Einmal Siegerin der Geschichte sein

von Cornelia Fiedler

Düsseldorf, 22. September 2019. Zerstören, das ist die eine Option. Aufgeben, verschwinden, vielleicht sterben die andere. Charlie ist dreizehn Jahre alt und die Welt um sie herum geht rasant vor die Hunde: Ihre Mutter ist schwer alkoholabhängig und von psychischen Schüben gebeutelt, Europa steht kurz vor dem dritten Weltkrieg, die Straßen sind mit Tierkadavern gesäumt, eine Suizidwelle erfasst die Erwachsenen und selbst das ehemals gemäßigte Klima scheint aufzugeben, Stürme und Überschwemmung verwüsten das Land. Klingt düster, stimmt aber nicht. Im Angesicht der Katastrophe inszeniert Regisseur Simon Solberg seine Theateradaption von Helene Hegemanns "Bungalow" am Schauspiel Düsseldorf energisch, lebendig und stark auf Pointe und Effekt – zu stark.

Am Abgrund

Charlie, die Hauptfigur des dystopischen Romans, hat eine radikal subjektive Lebensanschauung entwickelt – intellektuell, kindlich und schwer lakonisch zugleich. Sie, die in ständiger Angst lebt, entscheidet sich für einen überraschend zwingend wirkenden Ausweg aus ihrem Alltag der Armut und Brutalisierung: Sie verliebt sich unwiderruflich in das neu eingezogene reiche Paar aus der Luxusbungalowanlage, die unmittelbar an ihre Sozialbausiedlung grenzt. Die zwei sind schön und abgefuckt, Avantgarde und Abgrund zugleich: "Ich musste die beiden besitzen, verachten und wegschmeißen. Ich war dreizehn Jahre alt. Ich fiel fast in Ohnmacht", heißt es in "Bungalow". Das zu erreichen, ist ein langer Weg, vor allem wenn man unauffällig, mager und verwahrlost ist.

bungalow 2 560 Sebastian Tessenow Florian Lange Lea Ruckpaul Minna Wündrich c thomasrabsch 2019 u Lebensverliererinnen: Lea Ruckpaul und Judith Rosmair  © Thomas Rabsch

Einmal, als ihre Mutter im Suff schwer handgreiflich wird und den letzten Funken von Geborgenheit für immer auslöscht, kommt dann doch Option zwei ins Spiel, Aufgeben: Lea Ruckpaul, die die Jugendliche bis dahin mit rotzig rauer Underdog-Energie spielt, zieht sich mit letzter Kraft an zwei langen weißen, miteinander verknoteten Vorhängen hinauf. Die waren bis dahin schon als Schaukel, Beobachtungsposten und Ort für Sexphantasien im Einsatz. Nun kauert sich Charlie, barfuß im schwarzen ärmellosen Shirt und kurzen Hosen, zwischen die hängenden Stoffbahnen und schließt sie wie in einem Kokon komplett um sich herum. So schwebt sie minutenlang über der apokalyptisch dunklen Bühne. Unter ihr laufen die anderen als verirrte Chronist*innen herum und berichten in den Worten des Mädchens, was geschieht: Sie schluckt Tabletten, trinkt irgendwelchen Alkohol, legt sich in die Badewanne, will "einfach nur pennen" – und bleibt am Leben.

Skizzen auf Papier

Das ist eines der stärksten Bilder des Abends, der die gesellschaftlichen Widersprüche in visuelle Kontraste übersetzt. Auf der einen Seite sind da die mutmaßlichen Verlierer*innen: Charlie, ihre Mutter (Judith Rosmair), deren Ex (Florian Lange) und ihr einziger Freund Iskender (Jonas Friedrich Leonhardi). Sie alle wirken in ihren zunehmend mit Kreide oder Farbe beschmierten dunklen Klamotten wie Skizzen, flüchtige, wieder verworfene Fingerübungen einer Künstlerin, wie sie Charlies Mutter hätte sein können – wäre da nicht die Krankheit. Konsequent bestehen auch die Kulissen aus Papier und Leinwänden, die von Charlie dirigiert auf- und abfahren, mit traurigen Gesichtern bemalt, zerrissen, zerschnitten oder als Projektionsfläche genutzt werden.

bungalow 2 560 Sebastian Tessenow Florian Lange Lea Ruckpaul Minna Wündrich c thomasrabsch 2019 uSebastian Tessenow, Florian Lange, Lea Ruckpaul, Minna Wündrich  © Thomas Rabsch Darauf wird die andere Seite projiziert, das Unerreichbare: Sebastian Tessenow als Georg und Minna Wündrich als Maria spielen Charlies Idole, die neuen, atemberaubenden Nachbarn. Sie erscheinen in Nahaufnahme auf der Leinwand, sie flirten, feiern, diskutieren angeregt, trinken Champagner, haben Sex. Dass sie in Solbergs Interpretation von Vornherein trashig, etwas halbseiden und so gar nicht geheimnisvoll wirken, diskreditiert Charlies Idee der Selbstermächtigung über diese Liebe allerdings vorschnell. In der Buchvorlage sind die beiden eher punkig, weltgewandt und angenehm abgeklärt.

Neue Kausalitäten

Auch von der Dramaturgie des Romans weicht Solberg stark ab: Er hat die Kapitel über die Vorgeschichte von Georg und Maria gestrichen und die Handlung chronologisch neu geordnet. Statt mit der Endphase der Dreierbeziehung beginnt er mit Charlies ersten Erinnerungen an ihre unberechenbare Mutter, es folgt die Freundschaft mit Iskender, die neue Perspektiven eröffnet und aus falschem Stolz endet, dann die Abwärtspirale zu Hause und die Obsession mit dem Nachbarspärchen.

Die bei Hegemann eher assoziativen, bewusst ziellos dahintreibenden Szenen sind so zusammengeschnitten, dass sich neue Kausalitäten ergeben. Auch der Versuch, die tiefe Lakonie in bühnentaugliche Pointen zu übersetzen, indem beispielsweise Iskender zu einem Fall von ADHS mutiert, führt weit weg von der Vorlage – und deren Anspruch. Dass Charlie ihre eigenen quälenden Ängste und Demütigungen überwindet, indem sie sich als Minderjährige in eine illegale Beziehung mit zwei Erwachsen stürzt; dass sie das tut, um diese Liebe zu überwinden, um zu dominieren, die beiden irgendwann verlassen zu können und als Siegerin aus der Geschichte hervorzugehen, diese im besten Sinne irritierende Grundidee gerät da fast in den Hintergrund.

 

* Der Schluss des ersten Absatzes wurde am 23. September 2019 um 12:01 Uhr aktualisiert.

 

Bungalow
von Helene Hegemann
Bühnenfassung von Simon Solberg
Inszenierung: Simon Solberg, Bühne: Simon Solberg und María Reyes Pérez, Kostüm: Maike Storf, Musik: Miles Perkin, Dramaturgie: Janine Ortiz.
Mit: Lea Ruckpaul, Judith Rosmair, Florian Lange, Sebastian Tessenow, Minna Wündrich, Jonas Friedrich Leonhardi
Premiere am 22. September 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.dhaus.de

 

Mehr zu Helene Hegemann gibt es hier.

 

Kritikenrundschau

"Es gibt viele Formulierungen, die hängen bleiben. Helene Hegemann schreibt von einer 'Barbarei des Aneinandervorbeilebens', von einer Zerstörungslust, die aus bohrender Langeweile entsteht. Das ist im Einzelnen nicht neu, aber im Gesamtbild packend und verstörend", so Stefan Keim auf SWR2 (23.9.2019). "Regisseur Simon Solberg stellt sich mit dem hervorragenden Düsseldorfer Ensemble ganz in den Dienst des Buches. Seine Inszenierung hat Rotzigkeit, Tempo – und immer wieder Momente berührender hilfloser Verlorenheit."

"Die zügig ablaufenden, pausenlosen 100 Katastrophen-Minuten lockert Solberg geschickt auf", schreibt Michael-Georg Müller in der Westdeutschen Zeitung (24. 09. 2019), "mit grotesken Songs und wohl dosierten Einsprengseln aus Grusel-Comedy und Kabarett, die das Leiden der Protagonistin und ihre hoffnungslose Orientierungslosigkeit ertragbar machen". Ansonsten aber müsse das Publikum dieser Inszenierung, die "den Nerv der Zeit" treffe, jedoch "Mut haben und gefasst sein, eine bittere Pille zu schlucken".

Simon Solbergs Inszenierung konzentriere sich, so Dorothee Krings in der Rheinischen Post (24.9.2019), "auf die Schilderung der dysfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehung in all ihren drastischen, erschreckenden, manchmal auch komischen Details". Dabei finde er immer wieder "treffende Bilder, um den erzählten Horror darzustellen". Dennoch gelinge es ihm nicht, einige Schwächen der Romanvorlage wettzumachen: "Die 'Liebesbeziehung' des Mädchens zu den coolen Nachbarn etwa bleibt unplausible Pose, die apokalyptischen Zeichen in der Umwelt düstere Staffage."

Eine "richtig gute Übersetzung" des Romans auf die Bühne hat Christiane Enkeler für Deutschlandfunk Kultur (22.9.2019) gesehen. Den Fokus lege Solberg dabei auf den Coming-of-Age-Strang des Romans, den er mit einem "ganz klaren Konzept" auf die Bühne bringe. Auch der mitunter humorvolle Ton von Hegemanns Erzählweise komme "im Spiel sehr raus." Daneben gefällt der Rezensentin die "Zartheit dieser Zeichentrickfiguren, die mit einer ganz kindlichen Hand gezeichnet sind und die aber auch noch einmal zeigen, wie einsam dieses Mädchen ist". Das gelinge "sehr poetisch".

"Bungalow" sei "einer jener Theaterabende, bei denen sich Schauspieler in Prosamaschinen verwandeln, die ellenlange Passagen aus Romanen auswendig lernen und ungefähr 1000 Rollen spielen müssen, während die Regie sich verzweifelt bemüht, die einzelnen Episoden nach brauchbaren Spielanlässen abzuklopfen", findet Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (25.9.2019). Wer das Buch nicht kenne, habe große Mühe, dem Plot zu folgen "und hofft auf die eine oder andere Pointe, die sich in glücklichen Fällen denn auch einfindet". Simon Solbergs Inszenierung erfülle dieses Programm komplett. An den Schauspielerinnen, die Krumbholz lobt, liege es nicht. "Eher daran, dass man mit dieser Art von epischem Theater prinzipiell auf dem Holzweg ist."

 

Kommentare  
Bungalow, Düsseldorf: Keine echte Liebe
Zur obigen Kritik: Jemand, der sich in jemanden verliebt, um ihn, sobald er auf gewissliche Gegenliebe trifft, durch Aufmerksamkeitsentzug oder plötzliche Ablehnungsbekundungen zu zerstören, hat sich gar nicht in jemanden verliebt, sondern nur in den Gedanken, selbst einmal willkürlich Macht ausüben zu können. Da ist also die Gemütsbewegung "verlieben" gar nicht richtig beschrieben. Und dann geht natürlich auch die Interpretation der gesellschaftsrelevanten Gründe für diese Gemütsbewegung ("Ich musste die beiden besitzen, verachten und wegschmeißen." und ihre Folgen: "Ich war dreizehn Jahre alt." "Ich fiel fast in Ohnmacht", d.h. übersetzt in Nicht-Poesie: "Ich war viel zu jung für so ein zynisches, menschlich widerwärtiges Ansinnen. Und ich konnte mich deshalb gegen diese mir durch die Erfahrung der obzön zeitgleich nebeneinander existierenden ungerechten Verhältnisse oktroyierte, unmenschliche Willensregung nicht wehren.") an der gesellschaftlichen Wirklichkeit und somit an der Wahrheit der Figur vorbei... Oder?
Bungalow, Düsseldorf: Liebe als Begriff
#1 hallo milchmädchen, wow, gut gedacht und geschrieben. aber vllt geht es an dem punkt nicht auf, dass die verwendung des begriffes liebe a auf einen ungeklärten begriff rekuriert und/oder b) man den immer noch gesellschaftlich als einer der am meisten anzustrebenden gemütszustand hält. dh es könnte durchaus so sein, dass der begriff sowohl im buch / stück / rezension so verwendet wird, wie etwas das man bestellen, besitzen und wegschmeissen kann - parallel zur warenlogik. das mag bewusst oder unbewusst geschehen, wäre aber zu vertreten.
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