Brecht an der Leine

von Michael Wolf

Berlin, 2. Oktober 2019. Ihre eigenen Video-Bilder überragen die Schauspielerin Julia Schubert. Zornig deutet sie auf die digitalen Zwillinge. "Ich kann nicht groß spielen, wenn ich schon groß bin. Wenn ich auf der Leinwand nah bin, wie soll ich dann den Leuten im Saal nah sein?" Rechts, links und hinter ihr dräuen die flachen Ebenbilder. Eingekeilt in ihre eigene Live-Aufnahme hat sie keine Chance. "Ich bin ein Opfer in HD." Trefflich, wie Schubert hier den performativen Widerstand gegen das digitale Bild persifliert.

"Don't be evil." sagte einst Google

Theater fürchtet stets ersetzt zu werden. Schon Kino und Fernsehen haben sein Selbstbewusstsein arg beschädigt. Die Bühnenkunst verteidigt ihre Existenz traditionell in Abgrenzung zu technischen Medien – als letzte Bastion der Leiblichkeit. Ganze Kohorten von Theaterwissenschaftlern beschworen schon die Präsenz der Spieler, ihren Schweiß, ihre vor Anstrengung zuckenden Glieder. Niemals ließen sich diese Körper in ein Bild sperren, ganz sicher nicht in ein digitales. Was für eine defensive Argumentation! Nichts Positives hat das Schauspiel demnach im Ensemble medialer Ästhetik zu bieten, es kann nur auf einem vermeintlichen Erbrecht beharren.

Dontbeevil 560b JulianRoeder uKörper mit Avatar statt Körper gegen Avatar: Susanne Bredehöft, Vanessa Loibl, Julia Schubert,
Sylvana Seddig © Julian Röder

Regisseur Kay Voges wollte von derlei denkfaulem Geschwätz nie etwas wissen. Der Markenkern seiner Kunst beruht im Gegenteil darauf, sich stets des technischen Status Quo der Zeit gewiss zu sein, in der seine Arbeiten entstehen. Über die Ergebnisse lässt sich streiten, zweifellos aber hat der scheidende Intendant des Dortmunder Schauspiels der verbreiteten Skepsis eine erfreuliche Technik-Begeisterung entgegensetzt, eine Begeisterung über jeden neuen Gedanken, den Vernetzung und digitale Revolution auslösen.

Bis zu diesem Abend an der Berliner Volksbühne. Denn nun, was mag geschehen sein?, straft er sich selbst Lügen. Seine nach dem einstigen Google-Slogan "Don't be evil." benannte Inszenierung könnte auch den Namen des Romans von Jarett Kobek tragen: "I hate the internet". Die Aufführung ist ein Abgesang auf die digitale Gesellschaft, ein Gruselkabinett seiner Schattenseiten: Hass, Narzissmus und Chaos regieren.

Das Internet, wie es Hoffnungen entfacht

Dabei fängt alles so hoffnungsvoll an. Uwe Schmieder schwärmt als Bert Brecht vom revolutionären Potenzial des Rundfunks. "Ein ungeheures Kanalsystem! Das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen." Schmieder nimmt dann auch sogleich Kontakt auf, steigt über die Lehnen ins Publikum hinein. Tatsächlich hielt Brecht 1932 eine Rede, in der er zwar vom Radio sprach, aber das Internet bereits in der Theorie erfand. Wie er, hatten auch die späteren tatsächlichen Netz-Pioniere hohe Erwartungen. Das Ensemble rezitiert per Video die "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" von John Perry Barlow aus dem Jahr 1996. "Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft." Rasant geschnitten ist dieser Clip, die Kostüme den 70er Jahren entrissen, das Bild hastet umher, bläht sich auf. Die Hoffnung auf eine schöne neue Welt? War nur ein LSD-Trip naiver Hippies.

Dontbeevil 560 JulianRoeder u"Don't be evil."-Ensemble in Echokammern © Julian Röder

Die Realität sieht anders aus. YouTube-Stars labern, Hetzer hetzen, Verbindlichkeit – ein Versprechen des Netzes – findet nur in der Verbündung gegen Schwächere statt. Voges' Internet ist ein durch und durch schlechter Ort, aber da wir hier im Theater ausnahmsweise mal nicht "drin" sind, lädt er uns ein, über die Misere zu lachen. Sein Ensemble genießt den Shitstorm, sonnt sich so voller Wonne in technophoben Untergangsfantasien, als freute es sich schon auf das Gastspiel beim Arbeitskreis Digitales der Grauen Panther.

Das Internet, wie es den Menschen beherrscht

Höhnisch zitiert Sylvana Seddig gegen Ende Richard Brautigans Gedicht "all watched over by machines of loving grace", und führt Brecht dazu – inzwischen nackt, aller Hoffnungen entblößt – an einer Hundeleine über die Bühne. Die Botschaft ist klar: Online sein, heißt heute an der Leine zu sein; wir sind alle digitale Sklaven. Höchste Zeit, den Stecker zu ziehen! Selbiges wäre auch die passende Antwort auf diese Inszenierung. Und zwar nicht wegen des enervierenden Kulturpessimismus und der Weigerung neben allem Negativen auch ein paar Perspektiven zu erkennen. Sondern weil Voges selbst, hoch über den Verhältnissen thronend, offenbar keine Veranlassung sieht, sich an den Titel des Abends zu halten. "Don't be evil." – Why not?, entgegnet er.

In einer Episode verfolgen wir Stacy und Chad. Die zwei sind ausgerissen, verschanzen sich mit Waffen in einem Haus, feuern auf die Polizeiwagen vor der Tür – bejubelt von den Zuschauern ihres Live-Streams. Am Ende verabschieden sie sich von ihrem Publikum und erschießen sich. Auf der Bühne sind die Szenen Lachnummern, ironische Volten über dumme Teenager, die Realität nicht von Videospielen unterscheiden können. Tatsächlich waren es die letzten Stunden zweier russischer Kinder. Der Fall ist echt, den kurzen Leben von Ekaterina Vlasova und Denis Muraviev entnommen. Die beiden brachten sich am 15. November 2016 kurz nach Ende ihrer Übertragung um. Und da stellt sich die Frage: Gelten denn gar keine Grenzen mehr?

Mag sein, dass Voges nur den Beweis führen will. Dafür, dass unsere Geschichte jederzeit aus dem Zusammenhang gerissen werden kann, wenn wir beim Ringen um ein populäres Bild unserer selbst die Macht verlieren, nicht nur über das Bild, sondern auch über unsere Existenz, sogar über deren Ende hinaus. Das mag alles sein, weniger schäbig wird es dadurch nicht.

 

Don't be evil.
von Kay Voges & Ensemble
Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Director of Photography: Voxi Bärenklau, Videokunst und -design: Robi Voigt, Filmmontage und Live-Schnitt: Andrea Schumacher, Kamera: Jan Isaak Voges, Musik: Paul Wallfisch, Live Sound Design: Jonathan Bruns, Wrestlingchoreografie: Hussen Chaer, Dramaturgie: Ulf Frötzschner, Matthias Seier.
Mit: Andreas Beck, Manolo Bertling, Susanne Bredehöft, Vanessa Loibl, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Sylvana Seddig, Werner Strenger.
Premiere am 2. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne.berlin

 

Kritikenrundschau

"Kay Voges schwemmt die Berliner Volksbühne mit seinen Bilderfluten", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.10.2019). Das Titel-gebende Firmenmotto von gestern und die Brecht'sche Radiotheorie von vorgestern "stammen an diesem entschlossen retrofuturistischen Abend" aus versunkenen Epochen der Medienevolution. Dass das Theater mit seinen kleinen Menschlein oft nicht ankomme gegen die Effektfreude der riesigen Filmbildteppiche sei noch das kleinere Problem dieses Abends. "Das größere Problem ist, dass der Kraft der Bilder eine gewisse Hilflosigkeit beim Versuch, die Phänomene analytisch zu durchdringen, gegenübersteht."

"Zwar fehlt einem dabei an mancher Stelle die Tiefe – bahnbrechende neue ­Gedanken zur Übermüdungs- und Überforderungsgesellschaft werden an diesem Abend nicht kundgetan –, man verlässt die Volksbühne aber trotz des dystopischen Bilderwahns mit einer optimistischen Erkenntnis", findet Sascha Ehlert in der taz (4.10.2019). Es gebe kaum einen Moment, in dem nicht mehrere Dinge gleichzeitig passieren. "Aber man hat Spaß dabei, weil das alles so gut gefilmt und geschnitten ist. Zumindest dann, wenn man an unserer vernetzten Realität manchmal auch Gefallen findet." Fazit: "Ein Abend, der denkwürdig opulent aufzeigt, wie man das videografische Erbe dieses Hauses gleichermaßen würdigen und zeitgemäß übertrumpfen kann."

"Voges' Arbeiten zielen seit Jahren darauf, das analoge Medium Theater mit den digitalen Möglichkeiten zu verlinken. Was noch immer Live-Kamera- und Videoeinsatz bedeute", so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (4.10.2019). "Die Mittel, wirklich virtuelle Welten auf der Bühne zu erschaffen, sind halt doch noch nicht ausgereift", und der Abend navigiere sprunghaft zwischen dem Live-Suizid eines Teenie-Pärchens und Bertolt Brechts "Radiotheorie".

Ulrich Seidler schreibt in der Berliner Zeitung (online 3.10.2019, 13:14 Uhr) die "didaktische Sendung" des "Zukunftsapostels" Voges weise diesmal "eher zurück in Richtung echte Welt". "Missbrauch und Unkontrollierbarkeit des Netzes" spielten eine wesentliche Rolle, die "mit ihm verbundenen Utopien" törnten ab. Allerdings sei nicht klar geworden ob hergezeigte "bemüht ausgeflippte Selbstverwirklichungskonsumfreuden nicht vielleicht doch als basisdemokratische Erweckungsfantasie gemeint waren". Das Theater – "das ja im echten Spiel und im gegenwärtigen Mit- und Gegeneinander eine Alternative zu der entkoppelten Meme- und Geisterkommunikation des virtuellen Raums zu bieten hätte" − gebe sich "von vornherein" geschlagen, es imitiere und illustriere "die Mittel des Internets", führe die ihrem "wimmelnden Stillstand eingeschriebene Ödheit" mit "Unerbittlichkeit" vor.

Voges widme sich in "Don't be evil" wieder seinem Lieblingsthema: der digitalen Welt. "Allerdings scheint den Internetfetischisten plötzlich der Online-Ekel erfasst zu haben: Das Stück ist eine bitterböse Abrechnung mit der Welt der Timelines", so André Mumot in Deutschlandfunk Kultur (2.10.2019). Der Abend möchte das labyrinthische Nebeneinander der Timelines abbilden und "setzt sein Ensemble in zahllosen Videoclips ebenso wie in der Bühnenwirklichkeit in ein Online-Bienenwaben-Setting". Überraschend nur: Beim Internetfetischisten Voges scheint der Online-Ekel eingesetzt zu haben. "Entstanden ist hier nämlich vor allem eine unversöhnlich satirische Abrechnung mit den um Aufmerksamkeit buhlenden Menschen, die sich auf Instagram und Facebook nach Likes und Beachtung sehnen." Keine Traurigkeiten, keine Einsamkeiten werden ausgehalten, "stattdessen schaut der Vorreiter des Digitaltheaters in dieser Produktion nur mit mitleidlosem Spott und Häme, ja mit Abscheu in die Timelines seiner Protagonistinnen und Protagonisten."

 

 

 

Kommentare  
Don't be evil., Berlin: halbe Stunde kürzer
Der Abend ist dort stark, wo er den Schauspielern Raum lässt, etwas zu zeigen (etwa die Youtuberin, die ihr Liedtext vorliest), denn diese Anke-Engelke-Sketche sind sehr funny und vermitteln gut, was Voges und Ensemble wollen. Der Abend wird dann langatmig, wenn alles in einer gehetzten Schnittfolge erfolgt(dann hat jeder mal eine beliebige Solonummer, aber ich keine Zeit, das aufzunehmen). Klar Absicht! Aber ich bin dann weder gecatched noch überfordert, sondern einfach gebored. Halbe Stunde kürzer hätte gereicht ... denn eindrucksvoll war es schon.
Don't be evil, Berlin: zusammengeschustert
Mit „Don't be evil“ wollte sich Voges der Hate Speech im Netz widmen: sicher ein lohnendes Thema. Das Urteil des Landgerichts Berlin, das unflätige Beschimpfungen gegen Renate Künast unbeanstandet passieren ließ, zeigt, dass hier vieles im Argen liegt.

Aber der Abend verweigert sich diesem Ausloten komplett. Demonstrativ selbstironisch zeigen sich der Regisseur, sein Team und seine Spieler*innen in Videogroßaufnahmen beim Gähnen. Belanglos, beliebig und banal geht es auch weiter.

Witzfiguren aus dem Netz, die Selbstinszenierung von Youtube-Sternchen, weitere Textschnipsel von Brecht bis Barlow werden rezitiert, Uwe Schmieder steigt in einer blassen „Square“-Imitation ins Publikum. Der Abend beschränkt sich auf Insidergags: die notorischen Facebook- und Nachtkritik-Rants von Martin Baucks werden verwurstet, das Livevideo eines Killerpärchens nachgespielt.

Das ist alles so denkfaul zusammengeschustert, dass ich nach der ersten der beiden Stunden jede Hoffnung aufgegeben habe.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/10/03/dont-be-evil-volksbuhne-kritik/
Don't be evil, Berlin: nichts heilig
Lieber Michael Wolf,
nein, Kay Voges ist nichts heilig. Hauptsache Auffallen, Feuilleton und Intendant an großen Häusern. Dafür kann man schon einen realen Todesfall nachspielen von albernen SchauspielerInnen. Hey, ist doch cool und alle werden sich aufregen und ICH bin im Gespräch. Wem es nicht gefällt, ist einfach zu weich oder sieht die Härte der realen Welt nicht oder anderes blablabla. Noch 21 Monate bis Pollesch.
Don't be evil, Berlin: leere Nummernrevue
Hätte man die zwei Stunden auf 4chan verbracht, sie wäre anregender und unterhaltsamer gewesen.
Don't be evil, Berlin: Unterforderung
Es war eine ärgerliche Unterforderung.
Die Netzgesellschaft und ihre flüchtige Oberflächlichkeit wird mit eben diesen, ihren Mitteln, kalauernd, witzig und"krass" dargestellt.
Pubertär.
Don't be evil, Berlin: boulevardesk
Allmählich darf man wirklich die Frage stellen: Was hätte die Volksbühne denn eigentlich machen sollen?

Sicherlich, Voges verweigert den Diskurs und jagt uns stattdessen durch die Untiefen des weltweiten Netzes. Eine Stunde lang durfte man glauben es wird eine Komödie und es gäbe bald noch mehr zu lachen. Internet als empfundene Komödie könnte Sinn machen, wenn die selektive Vorauswahl geschickt gewählt und auf eine feine Schnur der Dramaturgie gezurrt wird. Aber schon sehr bald ahnt man, dass der Regisseur auch mit einer der letzten Sicherheiten brechen wird, denn in einer Komödie stirbt an sich kein Mensch, zumindest in dem Zeitraum vor Tarrentino. Hier schon. Es ist wohl eher eine boulevardeske Show. Die Ermüdung ist mit eingebaut, spätestens, wenn man minutenlang auf ein Video schaut, welches das Innenleben einer Bar zeigt in der ein wenig über die Freiheit im Netz geschwafelt werden darf. Den eigentlichen roten Faden liefert Voxi Bärenklau mit seiner Bildästhetik. Die filmischen Bilder stimmen. Leider sind die Figuren darin in keinerweise geerdet, sondern noch naiver und trivialer als ihre Vorbilder. Das sagt schon etwas über die Macher aus, wenn sie die Darstellung der individuellen und meinetwegen auch narzisstischen Selbstdarstellung der User im Netz noch einmal tiefer legen und ins Banale verzwergen.

Aber zurück zur Kernfrage. Gibt es überhaupt eine Chance für das jetzige Team? Wer bitte wäre so kühn diese Frage mit Ja zu beantworten?

Die Überväter sind in der Erinnerung so gigantisch, dass man verstehen kann, warum Voges einfach mal lässig unter der Latte drunter herläuft und die Zuschauer intellektuell im Stich lässt. Die Interimsintendanz als bewusste Clownsnummer zwischen zwei wirklichen Theaterartisten. Warum in die Seile steigen ohne Netz, warum die Löwennummer bringen vor einem Publikum, dass einfach auf Hohn und Spott gebürstet ist? Berlin wäre doch als Kulturstandort am Ende, wenn Castorf und Pollesch nicht einzigartig wären.

Aber ich fürchte eines Tages kommt eine oder einer und haut Berlin seine Mythen um die Ohren. Und warum sollte dies nicht schon in den nächsten zwei Jahren an der Volksbühne geschehen?! Dann wird das Jaulen und Geschrei noch größer sein und man wird es bis nach München und Wien vernehmen können. An der Volksbühne muss man wahrscheinlich auf einen KO Sieg in der dritten Runde setzen und der letzte Teil der Eröffnungstriologie besteht Berlin noch bevor. Abwarten. Berlin glaubt erst dann an einen Neuanfang, wenn Castorf vor ihren Augen auf die Bretter geht. Vorher nicht. Es ist ein Hauen und Stechen.

Ach! Und übrigens. Das Internet ist die größte Bibliothek und Recherchequelle aller Zeiten. Dort kann ich Inhalte erforschen, die mir im analogen Zeitalter fast auf ewig verschlossen blieben. Aber das war wirklich nicht Thema des Abends, obwohl ich mir sicher bin, dass die Macher das Netz beinahe täglich so konstruktiv für sich nutzen. Nur eben nicht vor den Zuschauern. Die bekommen lediglich den Abgesang. Schade eigentlich.
Don't be evil, Berlin: Timeline als Theater
Um eine Lanze für diesen Abend zu brechen: viele mutlose "Inszenierungen" begnügen sich mit einer anderen oder besseren Darstellung des schon Bekannten. Voges und sein Team machen hier mit Ansage einen Versuch. Den Versuch, einen Abend wie eine timeline zu gestalten, oder das Internet zu zeigen, oder ihren Blick auf unser digitales Heute.
Der Versuch scheitert vielleicht, für mich aber wäre es dann ein höchst produktives Scheitern, und meines Erachtens wissen die MacherInnen das auch. Wie soll man diese Medien MIT Rückkanal, den Wust an Inhalten, an Dissonanz, an Klugem, wie Schwachsinn, mit Menschen auf eine Bühne vor vielen hundert zuschauenden Menschen bringen? Wo es dann im Grunde KEINEN Rückkanal gibt, bei allem geteilten gemeinsamen Raum, Schweiss des Schauspielers und was weiß ich, wo die Vielstimmigkeit dann am Ende doch linear und kuratiert gezeigt wird, der gelenkte Blick? Und die Dilemma wird dann wiederum in einer starken Szene thematisiert (die für mich dann leider nicht konsquent ist, weil warum da dann tatsächlich nicht einfach mal die Projektion abschalten und die vorgetäuschte Intimität dann doch entlarven? Aber je).

Ich habe einen Abend gesehen, der ähnlich wie manches ziellose Abschweifen bei Youtube, mich amüsiert und abgestoßen hat, manchmal gut, manchmal weniger gut funktioniert (dann vor allem wegen des fast permanenten Vollgas'), mir einige interessante Denkanstöße und die Erkenntnis beschert: das reine Zeigen, wenn es auch technisch eindrucksvoll geschieht (und das tut es zweifellos!), reicht nicht für die Annäherung an die "digitale Moderne". Aber immerhin hat da mal jemand die Fahne ein Stück weiter nach vorne getragen. Viel überzeugender für mich als in der "Parallelwelt", übrigens.

Und zur Moral, Herr Wolff, so eindeutig habe ich das nicht gesehen, ich fand das tragisch. Und wahr, wenn auch vielleicht nicht gut oder schön ;).
Don't be evil, Berlin: Bild des Abends
Liebe Kritik. Ich kann mir leider so gar kein Bild des Abends machen. Wurde eine Geschichte erzählt? Oder was passierte die ganze Zeit?
Don't be evil, Berlin: Medienkritik
Ein Platon wollte die Schrift nicht abschalten, als er sie kritisierte. Er hat das damals neue Medium ausprobiert, seine Verwendungsweisen erforscht, Grenzen und Möglichkeiten ausgelotet und intensiv damit gearbeitet um schließlich Sprache und Denken so zu transformieren, dass die Irritationen und sozialen Verwerfungen, die dieses Medium verursacht hatte, verstanden und bewältigt werden konnten. Vielleicht kann man die Irritationen, die die heute (schon nicht mehr ganz) neuen Medien auslösen, nicht hinreichend durch das Schreiben von Texten bedenken.
Don't be evil, Berlin: hoch gestecktes Ziel
Sascha Ehlert schreibt in der taz:

MASCHINEN VOLLER GNADE - ZERSPLITTERTE HOCHGESCHWINDIGKEITSEXISTENZ: KAY VOGES’ RASANTES BÜHNEN-VIDEO-STÜCK
Ein Abend, der, das gleich vorweg, denkwürdig opulent aufzeigt, wie man das videografische Erbe dieses Hauses gleichermaßen würdigen und zeitgemäß übertrumpfen kann. […] Das ist sehr konsequent, immerhin will Kay Voges mit diesem Abend das sehr hoch gesteckte Ziel erreichen, unsere zersplitterte Hochgeschwindigkeitsexistenz zwischen Instagram, Twitter und Reddit einzufangen. Ein Ziel, das er mit dem konsequenten Fokus auf ein Zuballern des Publikums durch Bild, Sound und Text auch erreicht. […] tatsächlich schaffen es Voges und Ensemble allerdings, all diesen Stoff in zwei Stunden zu verpacken, die einen konstant bei der Stange halten und unterhalten. […] Was heute gut und was böse ist, das vermag dieser Abend nicht zu beantworten. Auch das ein Glück.

https://taz.de/Premiere-an-der-Volksbuehne-Berlin/!5628006/
Don't be evil, Berlin: Schnitt Schnitt Schnitt
@ Lancone
Schauen Sie sich das zweite Photo oben an: es wurde wie in einem Videoklipp mehr oder weniger gefühlt 100 „Sketche“ aufgeführt, manchmal eine Referat von etwas historischem (die Ankündigung eines amerikanischen Pastors, den Koran öffentlich zu verbrennen und deren Folgen, als sich dies „viral“ verbreitete), manchmal etwas parodistisches (eine Youtourerin liest den Blödeltext ihres Liedes), das alles laut, videoreflektiert, selbstreflektiert usw. So etwas hatte Böhmermann in seinem Neo Magazin Royal gemacht (vor zwei Jahren?), inhaltlich verschieden, von der Stimmung her ähnlich (also Schnitt Schnitt Schnitt). Leider weiss ich nicht mehr, wann das genau war und ob Sie das auf Youtube oder in der Mediathek finden ...
Don't be evil, Berlin: Leserkritik
(...)Doch auch dies bleibt nur Episode, kurzes, schnell vergessenes Schlaglicht an einem Abend, der nicht Loop ist, wie sonst so oft bei Voges, mediale Endlosschleife, eine Welt gefangen in der Reproduktion, sondern Nummernrevue der Web-Kuriositäten und -Abgründe. Schnell hastet er weiter, interessiert sich mehr für den Hype um den erschossenen Löwen Cecil, den Manolo Bertling mit reichlich Witz als längst sich selbst abhanden gekommenes zweidimensionales Bild darstellt, der so virtuell ist, dass er keine Gnus mehr begehrt, sondern nur noch Videos selbiger, und widmet sich ausgiebig dem wohl problematischsten Teil des Abends. Da stellt er einen realen Fall nach: zwei in der Wirklichkeit russische Teenager, die von Zuhause ausreißen, an Waffen kommen, sich in einem Haus verschanzen, alles filmen und per Livestream in die Welt senden, bevor sich sich selbst töten. Voges walzt das genüsslich auf, produziert dabei reichlich Lacher ob der Oberflächlichkeit der sozialen Medien – bis hin zu einem auf Star-Kritiker Peter Laudenbach zielenden Insider-Witz – und schlachtet das Geschehen so aus, wie er es wohl der medialen Gegenwart unterstellen will.


Bild: Julian Röder

Spätestens hier geht der Abend dem auf den Leim, was er eigentlich anprangern will, frönt er ausgiebig dem Voyeurismus, denn er in den Timelines dieser Welt am Werk sieht, ergibt er sich selbstverliebt der eigenen Perfektion. Denn faszinierend anzusehen sind die Bilderwelten, die Voges dem World Wide web abschaut und in seinen multimediales Totaltheater übersetzt, wie sie es eigentlich immer sind. Visual-Mastermind Voxi Bärenklau, Voges Junior, Videodesigner Robi Voigt und Cutterin Andrea Schumacher leisten ganze Arbeit, die Bildmacht des Netzes in den theatralen Raum zu bringen, Paul Wallfischs popkulturell aufgeladener Soundtrack tut ein übriges und doch fehlt diesmal, was die bahnbrechenden Voges-Abende stets auszeichnete: Der Blick hinter die Oberfläche, derAbgrund, der dahinter gähnt. Hier ist alles zweidimensional, ein langer Rant wieder die Seichtigkeit der virtuellen Welt, voll schaler, platter Karikaturen, Sensationsgier und eher denkfauler Stammtischklischees – damit das Kritisierte mit den Mitteln angreifend, die der Abend seinem Betrachtungsobjekt vorwirft. Er wirft Internet-Klischees in die Runde, verzerrt sich zur schenkelklopfenden oder zu schnaubender Empörungsroutine Anlass gebenden Karikatur und denkt damit, die digitale Realität zu entlarven. Weit gefehlt, sie zu verstehen – was Kay Voges‘ Abende so oft auszeichnet – hat er nicht einmal begonnen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/10/04/ins-netz-gegangen-2/
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