Vom Flattern des Amphibienvogels

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 13. September 2019. Der Amphibienvogel ist Vogel und Fisch. Eine famose Versöhnung der Gegensätze. David, ein arabophober Jude, reist von Berlin nach Israel, erfährt, dass er eigentlich das Kind palästinensischer Eltern ist, bekommt einen Herzinfarkt und stirbt. Aber dann: Kommt die Geschichte vom Amphibienvogel, der beides kann, Vogel und Fisch. Und wenn der arabisch-jüdische David nicht gestorben wär, dann wär jetzt alles gut.

Sprachen wie am Schnürchen

Burgtheater Spielzeit-Eröffnung die Zweite: Am Akademietheater inszeniert Itay Tiran, neu als Schauspieler im Ensemble, "Vögel" von Wajdi Mouawad. Bei der deutschen Erstaufführung des Textes 2018 in Stuttgart war Tiran in der Rolle des David mit dabei. In Wien übernimmt Markus Scheumann und bestreitet das Gros seines Textes auf Hebräisch. Von Mouawad auf Französisch verfasst, von Eli Bijaoui, Linda Gaboriau, Uli Menke und Jalal Altawil ins Hebräisch, Englisch, Deutsch und Arabisch übersetzt, passt "Vögel" perfekt ins Konzept der neuen Mehrsprachigkeit am Burgtheater. Deutsche und englische Übertitel komplettieren dieses Babylon.

Voegel 560 c Matthias Horn 0637 0 uViele Menschen, viele Sprachen – und viel Versöhnungspotenzial: das Ensemble © Matthias Horn

Wobei "Sprachengewirr" nun grade keines entsteht, völlig unkompliziert switcht der Arzt ins Englische, wenn Davids Frau Norah ihn auf ihre mangelnden Hebräisch Kenntnisse hinweist. Sabine Haupt setzt für diese Psychotherapeutin aus Ostdeutschland aufs Offensichtliche: Als Therapeutin mit Knacks knutscht sie den gemeinsamen Sohn Eitan, Ödipus grüßt. Das war ja auch so einer, dem sich die Hintergründe seiner Herkunft erst spät erschließen. Jedenfalls Mehrsprachigkeit: Kein Gewirr, keine Begegnung, vier Sprachen die nacheinander wie am Schnürchen.

Erzähl mir nichts von Liebe…

Die Versöhnung der Gegensätze ist da erheblich komplizierter. Dreieinhalb lange Stunden dauert es, bis das längst vorhersehbare Geheimnis endlich draußen ist. Alle acht Figuren haben differenzierte Biografien, die es in pompösen Monologen darzulegen gilt. Zum Beispiel bei stimmungsvollem Licht. Oder stimmungsvollem Dröhnen. Jedenfalls mit besserwisserischem Finale: "Also erzähl mir nichts von Liebe". Ach, um Liebe geht’s! Eitan, Forscher in Sachen Genetik, trifft in einer New Yorker Bibliothek auf die Historikerin Wahida. Mit weit aufgerissenen Augen spielt Jan Bülow den sofort verliebten Deppen. Mansplaint erstmal fünf Minuten über Zufall und Schicksal und dass er selber nur an eines glaubt, die 46 Chromosomen.

Voegel 560 c Matthias Horn 0561 0 uZwischen Zufall und Schicksal: das Paar (Deleila Piasko, Jan Bülow) © Matthias Horn

Warum Deleila Piaskos supercoole Wahida bei so viel künstlicher Aufregung nicht stante pede das Weite sucht – das ist ein Geheimnis, das der sonst so gar nicht geheimniskrämerische Abend für sich behält. Sätze wie "dann musst du den Weg zu Ende gehen" oder "dein Leben ist der Schlüssel" sind für sich genommen schon komisch-kitschig genug. Die Inszenierung setzt noch eines drauf, über die verschiebbaren Bühnenelemente flattern Vögel, wogen Wellen. Wenn David am Krankenbett seines bei einem Selbstmordattentat verletzten Sohnes weint, dann regnet es, damit auch wirklich alle verstehen, dass das jetzt wirklich traurig ist.

Es ist alles Schicksal?

Größter Lacher des Abends: "Wir reden vom Hochzeitsessen, können uns aber nicht entscheiden: koscher oder halal". So geht Israel-Palästina-Konflikt auf Wohlfühltemperatur. Der Satz kommt von Salwa Nakkara, die Davids Mutter bzw. Stiefmutter Leah mit rauer Nonchalance gibt. Die Mütter des Textes sind tendenziell unsanft, eher noch brutal. Herauszustellen, dass auch Frauen aggressiv sein können, das scheint Mouawad ein Anliegen gewesen zu sein. In einer Szene wird Wahida von der Soldatin Eden vergewaltigt. Währenddessen erfolgt die Explosion, bei der Eitan verletzt wird. Es ist alles Schicksal, es hängt alles zusammen.

Die Liebe zwischen Eitan und Wahida, zwischen einem Juden und einer Araberin, setzt die telenovelesken Geschehnisse in Gang, die am Ende zu Davids Tod und Auferstehung als Amphibienvogel führen. Diverse Motive stören dieses Happy End, lassen sich nicht in der Fabel von den versöhnten Gegensätzen aufheben. Zum Beispiel: Zunächst verwehrt sich Eitan als handlungsfähiges Individuum gegen alles Schicksalsgerede. Um dann in der Person seines Vaters von den Genen als Schicksal heimgesucht zu werden. Scheumanns David hat dann schon den nackten Oberkörper voll von arabischen Schriftzeichen. Der Jude, der, wenn endlich nackt, in nackter Wahrheit ein Araber ist. Die ganze Story ringt mit einem essenzialistischen Identitätsverständnis um auf den letzten Minuten zur Versöhnung zu schreiten. Und die Inszenierung folgt brav dem Text.

 

Vögel
von Wajdi Mouawad
Regie: Itay Tiran, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Su Sigmund, Musik: Nadav Barnea, Video: Yoav Cohen, Licht: Nadav Barnea, Dramaturgie: Alexander Kerlin, Übersetzung Hebräisch: Eli Bijaoui, Übersetzung Englisch: Linda Gaboriau, Übersetzung Deutsch: Uli Menke, Übersetzung Arabisch: Jalal Altawil.
Mit: Deleila Piasko, Jan Bülow, Markus Scheumann, Sabine Haupt, Eli Gorenstein, Salwa Nakkara, Yousef Sweid, Nadine Quittner.
Premiere am 13. September 2019
Dauer: 3 Stunden und 30 Minuten, 1 Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Regisseur Itay Tiran gehe "dahin, wo es wehtut – und ist dabei trotzdem unterhaltsam", befindet Christian Gampert im Deutschlandfunk (14.9.2019): "Das Stück mit seinen vielen Nebensträngen ist mit vier Stunden Spielzeit eindeutig zu lang. Aber Tiran führt die inner-israelische Identitätsdebatte sehr selbstkritisch und nutzt die Vielsprachigkeit des Stücks als kreativen Raum – man spricht Hebräisch, Arabisch, Englisch und Deutsch."

Einen "großartigen und berührenden Abend" beschreibt Barbara Petsch in der Presse (14.9.2019), der "im Akademietheater die Premierenbesucher zum Lachen und Weinen" gebracht habe. Im Minutentakt würden hier "Familiengeheimnisse, Verdrängungen & Verletzungen enthüllt." Schade sei nur, dass das Stück lediglich im kleinen Haus zu sehen sei  – obwohl es das Zeug habe, "mit seinem Stoff und seiner Vielschichtigkeit Scharen von Besuchern" anzulocken.

Das Stück sei insgesamt etwas zu prätentiös angelegt, um völlig zu überzeugen, schreibt Martin Lhotzky in der FAZ (16.9.2019). Und die Inszenierung? "Gerade die Bilder von sich in die titelgebenden Vögel verwandelnden, sanft herabrieselnden Buchstaben und die Quasi-Ringparabel eines vor fünf Jahrhunderten verstorbenen, gewaltsam zum Christentum bekehrten arabischen Poeten, sind zu märchenhaft für das Thema."

"Die Leinwände im Bühnenbild dienten als mobile Übertitelungsflächen, aber auch für hemmungslosen Illustrationskitsch", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (14.9.2019). "Da lässt es Itay Tirans Inszenierung richtig stadttheatern. Nicht der ästhetische Zugriff zählt, sondern der Stückinhalt, die Verteidigung verhärteter Fronten." Das gut geölte Konversationsdrama habe er handwerklich im Griff, "plotgetreu schnurren die markigen Dialoge ab". Sie schließt: "Man kann sich bei diesem Stück hervorragend der eigenen Aufgeklärtheit versichern."

Itay Tiran "erzählt in fast vier Stunden, was in höchstens zwei schlüssiger auf den Punkt hätte gebracht werden können", befindet Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (16.9.2019). "Die Familienaufstellung im beliebigen Stellwand-Bühnenbild und in einer statischen, altbackenen, undramatischen, mehrsprachigen Inszenierung gerät zäh, klischeereich, sentimental, vage."

Wolfgang Kralicek schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 17.9.2019, 18:48 Uhr): Ästhetisch hätte sich der neue Intendant Martin Kusej kein härteres Kontrastprogramm ausdenken können: Hier die "monologischen Wucht einer antiken Tragödie" da der "Dialog-Pingpong eines Well-made-Play" wie "Vögel". Die "filmisch anmutende Form des Dramas" erinnere an die Bühnenepen von Robert Lepage, sei aber nicht so elegant konzipiert, thematisch sei "Vögel" mit den interkulturellen Tragikomödien von Ayad Akhtar verwandt, aber nicht so pointiert geschrieben. Itay Tiran habe "recht straight" und "sachdienlich" Regie geführt und die Schauspieler machten es "meistens ziemlich gut".

 

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