Samuel Wiese liefert dazu den dräuenden, auch mal pumpenden, aber nie vorwärtsdrängenden Soundtrack, Elektro-Depression vom feinsten.

Vielleicht hat er das selber gemerkt, weswegen er der Shakespeare-Dekonstruktion noch einen Nachtrag verpasst, der am Ende wie der Hauptgang wirkt. Hartmann, seit In Stanniolpapier der Schrecken aller Uraufführungen, zimmert mal eben nebenbei eine hin, die sich gewaschen hat. Während die Lear-Geister, fahl und substanzlos, die Bühne verlassen, tritt Cordelia Wege auf, Eleganz im schwarzen Cocktail-Kleid, setzt sich an die Rampe und beginnt zu sprechen. Schnell, rhythmisch, fast manisch brettert sie Wolfram Lotz‘ Monolog Die Politiker in den längst ermatteten Saal. Lautmalerisch, voller Wiederholungen, ein punkartiges Dauerstakkato rütteln Wege (deren Vornamens-Gleichheit mit der verstoßenen Lear-Tochter natürlich für einen überflüssigen Scherz ausgenutzt wird) und Lotz die Erschlafften wieder auf, pumpen sie Energie und die schmerzlich vermisste Gegenwart in die späten Teile des Abends.

Der Text mischt Politiker- und Demokratie-feindliche Wutbürger-Klischees mit der Ratlosigkeit eines Autors in einer zunehmend undurchschaubaren Zeit und der stillen Verzweiflung des postmodern einsamen nach menschlicher Nähe, nach einer Gemeinsamkeit, in der es sich vielleicht durch die Welt gehen ließe. Er ist Anklage und ratlose Suche, rastlos-manische Verzweiflung und Ermächtigung der Sprache, sich ihre eigene Welt, ihre eigene Realität, eine Alternative zu erschaffen, vielleicht gar auszubrechen aus dem Kreislauf, den Hartmann zuvor versucht hatte zu vermitteln. Plötzlich wird das Rad zur gelb leuchtende Sonne, beginnt sich zu drehen, etwas setzt sich in Bewegung, aus dem lähmenden Stillstand ist ein weiterdenken, weitersuchen geworden. Das rettet den Abend nicht, aber gibt ihm einen Energieschub, der alles Darüberhinausdenken zumindest nicht unmöglich macht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/09/26/unter-erben/
Lear/Die Politiker, Berlin: Kabinettstückchen versöhnt
Zwischen den Nebelschwaden, assoziativen Schnipseln und Loops macht sich eine düstere, bleierne Stimmung breit. Statt eines atmosphärisch dichten Abends über das Abtreten, Sterben und Erben, der dem Regisseur anfangs wohl vorschwebte, ist nur Ratlosigkeit spürbar. Bleiern schleppt sich Szene um Szene dahin.

Auch Linda Pöppel, die sich mit ihrer ebenso furiosen wie polarisierenden Performance „In Stanniolpapier“ auf Rang 2 bei der Wahl zur Schauspielerin des Jahres katapulierte, setzt in diesem Einerlei kaum Akzente.

In der letzten halben Stunde versucht Sebastian Hartmann das Ruder herumzureißen. Er lässt den „Lear“ auf sich beruhen und gibt die Bühne frei für ein Solo von Cordelia Wege. Im Affenzahn arbeitet sie sich im schicken Cocktailkleid vor golden beleuchtetem Windrad durch den Text „Die Politiker“ von Wolfram Lotz. Dieser Monolog spielt mit den politikverdrossenen Textbausteinen der Wutbürger, kalauert wie Jelinek, berauscht sich an seinen Assoziationen und verliert sich hemmungslos im Dadaismus.

Es wäre spannend, den Text „Die Politiker“ darauf abzuklopfen, ob er mehr als eine amüsante Fingerübung ist und ob daraus wirklich ein überzeugender Theaterabend entstehen könnte. Hartmann/Wege entschieden sich dafür, den Monolog im rasenden Tempo als halbstündigen Nachklapp an eine bis dahin fade Inszenierung anzukleben. Cordelia Wege zeigt bei ihrem Solo eine beeindruckende Energieleistung und der „Politiker“-Monolog sorgt immerhin für einen „Hallo, wach“-Effekt beim Publikum. Mit diesem Kabinettstückchen nimmt ein schwacher Abend immerhin ein halbwegs versöhnliches Ende.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/09/28/lear-die-politiker-deutsches-theater-berlin-kritik/
Lear [Livestream], Berlin: Nachfrage
Ist der von Cordelia Wege gesprochene Text irgendwo im Netz hör- und seebar?
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