Das träge Tröpfeln der Zeit

von Jan Fischer

Hannover, 13. September 2019. Schauen wir uns das einmal an. Aus rot wird gelb, auf der Raucherterrasse hängt nun ein beleuchteter Sinnspruch aus "Iphigenie", für das Foyer wurden neue Fliesen und ein neuer Kronleuchter angeschafft, und über der Bar gibt es ein paar neue Lichtleisten. Mehr Licht also: Nach zehn Jahren mit dem ehemaligen Intendant Lars-Ole Walburg startet das Schauspiel Hannover unter Leitung von Sonja Anders in die neue Spielzeit.

Sitcom sepia

Die erste Inszenierung ist eine etwas eigenartige Wahl, aber auf den zweiten Blick so eigenartig auch nicht: Laura Linnenbaum inszeniert den Roman "Zeit aus den Fugen" des Science-Fiction-Übergurus Philip K. Dick. Es geht um Ragle Gumm, der als Bürger einer US-amerikanischen Kleinstadt ein großes Talent hat: Er lebt davon, das Rätselspiel "Wo taucht das kleine grüne Männchen als nächstes auf?" in der Lokalzeitung zu lösen. Aber irgendwie, und ab gleich zu Beginn, scheint diese Realität nicht so ganz richtig zu funktionieren: Die Projektionen der Wohnungen und Häuser auf der eigenartig spiegelnden Membran im Hintergrund der Bühne flackern, Telefonbücher tauchen auf, die nicht anrufbare Nummern enthalten. Ragle hört mysteriösen Funkverkehr ab, in dem andauernd sein Name erwähnt wird. Die Realität beginnt zu zerbröseln.

Soweit, so Dick: Als Autor, der unter anderem die Vorlagen für "Blade Runner", "Total Recall", "Minority Report" und "A Scanner Darkly" lieferte, auf dessen Ideen "Matrix", "eXistenZ" oder "The Truman Show" wenigstens teilweise basieren, schrieb er immer Geschichten, in denen die Realität auf die ein oder andere Art fragil ist, sich als etwas ganz anderes entpuppt, hinter dem wiederum eine noch dunklere Wirklichkeit liegt.

ZeitausdenFugen1 560 Kerstin Schomburg uAlles bleich überpudert: aber die Realität entpuppt sich in "Zeit aus den Fugen" als eine andere als sie scheint © Kerstin Schomburg

Wer bin ich? Was bin ich in dieser Welt? Was ist das überhaupt für eine Welt? sind auch Fragen, die in "Zeit aus den Fugen" eine Rolle spielen. Es geht um Kulissen, um das Leben in einer gemütlichen künstlichen Welt, hinter der eine harte Realität liegt – und der Titel ist auch noch ein Hamlet-Zitat. Guter Stoff für eine Auftaktinszenierung einer Spielzeit, einer neuen Intendanz, lässt sich doch zumindest ein kleiner Teil einer Poetik, der Idee des Umgangs mit dem Theater hineinschleichen, wenn man das denn möchte.

Rätselspiele lösen

Laura Linnenbaum lässt ihre Fünfzigerjahre-Welt zunächst einmal in schönstem Sitcom-Sepia erstrahlen: Auf die stumpfe Spiegelfläche im Hintergrund wird ein Wohnzimmer projiziert, die Darsteller und Darstellerinnen sind alle bleich geschminkt. Die fahlen Petticoats und Hosenträger-Kombinationen stauben vor blassem Puder. Gleich zu Anfang wird auch Understatement betrieben: Die Bühne ist oben und an den Seiten künstlich begrenzt, in der Tiefe wird sie abgeschlossen von der stumpfen Spiegelfläche, die sich letztendlich als semipermeable Membran zur Wirklichkeit entpuppt. Aber bis dahin dauert es eine Weile, und bis dahin ist es auf der Bühne vor allem: Eng, klein, beschränkt.

 ZeitausdenFugen2 560 Kerstin Schomburg uIrgendwann schafft es Gumm durch die semipermeable Membran hinten an der Wand zu gelangen. Wo dann zumindest keine Kunstpelze mehr auf ihn warten ©  Kerstin Schomburg 

Und obwohl schönstes Sitcom-Setup, wird dieses nicht ausgespielt. Obwohl Dicks Frauenrollen eigentlich zu gar nichts taugen außer sie für komischen Effekt in ihren Klischees völlig zu überreißen, passiert auch das nicht. Obwohl zwar alles in Sepia getaucht ist, wird auch dieser Effekt nicht bis zum Ende ausgereizt. So tröpfelt die Inszenierung über weite Strecken als eigenartiges well-made play dahin, so lange, bis Gumm es schafft, durch die semipermeable Membran in die Wirklichkeit zu entfliehen, wo im Grunde auch nur Kunstnebel, ein wenig Licht und ein paar Statisten aus "Uhrwerk Orange" auf ihn warten, um ihm zu erklären, dass er der einzige ist, der die Einschlagstellen der Raketen der Separatisten auf dem Mond vorhersagen kann, dies aber, aufgrund eines Nervenzusammenbruches, in Form des Rätselspiels in der Lokalzeitung tun muss.

Zu dicht an der Vorlage

Linnenbaums Inszenierung hält sich dabei sehr treu an die Vorlage, nur das Ende, in dem Gumm sich für die freiheitlichen Mondseparatisten und gegen seine faschistischen Erden-Gefängniswärter entscheidet, lässt sie offen. Am Ende schließt sich die Membran wieder und das Spiel beginnt von vorne mit Ausnahme von Ragles Neffen, der in 2019er-Straßenkleidung in die Fünfzigerjahre-Kulisse gelaufen kommt: Ein Kind, so mag die Holzhammer-Botschaft lauten, das die Zukunft ist, weil es nicht mehr Teil der alten Konflikte ist.

Dass die Inszenierung allerdings in weiten Teilen so dicht an der Vorlage bleibt, ist Teil des Problems: Während Dicks Welten und Ideen zwar oft andere inspiriert haben, ist der Autor selbst nie ein großer Stilist gewesen, über weite Strecken wirkt auch "Zeit aus den Fugen" recht hölzern. Das überträgt sich leider auf die Inszenierung wie auf die Darsteller und Darstellerinnen, die große Probleme haben, zwischen den grob gezeichneten Figuren und den gestelzten Dialogen ins Spiel zu finden.

Akkurate Zukunftsvision

Gleichzeitig schafft die Inszenierung es auch nicht, sich argumentativ von der Zeit der Vorlage zu lösen, dem Jahr 1959. Was damals als Gegenwartssatire funktioniert haben mag, funktioniert heute nicht, auch wenn ständig die Rede von Mauern ist, auch wenn Gumm über sich selbst in modern anmutenden Nachrichtensendungen aufgeklärt ist, auch wenn im Hintergrund einmal aktuelle Konflikte heruntergebet werden – Dicks Roman war eine erschreckend akkurate Zukunftsvision. Die Möglichkeit einer Entscheidung zwischen zwei Polen – Wirklichkeit oder komfortabler Lüge, Faschismus oder Aktivismus –, die der Text vorgibt, ist schlicht zu unterkomplex, um sie an eine Wirklichkeit anzudocken, in der tausend Pole ständig wandern, in der Wirklichkeit und Realität, Gut und Böse, eben nicht so einfach identifizierbar sind.

So bleiben in "Zeit aus den Fugen" eine Menge Möglichkeiten, bleibt eine Menge Wumms auf der Strecke, viele Stellschrauben werden nur halb aufgedreht, wo sie voll aufgedreht sicherlich spannende Ergebnisse erzielt hätten. So zeigt das Schauspiel Hannover leider auch eine eher träge dahin tröpfelnde Auftaktinszenierung unter der neuen Intendanz. Obwohl jetzt überall mehr Licht ist. Und der Kronleuchter wirklich cool aussieht.

Zeit aus den Fugen
von Philip K. Dick Regie: Laura Linnenbaum, Bühne: Valentin Baumeister, Kostüme: David Gonter, Musik: Justus Wilcken, Video: Jonas Englert, Dramaturgie: Johanna Vater.
Mit: Torben Kessler, Kaspar Locher, Stella Hilb, Bernhard Conrad, Sabrina Ceesay, Fabian Felix Dott, Miriam Maertens, Alrun Hofert, Lucia Kotikova, Mark Tumba.
Premiere am 13. September 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

staatstheater-hannover.de 

 

Kritikenrundschau

Muss man das so schultheatermäßig unterfordernd machen in der ersten Premiere, fragt die Kritik in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (16.9.2019).  Wie oft bei Dick ist die Idee, die der Geschichte zugrunde liegt, groß, aber die Art, wie von ihr erzählt wird, nicht besonders. "Auf der Bühne wird das zum Problem." Im allzeit wabernden Bühnennebel entstehe fast eine Schwarzweiß-Welt. "Die Idee, die Inszenierung, die schauspielerischen Leistungen, das alles wirkt merkwürdig eindimensional." Diesem Theater fehle das Abgründige, Spielerische, Verrückte.

Viel zu lange wirke die Inszenierung wie aus einer anderen Zeit, so die Neue Presse (16.9.2019). "Da wird konsequent laut und deutlich gesprochen und immer schön nach vorne deklamiert. Das mag Traditionalisten entgegenkommen. Aufregend ist es nicht." Dicks Figuren seien oft holzschnittartig, und hier bleiben sie es auch.

 

Kommentare  
Zeit aus den Fugen, Hannover: Vorfreude abgekühlt
Eine neue Spielzeit, eine neue Intendanz, ein neues Ensemble und neue Regiehandschriften. Man lechzt nach Statements - inhaltlich ... formal. Und dann ... passiert kaum etwas. Eine belanglose und reichlich uninspirierte Inszenierung - ein bisschen Pleasantville, ein bisschen Clockwork Orange. Alles schon gesehen. Und die Handbremse bleibt angezogen. Bei den Darstellern blitzt es manchmal, doch dann verliert sich auch dies wieder in dieser irgendwie so unaufregenden und fast schon lieblosen Inszenierung. Energie auf der Bühne, im Publikum oder auch in der Kommunikation zwischen dem da oben und denen da unten: Fehlanzeige. Der Applaus fällt freundlich aus und Begeisterung ist etwas anderes. Schade. Ich hätte mir wirklich mehr Wumms von einem solchen Auftakt gewünscht. Erst recht, da das Publikum in Hannover sich doch in den letzten Jahren als leidensfähig und aufgeschlossen erwiesen hat. Mal schauen, was die nächsten Premieren hergeben ... seit gestern bin ich in meiner Vorfreude deutlich abgekühlt.
Zeit aus den Fugen, Hannover: enttäuschend
Was für eine Enttäuschung. Hatte auf mehr Haltung und Energie gehofft.
Zeit aus den Fugen, Hannover: bombastisch
Eine „bombastische Spielzeit“ begänne in Hannover, so angekündigt auf facebook vom Theater, und dann diese eher bombastische Enttäuschung. Toller Stoff, dennoch.
Zeit aus den Fugen, Hannover: zart, konzentriert
Der Abend mag langatmig sein und es ist ein merkwürdiges Gefühl in so einer Eröffnung zu sitzen und das Gefühl zu haben, es zündet nicht so wirklich. Aber eine „bombastische Enttäuschung“ sah ich nicht. Kein großer Wurf, sicher, aber mir gefiel die zarte, konzentrierte Erzählung.
Zeit aus den Fugen, Hannover: mehr Neugier
Den Spielzeitstart eines engagierten und hochmotivierten Teams nach einer einzigen, vielleicht nicht "bombastischen Premiere, so mäkelig, maulig und instant-schlechtgelaunt runterzuschreiben, ist vollkommen unangemessen. Jetzt bleibt doch mal länger als 5 Minuten, neugierig und freundlich zugewandt!
Zeit aus den Fugen, Hannover: Vorbildlich
Mich ärgert maßlos, Herr Fischer, dass sie ihren berechtigt kritischen Tönen die Beschreibung des Foyers und eines Kronleuchters voranstellen, kein Wort aber zur diversen und geschlechterparitätischen Zusammenstellung des Ensembles. Was diese Faktoren angeht sind das neue hannoveraner Leitungsteam und Ensemble vorbildlich aufgestellt. Wenn die dann Zeit brauchen Wumms zu entfalten: Bitte! Die Zeit sollte Mann ihnen geben.
Zeit aus den Fugen, Hannover: 100-Tage-Frist
In der Politik gibt es die 100-Tage-Frist. Erst danach sollte die Arbeit der Entscheider bewertet und beurteilt werden. Auch eine Intendanz benötigt Zeit, damit die vielfältigen Tätigkeiten ihre Wirkung erzielen können. Sei es in der Außendarstellung durch Inszenierungen, als auch in das Theater hinein.
Es ist doch absurd, von einer einzelnen Aufführung auf eine gesamte Intendanz zu schließen. Das gleiche gilt übrigens auch für das Burgtheater, welches gerade in den Himmel geschrieben wird.
Zeit aus den Fugen, Hannover: wohlwollend
zu #6: Aber das ist doch viel taktvoller so von Herrn Fischer! Würde er erst beschreiben, dass die in Hannover jetzt eine gut gemeinte Frauenquote eingeführt und das Ensemble nach Gesichtspunkten der Diversität ausgewählt haben, um danach einen Verriss zu schreiben, wäre das doch Öl ins Feuer derer, die dann sagen können, seht Ihr, (Frauen-) Quote ist nicht gleich automatisch (künstlerische) Qualität! Das ist genau die Falle, in die man damit tappen kann. Ich denke, insofern ist das Nicht-Erwähnen dieser Ansätze der neuen Leitung an dieser Stelle, im Rahmen einer nicht so guten Kritik im Grunde nicht ärgerlich, sondern wohlwollend. Und der Kronleuchter bricht sich sicher keinen Zacken aus der Krone, wenn er besprochen wird.
Ansonsten schließe ich mich meinem Vor-Schreiber an: Es war doch nur eine erste Premiere, jetzt geht es erst los dort, alles braucht seine Zeit... Und meines Erachtens reichen auch 100 Tage nicht für ein Urteil über eine Theaterleitung, das braucht Jahre!
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