Wenn das Morden weitergeht

von Cornelia Fiedler

Kassel, 12. September 2019. Das Morden geht weiter. Das ist das bittere, bitter aktuelle Fazit dieses Theaterabends. Zwei Originaltöne am Anfang und Ende von "Der NSU-Prozess. Die Protokolle" stehen am Staatstheater Kassel symbolisch für das Versagen nicht nur der Gerichte, sondern der deutschen Gesellschaft angesichts der NSU-Morde.

Beispiellose Hasskampagne

Zu Beginnt tönt das bekannte Versprechen von Bundeskanzlerin Merkel aus den Lautsprechern, man werde "mit Hochdruck" alles tun, um die Morde aufzuklären. Am Ende ist ein Audio-Mitschnitt zu hören, der anfangs schwer einzuordnen ist. Ein Politiker dankt im routinierten Tonfall Eltern und Schüler*innen, er spricht von Wertevermittlung. "Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist", sagt er dann. Es ist dieser Satz, den Rechte und Neonazis zum Anlass für eine beispiellose Hasskampagne gegen den Kasseler CDU-Regierungspräsidenten Walter Lübke genommen haben. Lübke wurde am 2. Juni 2019 ermordet. Er ist das mutmaßlich jüngste der, je nach Zählung, 75 bis 190 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990. Abschreckende Wirkung hatte der NSU-Prozess wohl also nicht.

nsu 3 560 marina sturm uDie Theaterermittungen führen hier: Marius Bistritzky, Meret Engelhardt, Artur Spannagel und Thomas Bockelmann­
© Marina Sturm

Warum nicht, das führen Regisseur Janis Knorr, Dramaturgin Petra Schiller und ihr Team in zweieinhalb Stunden Theaterschwerstarbeit vor: Fünf Jahre lang haben im NSU-Prozess Nazis geschwiegen oder gelogen, haben Polizei- und Verfassungsschutzmitarbeiter*innen eine unerschütterliche Vergesslichkeit an den Tag gelegt, hat man die Appelle der Angehörigen marginalisiert.

Antragskapriolen und Verzweiflungskomik

Es ist ein ernüchterndes Best- oder vielmehr Worst-of des Prozesses, das nicht mit kafkaesker Verzweiflungskomik spart: Marius Bistritzky, ausgestattet mit der Frisur und dem dämlichen Dauergrinsen von Barbies Strahlemann Ken, spielt die gesammelten Zschäpe-Verteidiger*innen. Seine Spezialität sind wildeste Antragskapriolen, die schon den Prozessauftakt kaugummiartig in die Länge ziehen. Seine Gegenspieler*innen sind Rahel Weiss, die die Nebenklage spielt, und Uwe Steinbruch als Ismail Yozgat, Vater des in Kassel ermordeten Halit Yozgat.

Immer wieder holen die beiden die politische Dimension und die Empörung zurück in die bewusst zähe, aseptische Gerichtsshow. Aus dem 1860 Seiten langen Protokoll, das die SZ-Journalistin Annette Rammelsberger und ihre Kolleg*innen Tag für Tag im Münchner Oberlandesgericht geführt haben, haben Knorr und Schiller diejenigen Aussagen herausgefiltert, in denen der Mord in Kassel Thema war. Ergänzt werden die Aussagen durch einen sehr persönlichen Beitrag der
Familie Yozgat aus dem Buch "Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen". Leider ist die Herkunft des Textes in der Inszenierung nicht klar gekennzeichnet, so dass der Eindruck einer unangemessen emotionalen Einlassung des Vaters vor Gericht entsteht.

nsu 1 560 marina sturm uHier: Hagen Bähr © Marina Sturm

Traurige Höhepunkte der Verhandlung sind hier, wie schon im realen Prozess, die Aussagen des Verfassungsschutz-Mitarbeiters Andreas Temme, der zur Tatzeit im Internetcafé Yozgats war. Artur Spannagel liest dessen Texte freundlich monoton von einem riesigen Stapel Blätter ab – sogar das "Nein" auf die Frage, ob er selbst den jungen Inhaber ermordet habe. Dass er sich pausenlos in komischste Widersprüche verstrickt, pariert er mit dem stupiden Gleichmut eines schlecht programmierten Avatars.

Fliegengesumme in den Ohren

Nach der Pause dann ein Stilwechsel: Die Spieler*innen stellen sich nun am Bühnenrand auf. Sie haben die Oberteile der rosafarbenen Overalls aus Teil 1 um die Hüften geknotet, ihre Rollen also offiziell verlassen und sind jetzt, ja, was eigentlich? Sie selbst? Wohl eher wir alle, die wir den Prozess jahrelang nebenbei verfolgt haben – ohne unsere Laune dauerhaft trüben zu lassen, ohne uns zu schämen.

Zu einer Instrumentalversion des Paulchen-Panther-Abspanns, mit dem auch das Bekennervideo des NSU endet, referieren sie im Stil aufdringlich fröhlicher Moderator*innen noch einmal eine Liste wichtiger oder besonders irritierender Prozesstage, immer wieder unterbrochen von dem Mantra: "Stimmen, die die These des Generalbundesanwalts von einer isolierten Zelle in Zweifel ziehen, sind wie Irrlichter, sind wie Fliegengesumme in den Ohren" – ein abgewandeltes Zitat des Bundesanwalts Dr. Diemer, der am 375. Verhandlungstag allen Ernstes die kritischen Fragen der Nebenkläger nach lokalen Unterstützer*innen des NSU als "Fliegengesumme" und "Irrlichter" bezeichnet hatte.

nsu 2 560 marina sturm uArtur Spannagel, Rahel Weiss und Paulchen Panther, die Inspirationsquelle für die rosa Overalls. Mit der Titelmusik des Films endete das zynische Bekenner-Video der Zwickauer NSU-Zelle. © Marina Sturm

Zum Schluss bitten die Spieler*innen das Publikum selbst zur Inaugenscheinnahme auf die Bühne. Hier ist im Laufe des Abends ein angedeuteter Grundriss des Internetcafés entstanden. Schwer vorstellbar, auf so engem Raum einen Schuss zu überhören, einen Toten zu übersehen – das hat auch die Rekonstruktion der Tat durch Forensic Architecture ergeben, die auf der letzten Documenta zu sehen war.

Überlegene Aufgeklärtheit

Zwischen den Zuschauer*innen verteilt spricht das Ensemble abschließend einige Passagen aus dem scharfen, politisch klaren Schussplädoyer des Nebenklage-Anwaltes Mehmet Daimagüler. Er schlägt konsequent den Bogen von der beschränkten Anklage, die den NSU als isolierte Terrorzelle, nicht als Netzwerk sehen wollte, über den Verfassungsschutz, der nie Teil der Lösung, sondern des Problems gewesen sei, bis hin zur Einsicht, dass hier "institutioneller Rassismus mit hoher Wahrscheinlichkeit Menschenleben gekostet" habe.

"Der NSU-Prozess. Die Protokolle" ist ein schwieriger Theaterabend. Er ist anstrengend durch die schiere Textmasse und das schwer juristische Idiom. Er wirkt in seiner überlegenen Aufgeklärtheit selbstgerecht – und spiegelt doch zugleich treffsicher die eigene selbstgerechte Haltung als informierte Zuschauerin. Er erzählt nichts Neues – und insistiert dennoch völlig zurecht auf der Frage, wo der Aufschrei damals geblieben ist.

Und wo er heute bleibt, wenn die Menschenfeindlichkeit von rechts täglich weiter in den Mainstream drängt, wenn das Morden weitergeht.

 

Der NSU-Prozess. Die Protokolle
von Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schultz, Rainer Stadler
Inszenierung: Janis Knorr, Bühne und Kostüme: Ariella Karatolou, Musik: Thorsten Drücker, Dramaturgie: Petra Schiller.
Mit: Meret Engelhardt, Rahel Weiss, Hagen Bähr, Marius Bistritzky, Thomas Bockelmann, Artur Spannagel, Uwe Steinbruch.
Premiere am 12. September 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

Mehr zum Thema: Die Rede von Thomas Bockelmann, Intendant des Staatstheaters Kassel, bei der Kundgebung gegen rechte Gewalt im Juni 2019 nach dem Mord an Regierungspräsident Walter Lübke.


Kritikenrundschau

Über einen "intensiven" Theaterabend schreibt Bettina Fraschke in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (14.9.2019). Hier "gelingt ein intelligent gebauter Hybrid aus Spiel und Dokumentation". Das Material aus den Prozessen sei "toll zusammengestellt und überaus eindrucksvoll".

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