Die Macht im Blick

von Anna Landefeld

München, 26. September 2019. Schon vor Anta Helena Recke gab es einige, die den Menschen ziemlich herausforderten: Sigmund Freud zum Beispiel. Tief bohrte er mit seiner Schrift "Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse" in menschlichen Allmachts-Narzissmen. Dreimal seien die Gefühle der Menschheit verletzt worden: durch Kopernikus' Weltbild, in dem die Sonne im Mittelpunkt steht und nicht die Erde, durch Darwin, der allen klarmachte, dass sie am Ende auch nur Affen sind, und durch Freud selbst mit seinem unkontrollierbaren Unbewussten. Was Freud dabei vor knapp 100 Jahren vergaß: Die Menschheit ist nicht nur der privilegierte, weiße Cis-Mann.

Und so setzt Anta Helena Recke mit ihrer knapp 75minütigen Bilderzyklus-Performance "Die Kränkungen der Menschheit" in der Kammer 2 der Münchner Kammerspielen noch eine vierte Kränkung drauf. Recke spiegelt und bricht den westlichen Blick, rüttelt an den Säulen einer aus kühler Rationalität und allumfassendem Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen zurechtgezimmerten Zivilisation. Das tut sie in drei großzügigen, ineinander übergehenden Szenen, erschafft immer neue Räume und bedient sich damit klug des Bildes als Herrschaftsmittel.

Bild 1: Zähmung der Affen

Anfangs sind alle gleich. Eine friedliche, sprachlose Utopie, die sofort an Stanley Kubricks Filmepos "2001: Odyssee im Weltraum" denken lässt. Sieben Darsteller*innen als Menschen-Affen nehmen den gesamten Bühnenraum ein: In hautfarbener Unterwäsche bewegen sie sich, aufgestützt auf ihren Fingerknöcheln, vorwärts, die Beine werden seitlich hinterhergezogen, der Kopf emporgestreckt. Dazu wird sich kräftig gekratzt, gelaust und äffisch gekreischt. Doch wie ein Memento mori, dass dieses Idyll irgendwann wohl nicht mehr sein wird, mahnt schon von Beginn an ein beweglicher Glaswürfelkasten im Raum. Sinnbild westlicher Zivilisation, geballt auf ein paar Quadratmetern, steril, kalt erleuchtet, irgendwas zwischen Affenhaus im Zoo und White-Cube-Gallerie. Hier hinein werden die Menschen-Affen nun gelockt, von einem wissenschaftlich dreinblickenden Aufrechtgehenden in mintgrünem Kittel und Drahtbrille. Ein einzelner Mensch macht sich eine ganze Affenhorde untertan.

Kraenkungen Menschheit 3 560 GabrielaNeeb uAffe unter Affen © Gabriela Neeb

Bild 2: Kunstgenuss mit Deutungshoheit

Im zweiten Bild betreten sechs neue, nicht-äffische Schauspieler*innen den White Cube. Die Affen sitzen um diesen herum, verlassen dann aber einer nach dem anderen die Bühne, während die Menschen im Glashaus Gabriel von Max'  Bild "Affen als Kunstrichter" diskutieren, ohne dass das Bild zu sehen ist. Für den Maler und Darwinisten von Max, selbst Besitzer von 14 Affen, waren Tiere die besseren Menschen. Bei Recke sind die Menschen nicht mehr als Kulturaffen. Der Glaswürfelkasten funktioniert nun als Inkubator für westliche Vorurteile und Projektionen: die volle Dröhnung intellektueller Erhabenheit von aufgeklärten Menschen, die nicht aus ihrer westlichen Haut können. Beim Sprechen über eIn Filmstill aus Araya Rasdjarmrearnsooks Videoarbeit "Two Planets Series Van Gogh's The Midday Sleep and the Thai Farmers" sinnieren sie über "revolutionäre Moderne", über "Bäuer*innen", "ländliche Menschen", die so "friedlich" in der "Wildnis" sitzen und ein Stück vermeintliche Hochkultur betrachten. Sie klammern an ihrer Sprach- und Blickhoheit, Recke hält ihnen entlarvend den Spiegel vor.

Bild 3: Blickwechsel

Doch die Privilegien verflüchtigen sich: Im dritten Bild ist die Museumsstille abgeschafft. 27 Frauen, People of Colour, weiße Frauen, Frauen in Kopftuch und farbenfroher indigener Kleidung, durchqueren den Raum, plaudern, lachen, lösen die steril-analytische Ordnung auf, werden später langsam um den Glaswürfel herumprozessieren. Die Museumsgruppe hat sich inzwischen auf die Zuschauertribüne verzogen, unter der Tribüne erklingt noch ab und an ein äffischer Laut. Recke lässt die Bilderschauenden Teil der Theaterschauenden werden, denn ganz unähnlich sind sie sich irgendwie nicht. So wohnt man der Prozession bei, und einige der Frauen blicken zurück ins Publikum. Der einseitige, westliche Zuschauer*innenblick: Er ist durchbrochen, zumindest für diesen einen Moment.

Die Kränkungen der Menschheit
Inszenierung: Anta Helena Recke , Künstlerische Mitarbeit: Anna Froelicher, Maxi Menja Lehmann, Bühne: Carlo Siegfried, Kostüme: Pola Kardum, Musik: Luca Mortellaro, Licht: Joscha Eckert, Dramaturgie: Valerie Göhring, Recherche: Marja Christians, Chiara Galesi.
Choreografie, Text, Performance: Ariane Andereggen, Jean Chaize, Noah Donker, Sir Henry, Kinan Hmeidan, Mario Lopes, Samuel Iatã Vieria da Silva Hölzl, Lara-Sophie Milagro, Benjamin Radjaipour, Vincent Redetzki, Joana Tischkau, Else Tunemyr, Hayato Yamaguchi, Gong: Leon Frei.
Uraufführung am 26. September 2019
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Recke habe einen "Abend der sich überlagernden Bilder" geschaffen, so Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (27.9.2019). Mit ihrem Konzepttheater gehe Recke von der Definition einer weiteren Kränkung aus, dass nämlich all jene von Freud apostrophierten Kränkungen "einzig aus einer weißen, männlich, christlich, europäischen Perspektive heraus formuliert sind, in der der große Rest der Welt in all seinen Nuancen schlichtweg nicht vorkommt". Dem stellt sie am Ende zwei Dutzend "Women of Color" und Frauen mit Kopftuch in farbiger Ethnokleidung entgegen: "zunächst als Museumsgrüppchen, später dann in einer Art zeitlupenhaft durcheinanderschreitenden Prozession, die diesem sonst so spielerischen Abend einen fast pathetischen Nachdruck verleiht".

Egbert Tholl schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 27.9.2019, 18:48 Uhr): Anta Helena Recke habe "einen Abend entworfen", der mehr "essayistische Installation" sei als Theateraufführung. Neben den drei Kränkungen der Menschheit - Heliozenrismus, Evolution und Psychoanalyse - bringe Recke eine vierte ins Spiel, dass der "alte weiße Mann" begreifen müsse, dass er nicht mehr im Mittelpunkt der Welt steht. Tholl rekapituliert den szenischen Ablauf und fragt: "Wo ist eine Kränkung, eine Wut? Es ist nur eine brave Vorführung von Identitäten, natürlich superdivers", das reiche "heute" offenbar schon.

"Stark gesetzte Bilder und Geräusche, die weite Assoziationsfelder freilegen" hat Mathias Hejny wahrgenommen und schreibt in der Abendzeitung (28./29.9.2019): "Für 75 meditative Minuten kann, weg mag, von der Utopie einer bedeutungsfreien und damit herrschaftsfreien Kultur träumen."

Die "virtuose Affennummer" zu Beginn sei "auch schon das Beste an dieser Uraufführung", schreibt Alexander Altmann im Münchner Merkur. Das Ende beschreibt Altmann so: "Plötzlich springen die Türen auf, und Kohorten munter schwatzender Damen ziehen durch den Saal. Viele von ihnen sind Afrikanerinnen in prächtig-bunten Festgewändern, auch Asiatinnen und Kopftuchträgerinnen gehören zu dieser munteren Truppe.". "Welche Botschaft uns die Aufführung mit ihrer gravitätischen Symbolhuberei mitteilen möchte, bleibt rätselhaft", so Altmann. "Was man tatsächlich erlebt, ist eher ein komisch angehauchtes Spiel mit Ritualformen."

"So anregend und treffend einerseits die Rückkoppelung der dominanten Whiteness mit Sigmund Freuds Kategorien der Kränkungen der Menschheit durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der weißen Männerwelt daherkommt, so sperrig bleibt insgesamt die Inszenierung", findet K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (30.9.2019). Großartig sei die schauspielerische Leistung der "Affen", leicht und vielseitig-schlau die Kunstdiskurse und bunt und schön, auch rätselhaft das letzte der drei unverbundenen Bilder der einstündigen Performance. 

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