Der Planet brennt und wir tanzen

von Valeria Heintges

Zürich, 18. September 2019. "They shoot horses, don't they?", auf Deutsch: Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss, ist ein Buch von Horrace McCoy, das von Tanzmarathons in Zeiten der großen Depression in den USA der 1930er-Jahre handelt. 1969 wurde es von Sydney Pollack unter anderem mit Jane Fonda verfilmt und neunmal für den Oscar nominiert, wobei am Ende aber nur Gig Young als Bester Nebendarsteller eine Ehrung erhielt.

Neues Leitungsteam am Neumarkt

Jetzt haben Hayat Erdogan, Tine Milz und Julia Reichert das Werk ausgewählt, um damit ihre Intendanz am Zürcher Theater Neumarkt zu eröffnen. Sie machen aus der Geschichte um junge Menschen, die sich hunderte, tausende Stunden lang in einem Wettbewerb die Seele aus dem Leib tanzen, eine dreiteilige Inszenierung. Mit einem Tanzmarathon auf dem Theaterspektakel im August, einer fünftägigen "performativen Eventskulptur" in der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs und endlich einer "Freien Bühnenbearbeitung" im Saal. Regisseur ist Mike Bonanno (ein Alias von Igor Vamos). Der bildet mit Andy Bichlbaum (Alias von Jacques Servin) die Gruppe The Yes Men. Das Duo kapert Marken oder Webseiten von Firmen und gibt sich als deren Inhaber aus. Die WTO war schon Opfer, ebenso ExxonMobil oder Dow Chemical. Eigentlich arbeiten The Yes Men nicht als Theaterregisseure.

TheyShootHorses6 560 Philip Frowein uMit Hüftschwung gegen die große Depression: Jakob Leo Stark und Alireza Bayram © Philip Frowein

Die drei Frauen haben den Theatersaal leergeräumt, der sich mit seinen großen Fenstern hervorragend als Kulisse für einen Tanzmarathon eignet. An zwei Seiten der langgezogenen Tanzfläche sind Tische aufgebaut, der Großteil des Publikums sitzt auf einer kleinen Tribüne.

Mike Bonanno dreht als Conferencier im gelben Anzug, mit Cowboyhut und auf Rollschuhen seine Kreise. Er erklärt die Regeln: 50 Minuten ununterbrochenes Tanzen, dann zehn Minuten Pause. Seit 650 Stunden schon, so behauptet er, seien die fünf Tänzer in Bewegung. Er begrüßt uns auf dem "graveyard of broken dreams", dem Friedhof der zerbrochenen Träume, und drischt auch sonst abgedroschene Phrasen, spricht von "tough rules for tough times", harten Regeln für harte Zeiten, und beschwört das "survival of the fittest", das Überleben der Stärkeren. Dazu bewegen sich die Schauspieler; ungern nur mag man das Tanz nennen. Eher ist es eine rhythmische, fast mechanische Bewegung von Robotern (Choreographie: Jeremy Nedd).

Erinnerungen an jüngste artivistische Aktionen

Bonanno erinnert an die Aktionen beim Theaterspektakel und am Hauptbahnhof, zeigt Videos davon. Und erzählt auch von der etwas missglückten Medienperformance des Theaters, in der vergangene Woche eine Pressekonferenz einberufen wurde, auf der man behauptete, der Rüstungskonzert RUAG würde seine Waffenproduktion einstellen.

Die Schauspieler treten auf, werden mit echten Namen vorgestellt – eine nette Idee für die erste Inszenierung. Aber es erklärt nicht, warum fünf in Wettbewerben gegeneinander antreten – etwa im Laufband-Duell oder in einem Schnelltanz-Rennen –, während am Rand zusätzlich Choreograf Jeremy Nedd und Schauspielerin Anna Hofmann ununterbrochen ihre immergleichen Bewegungen vollführen, und Bonanno erklärt, sie hätten entschieden, auf Pausen zu verzichten. Das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Boden grundiert die Inszenierung auch noch, wenn das Licht mal ausgeht.

TheyShootHorses7 560 Philip Frowein uDer Bühnenentwurf für den Tanzabend am Neumarkt Theater Zürich stammt von Laura Knüsel © Philip Frowein

Nach einer Ruhepause kommen die anderen fünf Tänzer deutlich müder zurück. Bewegen sich nur noch in Zeitlupe, ein jeder in einer Fensternische. Der Conférencier variiert seine Ansagen kaum, auch das restliche Geschehen wiederholt sich, die Zuschauer hängen mit in der Zeitschleife. Da plötzlich sagt Bonanno: "The planet is burning, and we are dancing", der Planet brennt und wir tanzen. Auch die Schweiz sei schuldig, weil die RUAG Waffen an diejenigen verkaufe, die in Brasilien die Urwälder anzündeten. Die Botschaft wird nicht theatralisch gebrochen, nicht verfremdet, sondern prasselt eins-zu-eins auf die Zuschauer ein.

Showträume, Alpträume

Nach 60 Minuten sprechen die Schauspieler die ersten deutschen Worte. Ein jeder berichtet von Träumen, Alpträumen, Sehnsüchten. Vom Wunsch, aus dem Raum auszubrechen. Nach einer weiteren Pause kommen die Tänzer wieder, wundersamerweise wieder fit. Die Show geht weiter. "Show-Time is Prime-Time", sagt Bonanno. Da geht das Licht aus, Ende der Inszenierung. Gerade, wo es doch noch hätte spannend werden können.

theyshoothorses6 560 vl HayatErdogan JuliaReichert TineMilzFlavio Karrer uDas neue Leitungsteam des Theaters Neumarkt Zürich: Hayat Erdoğan, Julia Reichert und Tine Milz © Flavio Karrer

Die Arbeit hinterlässt einen ratlos, ist sie doch völlig untheatralisch und über weite Strecken extrem handlungsarm. Und zwischendurch so moralisch, als wünschte sich hier jemand Agitprop-Theater zurück. Das Intendantinnen-Trio plant, vernebelt von bemüht gescheiten Worten und Sätzen, ihre Veranstaltungen unter drei Labels zu packen: "Playground" für künstlerische Experimente, "Theater" für zeitgenössische Stoffe und "Akademie" für Gespräche, Diskussionen, Konferenzen. So leblos, wie das "Theater" gestartet ist, scheinen seine Überlebens-Chancen im Kampf der "Survival of the fittest" denkbar schlecht.

 

They shoot horses, don't they
nach Horrace McCoy
Konzept: Mike Bonanno, Hayat Erdoğan, Jeremy Nedd, Co-Regie, Master Of Ceremony: Mike Bonanno, Choreografie, Co-Regie: Jeremy Nedd, Musik: Janiv Oron, Bühne: Laura Knüsel, Kostüm: Daniela Zorrozua, Video Art: Matt O'Hare, Dramaturgie: Hayat Erdoğan.
Mit: Sascha Ö. Soydan, Jeremy Nedd, Anna Hofmann, Jakob Leo Stark, Alireza Bayram, Leon Pfannenmüller, Florian Denk.
Premiere am 18. September 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

Für die Tänzerinnen und Tänzer sei die Inszenierung eine körperliche Herausforderung, "die sie hervorragend meistern: zu Beginn in Hochform und elegant, später zerknittert und ausgepowert", schreibt Karl Wüst in der Aargauer Zeitung (19.9.2019). "Eine unterhaltsame, eine grelle Show ist dieser Abend, nicht weniger, aber auch nicht mehr."

"Die gesamte künstlerische Versuchsanlage ist überambitioniert – und ebenso überdimensioniert wie der Tanzmarathon der Dreissiger. Aber es ist sympathisch, dieses unverdeckte, spürbare Zuvielwollen; dieses unsubtile Ringen mit dem sperrigen Ding Theater, das sich in die Zeit und Zuschauergemeinschaft hineindehnt", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (19.9.2019).

"Dieser Wettbewerb hat kein Ziel mehr, das Tanzen und die Qual haben keine Notwendigkeit. Leben heisst sich in Bewegung halten, nicht umfallen, mehr nicht", schreibt Daniele Muscionico in der NZZ (20.9.2019). "Es ist eine grässliche Sinnleere im Raum. Und mit jeder neuen Runde, die getanzt wird und die Bonanno dicht an uns vorbeischmiert, fühlt man sich mehr und mehr in Geiselhaft. Man ist gefangen in der Zeit, dem Raum der Behauptung – und in den eigenen Erwartungen. Das ist Theater? Das ist auch Theater."

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