Manspreading bei der Reise nach Jerusalem 

von Falk Schreiber

Hannover, 9. Oktober 2019. "Wir haben die Schnauze gestrichen voll von schuppigen alten Männern, die dir auf Hochzeiten freundlich die Hand tätscheln, während sie ihre Wahrheiten über den Lauf der Welt verkünden", echauffiert sich die Autorin (Ruby Commey). Ja. Wir haben die Schnauze gestrichen voll, aber leider ist da immer wieder ein alter Mann, der Wahrheiten verbreitet, ein alter Mann, der Macht hat und gönnerhaft sein kann, und wenn er besonders gönnerhaft ist, dann fickt er eine wütende, junge Autorin, und die darf sich dann bedanken. #metoo in a nutshell, aber es ist ja nicht falsch, was Ella Hickson in der ersten Szene ihres Stücks "The Writer" zeigt.

Es ist nicht falsch, es führt einen nur nicht besonders weit. Weil die schuppigen, alten Männer zwar als widerwärtig erkannt sind, aber trotzdem noch an ihren Machtpositionen kleben. Das Problem sind nicht ausschließlich die Männer, das Problem sind die Strukturen, das Problem sind Hierarchien, Rassismus, Klassismus, Kapitalismus, das Problem ist die altväterliche Ironie, mit dem die Machtmenschen auf die Forderung "Kapitalismus stürzen! Patriarchat abschaffen!" reagieren: Immer sachte mit den jungen Pferden.

Die Strukturen, Baby

Willkommen im Schauspielhaus Hannover, wo Friederike Heller die deutschsprachige Erstaufführung von "The Writer" inszeniert, willkommen im autoritären System. "Man kann sich ja auch fragen, ob man in einem letztendlich hierarchisch organisierten Ort wie dem Theater wirklich Fragen wie Gender, Race oder Class diskutieren kann", wirft Bühnenmusiker Peter Thiessen im Programmheft in die Runde. Da hat er recht.

TheWriter1 560 Kerstin Schomburg uIn "The Writer" trifft eine Autorin (Ruby Commey, Mitte) auf einen mittelalten weißen Regisseur, der sogleich das Potential ihrer Wut für sich nutzen will © Kerstin Schomburg

Das Theater wollen Neu-Intendantin Sonja Anders und Chefdramaturgin Nora Khuon in Hannover nicht neu erfinden, wohl aber ein bisschen neu denken: diverser, betont weiblicher. Die ersten Premieren lösten diesen Anspruch teilweise ein, wenn mit Laura Linnenbaum und Lilja Rupprecht zwei Regisseurinnen auf der großen Bühne arbeiteten und Stephan Kimmig Tschechows "Platonow" als Platonowa weiblich überschrieb. Und immerhin: Vor der "The Writer"-Premiere herrscht im Foyer eine angenehme Lässigkeit vor, durchaus nicht nur bildungsbürgerlich, durchaus nicht ausschließlich weiß. Hannover ist ein offenes Haus, das über die enge Theaterblase hinaus einzuladen weiß, das pflegte schon Vorgängerintendant Lars Ole Walburg, und Anders scheint diese Entwicklung erfolgreich fortzuführen. Allerdings diesmal ohne besonders forcierte Regie.

Feministisch-sexuelle Utopie

Seine diskursive Kraft gewinnt "The Writer" nämlich ausschließlich aus dem Stücktext, der immer schon ein paar Meter weiter ist als das, was man auf der Bühne sieht. Die Figuren also kämpfen sich durch die Fallstricke der Identitätspolitik, die Autorin wehrt sich gegen den sexistischen Regisseur (Hajo Tuschy), die POC gegen den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft, die Frau (Caroline Junghanns) gegen die Übergriffigkeiten ihres Partners (Philippe Goos).

TheWriter2 560 Kerstin Schomburg uSeventies Disco-Fever: Ensemble in "The Writer" in Hannover © Kerstin Schomburg

Und immer, wenn man das Gefühl hat, dass die Protagonist*innen weniger echte Menschen als Diskursträger*innen sind, schlägt Hickson einen Haken, wird das klug gebaute Stück zum angetäuschten Well Made Play, zur Podiumsdiskussion (mit Fake-Publikumsbeteiligung), in einer kaum spielbaren feministisch-sexuellen Utopie zur Mischung aus Seventies-Disco, Esoterik-Workshop und Ausdruckstanz. Ist aber alles nur Spaß, der hier immer mitgedachte doppelte Boden erdet das Geschehen zuverlässig ironisch. Freilich sehen diese ständigen Szenen- und Stilwechsel in Sabine Kohlstedts spektakulärer Ausstattung wirklich beeindruckend aus.

Entwurf möglicher künstlerischer Autonomie

Tatsächlich ist Friederike Hellers zurückhaltende Regie im Stück selbst angelegt: "The Writer" versucht, mit der Autor*innenposition eine Autorität im künstlerischen Prozess zu entwerfen. Wenn auch eine brüchige Autorität – dass sich hier recht privilegierte Menschen Gedanken über künstlerische Autonomie machen, wird gleich in der nächsten Gedankenwindung beziehungsweise Szene als Problem erkannt. Dennoch bleibt für Regisseurin Heller wenig zu tun, bis auf die nicht kleinzuredende Aufgabe, diese diskursive Achterbahnfahrt irgendwie am Laufen zu halten. Was ihr mit sicherem Handwerk (und der Unterstützung ihres hochmotivierten Ensembles) bravourös gelingt.

Eine Vorstellung, die die Kunst auf Seiten der Autorin verortet, während die Regie das zu bekämpfende System darstellt, hat wahrscheinlich zu tun mit der angloamerikanischen Theatertradition, aus der die Britin Hickson stammt. Im deutschsprachigen Kontext wirkt dieses Denken allerdings fremd. Im Programmheft wird "The Writer" entsprechend in Richtung eines kollektiven Projekts gedreht, in dem neben der Regisseurin auch die Schauspieler*innen, der Musiker und die Dramaturgin zu Wort kommen. Wobei Hickson solch ein Zu-Wort-Kommen im Stück selbst ironisiert: in einer Szene, die ein Werkstattgespräch mit Ensemble, Autorin und Regisseur darstellt.

Souveräne Sitzposition

"Zu Wort kommen", das heißt vor allem Reise nach Jerusalem, Kampf um eine möglichst souverän wirkende Sitzposition, Manspreading. Für das Publikum ist diese Choreografie der Gockelhaftigkeit ein sattes Vergnügen, für die gesellschaftliche Realität allerdings erreicht sie eine ironische Flughöhe, die diskursiv zunehmend ein Problem darzustellen droht. Jedenfalls: So konsequent einleuchtend wie hier wurde gendergerechte Sprache wohl noch nie auf einer deutschen Staatstheaterbühne performt. Und das ist doch schon was.

The Writer
von Ella Hickson, aus dem Englischen von Lisa Wegener
Regie: Friederike Heller, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Peter Thiessen, Dramaturgie: Friederike Schubert
Mit: Ruby Commey, Philippe Goos, Caroline Junghanns, Hajo Tuschy, Peter Thiessen
Premiere am 9. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

"Zwar wird in der Inszenierung ständig Wut über die Verhältnisse behauptet – zu sehen ist sie kaum. Zwar wird ständig versucht, mit Theater und seinen Konventionen zu brechen – nur um in Konventionen zu landen, in denen das Theater ständig auf seine eigene Gemachtheit hinweist", schreibt Jan Fischer in der HAZ (10.10.2019). Die Figuren seien holzschnittartige Platzhalter für unvereinbare Positionen. Der Abend verstecke sich hinter 'Meta-Taschenspielertricks'.

"Diese Aufführung definiert das Theater nicht neu und ist auch nicht gänzlich frei von Klischees. Aber sie ist erfreulich anders – und das nicht nur, weil sie unbedingt anders sein will", schreibt Jörg Worat von der Neuen Presse (10.10.2019). Friederike Heller habe die Spannungsbögen stimmig gesetzt, "etwas zäh wird höchstens die Schlusssequenz mit der Autorin, ihrer Geliebten und allerlei Sexspielchen".

 

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