Die One-Man-Show funktioniert nicht mehr

11. Oktober 2019. Vor zwei Jahren fragte die Kulturratsstudie "Frauen in Kultur und Medien" erstmals nach Repräsentanz von Frauen und Männern im Kulturbetrieb und stellte eine massive Schieflage fest. Um Ursachen ging es noch nicht. Diese Lücke füllt nun Thomas Schmidt.

Interview Simone Kaempf

Die One-Man-Show funktioniert nicht mehr

Thomas Schmidt im Interview mit Simone Kaempf

11. Oktober 2019. Vor zwei Jahren fragte die Kulturratsstudie "Frauen in Kultur und Medien" erstmals nach Repräsentanz von Frauen und Männern im Kulturbetrieb und stellte eine massive Schieflage fest. Um Ursachen ging es noch nicht. Diese Lücke füllt nun Thomas Schmidt, ehemals Geschäftsführer am Deutschen Nationaltheater Weimar und heute Professor für Theater- und Orchestermanagement in Frankfurt am Main.

Seine repräsentative Befragung von knapp 2000 Theater-Mitarbeiter*innen gibt detailiert Auskunft über Theaterstrukturen, Macht und deren Missbrauch. Die Befragten berichten von verbalem, körperlichem und sexuellem Missbrauch, ausgeübt zu 65 Prozent durch Intendant*innen und Regisseur*innen. Schmidt hat aber auch nach Arbeitsbedingungen, Bezahlung, Arbeitszeiten, sozialem Status gefragt. Im Ergebnis scheint beides eng miteinander verbunden zu sein. Die Künstler*innen verdienen im Theaterbetrieb nicht nur am wenigsten, sie werden auch am schlechtesten behandelt. Macht wird offenbar missbraucht, um Theater zu steuern. Mit Thomas Schmidt hat nachtkritik-Redakteurin Simone Kaempf über die Studie gesprochen.


nachtkritik: Sie sind der Erste, der in einer Studie konkret nach Machtmissbrauch an Theatern und nach dessen Ursachen fragt. 1966 Mitarbeiter*innen aus dem deutschsprachigen Theaterbetrieb haben an der Studie teilgenommen, zu fast drei Vierteln aus dem künstlerischen Bereich, knapp 62 Prozent arbeiten an Stadt-, Staats- und Landestheatern. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Thomas Schmidt: 55 Prozent der Befragten haben Machtmissbrauch erfahren. Das ist mehr als ich erwartet habe. Überrascht war ich auch, dass mehr als die Hälfte der Befragten so wenig verdient, dass man von prekären Arbeitsverhältnissen sprechen muss. In den Thesen, die auf Vorgesprächen basieren, bin ich von 15 bis 20 Prozent ausgegangen. Es gibt einen strukturellen Machtmissbrauch im deutschsprachigen Theater, der die Ursache für den psychischen und physischen Missbrauch ist. Kurz gesagt: Die aktuellen, völlig veralteten Theaterstrukturen erlauben einer einzigen Person, meist dem Intendanten oder Regisseur, alle Macht bei sich zu konzentrieren. Intendanten missbrauchen Macht zu oft nach ihrem persönlichen Gutdünken, um Theater zu steuern – die Strukturen verleiten sie dazu. Macht wird so zu einem regulären Management-Instrument. Das ist eine völlig neue Erkenntnis.


Arbeitszeiten

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Diagrammserie zu den Zahlen der von Thomas Schmidt veröffentlichten Studie "Macht und Struktur im Theater" (von Anne Peter / nachtkritik.de).

 

Über sexuelle Übergriffe wird seit #MeToo relativ häufig gesprochen. Welche anderen Formen von Machtmissbrauch tauchen im deutschen Theaterbetrieb gehäuft auf?

Am häufigsten ist der psychische Machtmissbrauch. Das fängt an bei Mobbing, Diskriminierung und gezielten Eingriffen in die Entwicklung junger Künstler*innen, geht über schlechte und ungleiche Bezahlung, Bevorzugung bei der Rollenvergabe bis dahin, dass der NV Bühne als unzureichendes Vertragsmodell immer die Drohung beinhaltet, dass der Vertrag nicht verlängert wird. Er ist de facto Künstler*innen-feindlich. Es besteht quasi keine vertragliche und damit keine soziale Sicherheit. Das ist für mich auch ganz klar eine Form von Machtmissbrauch. Und eben die sexuellen Übergriffe, 121 Befragte bestätigten in der Studie, dass sie sexuelle Gefälligkeiten geleistet haben, 284-mal wurde das Angebot von Leitern und Regisseuren ausgesprochen, Rollen und Engagements gegen sexuelle Gefälligkeiten bevorzugt zu vergeben.

Die Intendanten kommen in der Studie bei den Befragten besonders schlecht weg. Sie haben die Führungskultur der deutschen Theater bereits in der Vergangenheit kritisiert. Was hat sich jetzt noch einmal konkretisiert?

Die One-Man-Show des Intendanten und das auf ihn konzentrierte Führungsmodell funktioniert so nicht mehr. Die Aufgaben und die Arbeit, die einem Intendanten obliegen – künstlerische Entscheidungen, Planung, Organisationsentwicklung, Stakeholder- und Lobbyarbeit, Personalmanagement, Finanzen, Investitionen, Fundraising, Kooperationen, Rechtsfragen –, sind nicht mehr von einer Person allein zu erfüllen. Im Wirtschafts- oder NGO-Bereich gibt es kaum noch Unternehmen, die mit Ein-Mann-Spitze arbeiten, außer bei kleineren Familienunternehmen. Unternehmen dieser Größenordnung, die noch dazu öffentlich sind, müssen von Teams geleitet werden.

ensemble 1632IMG 1942 560Begrüßung bei der 2. Bundesweiten Versammlung des ensemble netzwerk im Mai 2017 in Potsdam. Vom 18. bis 20. Oktober 2019 findet die Versammlung zum vierten Mal statt, diesmal an der Volksbühne in Berlin. Die Hauptfragen auf der Agenda lauten: Was hat sich verändert? Wie sollen die nächsten Schritte aussehen? © ensemble netzwerk

Es gibt sicher auch Ausnahmen. Der Theaterbetrieb funktioniert heute jedoch noch viel zu oft nach dem alten Modell: Die letzten Entscheidungen im Theater zielen immer wieder auf eine Person, den Intendanten, vor allem Männer, denen oft die profunde Ausbildung zum CEO fehlt – das, was ein Intendant de facto sein möchte, aber nicht leisten kann.

Würde eine Frauen-Quote für Intendant*innen Abhilfe schaffen?

Wenn sich die Situation nicht bald ändert, brauchen wir vorübergehend eine Quote. Ich war lange dagegen, aber inzwischen bin ich dafür, Leitungspositionen zu quotieren. Um – wie etwa bei den "Grünen" – ein neues Selbstverständnis zu entwickeln, bis sich das eingepegelt hat.

Das würde auch eine andere Erkenntnis der Studie betreffen: Mehrheitlich geht der Missbrauch von Männern aus.

Ja, in einer großen Mehrheit der Fälle, in über 90 Prozent. Die große Gruppe der Benachteiligten sind Frauen.

Sexuelle Übergriffe vermischen sich in den Aussagen der Befragten oft mit Mobbing, Manipulation, psychischem Druck und verbalem Missbrauch, zu 30 Prozent sind Intendanten involviert, zu 35 Prozent Regisseure, also diejenigen, die in der Regel auf Intendantenposten aufrücken.

Es betrifft allerdings immer nur einige Intendanten, gelegentlich sind es Mehrfachtäter. Mit psychologischen Gutachten sollte deshalb zukünftig eine Anfälligkeit für Machtmissbrauch ausgeschlossen werden. Die Stadt Zürich handhabt das beispielhaft: Dort müssen sowohl die Intendanten als auch die kaufmännischen Direktoren ein psychologisches Assessment Center von einer unabhängigen Personalberatung durchlaufen. Das finde ich vorbildlich. Wenn man solche verantwortungsreichen Posten vergibt, auf denen über fünf Jahre oder länger die Entwicklung von sehr viel Personal verantwortet und Riesenbudgets verwaltet werden, dann sollte so eine Investition der öffentlichen Hand gut abgefedert sein.

Man fragt sich, wie systematisch der sexuelle Missbrauch verbreitet ist. Zum Beispiel bei der Aussage, wo geforderte sexuelle Gegenleistung für eine Rolle, einen Regieauftrag oder ein Engagement stattfanden. Auf der Bühne, im Probenraum, in der Garderobe, aber auch in angemieteten Hotelzimmern – neun Teilnehmer*innen haben das genannt. Das weist ja nicht auf ein sich spontan ergebendes erotisches Zusammenknallen, auf eine Affekthandlung hin, sondern wirkt systematisch und geplant. Waren das neun unterschiedliche Fälle? Was kann man den Ergebnissen entnehmen?


Man kann einiges entnehmen. Die Befragten hatten die Möglichkeit, ein Textfeld frei auszufüllen. Viele haben das auch gemacht, und man konnte Orte entnehmen, die wir in der Studie natürlich nicht nennen. Aber hier handelt es sich um neun unterschiedliche Fälle von sexuellem Missbrauch.

In der Öffentlichkeit regiert immer noch das Bild des Intendanten als Vorbild und engagierter Künstler. Warum hält sich das so hartnäckig?

Die Medien favorisieren dieses Bild noch immer. Und auch von der Kulturpolitik wird dieses Image hochgehalten. Das deutet auch auf eine geschickte Lobbyarbeit einiger Intendanten in eigener Sache hin.

Glaubt der Theaterbetrieb selbst noch, dass ein erfolgreicher Künstler am Ende auch ein guter Theaterleiter wird?

Das ist schon lange nicht mehr so. Die Mär vom Künstler-Intendanten als allein seligmachendem Modell hat ausgedient. In vielen Theatern wünschen sich die von Macht betroffenen Ensembles und Mitarbeiter*innen nicht zwingend, dass jemand, der künstlerisch arbeitet, auch das Theater leitet. Man wünscht sich Teams oder neutrale Leiter*innen, die besser intervenieren können, wenn ein Opern-, Schauspiel- oder Ballettdirektor seine Arbeit schlecht macht. Wir alle kennen Fälle aus den vergangenen Jahren – und jeder Krisenfall ist in der Außendarstellung der Theater insgesamt ein Super-GAU. Darauf sollte viel mehr geachtet werden.

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Und dennoch werden solche "gebrannten" Theaterleiter, die mitverantwortlich sind für den schlechten Ruf mancher Theater, immer wieder neugewählt, selbst von Frauen in Findungskommissionen, und das zeigt mir, dass das System nicht funktioniert. Oft sind diese Kollegen vielleicht bessere Künstler, aber weniger gute Manager. Das Selbstverständnis, das vielleicht aus ihrer künstlerischen Arbeit entsteht, darf nicht auf den Intendantenposten übertragen werden – für beides braucht es unterschiedliche Kompetenzen.

Sie beschreiben in Ihrer Studie den Mechanismus in Findungskommissionen, dass sich bestimmte Typen durchsetzen und in die Ämter gewählt werden.

Ja, in Findungskommissionen finden sich ja selbst meist Intendanten, die vom Bühnenverein entsandt werden. Dort wird nach bestimmten, oft subjektiven Indikatoren und Fragen entschieden: Wie gut kennt man den Kandidaten. Wie ähnlich ist er den eigenen Leitmotiven. Passt er in die Bühnenvereins-Policy. Und wie stark lässt sich der zu wählende Intendant mit dem eigenen Netzwerk verbinden. Dieser Mechanismus muss durchbrochen werden. Intendanten sollen nicht Intendanten wählen, das ist eine verkehrte Welt, erinnert mich an ein Kurfürsten-System und das hat mit Demokratie im 21. Jahrhundert sehr wenig zu tun.

Der Bühnenverein verteidigt dieses System. Wäre vieles einfacher, wenn man sich dort endlich weiter öffnen würde?

Ganz klar, ja. Der Bühnenverein ist ein Zwittermodell, ein Hybrid. Arbeitgeber-Verband und Theaterverband in einem, in dem angestellte Intendanten Mitglieder sind. Jeder Organisationssoziologe würde vorschlagen, dass man diese Bereiche institutionell trennen muss. Wenn wir diese Klarheit hätten, könnte man die Aufgaben zwischen den Gruppen neu verteilen. So bleibt der Bühnenverein ein hermetisches Gebilde, das sich nicht in die Karten schauen lässt. In Lübeck wurde im vergangenen Jahr mit dem Verhaltenskodex ein erster Schritt getan, aber eher reagierend als progressiv. Es gibt zudem kein Monitoring, ob und wie die Kodizes eingehalten werden.

Seit zehn Jahren kommen immer wieder unterschiedlichste interne Führungskrisen ans Licht. Sie analysieren im übergeordneten Teil der Studie detailliert die Strukturen des deutschsprachigen Theatersystem, das ja eigentlich hochgelobt ist. Aber genau diese als Stärke geltenden Strukturen scheinen ein großes Problem zu sein. Warum hat sich der Betrieb so entwickelt?

In den 70er Jahren hat man Reformchancen verpasst. Damals gab es eine Reformbewegung, die aber noch nicht ausreichend zu Ende durchdacht, organisiert und strukturiert war, mit der das Intendanten-zentrierte Modell aber schon stark angezweifelt wurde. Hochgelobt sind heute lediglich die Dichte des Theatersystems und die künstlerischen Arbeiten. Strukturell kann man nicht davon sprechen. Wir diskutieren seit 2015, dass Gefahr in Verzug ist und dass wir dabei sind, das Theatersystem aufs Spiel zu setzen. In den vergangenen zehn Jahren gab es 50 Fälle von publik gewordenen Leitungskrisen – das ist nicht mehr nur punktuell.

Heißt das, dass das Phänomen flächendeckend ist oder konzentriert sich Machtmissbrauch doch auf einige wenige Theater oder Personen?

Flächendeckend ist es noch nicht, und ich möchte nochmal betonen, das es eine ganze Reihe gut geführter Theater gibt. Aber die Probleme tauchen keinesfalls nur punktuell auf. Wenn von 1966 Befragten über fünfzig Prozent mitteilt, dass sie in der letzten Zeit unmittelbar von Machtmissbrauch betroffen waren, dann sind das alarmierende Zahlen.

Waren alle Mitarbeiter*innen an deutschen Theatern aufgerufen, an der Studie teilzunehmen?

Alle waren aufgerufen. Mit den knapp 2000 haben wir eine sehr repräsentative Auswahl, die auch den Verteilungen zwischen den Theatertypen, den Regionen entspricht. Schwerpunkt-Gruppe sind die Künstler*innen. Bezogen auf die Gesamtzahl der Teilnehmer*innen haben am Ende 38,5 Prozent Darsteller*innen, 26,4 Prozent künstlerische Mitarbeiter*innen, 5 Prozent nicht-künstlerische Mitarbeiter*innen und 5,6 Prozent Mitglieder der Leitungsebene teilgenommen.

Der Aufruf lief aber allein über die E-Mail-Verteiler und Facebook-Seiten Ihres Lehrstuhls sowie des ensemble netzwerks.

Wir haben laut und deutlich zur Multiplikation aufgerufen. Zudem sind die beiden Medienseiten sehr stark vernetzt in das gesamte Theatersystem hinein. Über den Algorithmus ließ sich ermitteln, dass wir etwa 7000 bis 8000 Leute angesprochen und damit 20 Prozent der Mitarbeiter*innen aller Theater direkt erreicht haben. Die indirekte Ansprache über Mund-zu-Mund-Propaganda und Aushänge war noch viel größer. Entscheidend ist die Zahl der Teilnehmer: 1966. Unsere Erwartung lag bei 400, damit wäre die Studie bereits repräsentativ gewesen, so ist sie es noch um einiges mehr und deutlicher. Die hohe Teilnahme ist insofern auch ein großes Geschenk. Studien in Amerika zu ähnlichen Themen oder in Deutschland im Wissenschaftsbereich werden mit weniger Teilnehmer*innen durchgeführt und gelten als repräsentativ.

Man könnte dagegen halten, dass die geantwortet haben, die schlechte Erfahrung gemacht haben, dafür ein Bewusstsein entwickeln und sich nun zu Wort melden.

Das ist richtig. Auf der anderen Seite konnten sich über mehr als 100 Tage auch alle diejenigen melden, die gute Erfahrung gemacht haben. Hier stellt sich die Frage, wenn es sie denn gibt, warum haben sie nur in geringem Umfang reagiert? Ich weiß, dass die Umfrage in der Intendantengruppe des Bühnenvereins diskutiert wurde, woraufhin dann mehr Leitungsmitglieder, immerhin 5,5 Prozent, und künstlerische Mitarbeiter*innen teilnahmen. Andererseits: Jede empirische Studie weckt vor allem das Interesse derjenigen, die dazu etwas zu sagen haben. Cover Macht und Struktur 280Die wichtigste Aufgabe war jedoch, Grundlagen-Material zu sammeln und zu ermitteln, wo der Notstand liegt. Zahlen, die sich nicht leugnen lassen, wie die 284 Angebote gegen sexuelle Gefälligkeiten, nur um ein Beispiel zu nennen. Das ist die erste und wichtige Aufgabe dieser Studie, und das haben wir geschafft. Das Ergebnis darf auch gerne durch neuerliche Studien überprüft werden. Ich habe einen guten Kontakt zur Themis-Vertrauensstelle, der ich das Ergebnis auch übergeben habe und die auch selbst eine Studie plant. Die Zusammenarbeit mit dem ensemble-netzwerk hat den Teilnehmer*innen in unserem Fall aber vor allem zusätzliches Vertrauen gegeben, sich auszusprechen. Dafür bin ich sehr dankbar.

In den Ergebnissen steckt auch viel sozialer Sprengstoff. 28 Prozent der Befragten arbeiten jedes Wochenende. 29 Prozent können nur ausreichend, lediglich 9 Prozent gut von ihren Gagen leben. Von denen, die immer wieder täglich mehr als 10 Stunden arbeiten müssen, sind 65 Prozent Frauen. Niemand wünscht sich solche Arbeitsbedingungen.

Das Buch wird hoffentlich weiter aufrütteln und dazu führen, dass man erkennt, an welchen Stellschrauben gedreht werden muss. An den Gagen definitiv, an den Arbeitszeiten, am Vertragssystem, an der Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, ganz zu schweigen davon, dass unsere Theater weder divers noch inklusiv sind.

Viele kleine Puzzlesteine stärken die Strukturen und das Machtgefälle, das macht Ihre Studie deutlich. Als zentrales Problem nennen Sie immer wieder den NV-Bühne-Vertrag mit seiner Nichtverlängerungsklausel bei unzureichenden künstlerischen Leistungen und mit seiner geringen Mindestgage. Sie schlagen auch ein Umverteilungsmodell vor, um die Gagen anzugleichen. Was macht die Veränderungen so schwierig? Was sind das für irrsinnige Widerstände?

Es herrscht die Angst, dass das ganze Gebäude einbricht, wenn man Zugeständnisse macht. Denn das System steht auf tönernen Füßen. Der NV-Bühne ist neben der Leitungsstruktur das Erste, was reformiert werden muss. Die Gagen müssten zudem wie in der Schweiz nach oben angepasst werden. Dort liegt die Einstiegsgage bei 4100 Schweizer Franken. Auch wenn die Lebenshaltungskosten höher sind als in Deutschland, entspricht das nach Abzug aller Kaufkraftverluste noch immer über 3000 Euro Gage in Deutschland, also 1000 Euro mehr als unsere Mindestgage. Warum zahlen die Schweizer mehr? Daraus ließen sich Argumente gewinnen. Im Prinzip hat man der Politik leider viel zu oft gezeigt, wir machen es euch auch für das Geld, das wir haben. Die Personalkosten – und damit die Subventionen für die Theater müssen aber in den kommenden Jahren dringend etwa 15 bis 20 Prozent nach oben angepasst werden. Darüber muss geredet werden, denn die Theater sind ein integraler Bestandteil der Gesellschaft und sollen es auch bleiben. Wir verlieren sonst Stellen und Substanz der Theater – die müssen dringend erhalten und weiter entwickelt werden.

Gerade die jungen Künstler*innen, die am schlechtesten bezahlt werden, scheinen auch am schlechtesten behandelt zu werden. Es scheint sich ein seltsames Arbeitsklima an den Theatern eingenistet zu haben.

Das bringt es gut auf den Punkt. Im sozialen Marketing wird ein Produkt dann mehr wertgeschätzt, wenn es einen adäquaten Preis hat. Das sehen wir im Theater, wenn zum Beispiel Karten deutlich unter Preis vergeben oder verschenkt werden, ist der langfristige Effekt negativ, weil die Wertschätzung darunter leidet. Wenn ein junger Schauspieler zur Mindestgage engagiert ist, unbezahlte Mehrarbeit leistet, scheint das dazu einzuladen, auch ihn wenig zu wertschätzen oder schlecht zu behandeln. Deswegen kann man nicht oft genug wiederholen: Es muss angemessen bezahlt werden. Die Mindestgage muss dringend nach oben angepasst und die jungen Künstler*innen müssen besser geschützt werden.

Was könnten weitere Lösungen für all diese Probleme sein?

Das strukturelle Führungsmodell muss verändert werden, damit steht und fällt alles. Nur so lassen sich die problematischen Punkte verändern: Abbau von Hierarchien, die Förderung von Teamstrukturen, das Einsetzen von Verhaltens-Codizes, und auch eine systematische Aufarbeitung der Missstände. Viele Künstler*innen stellen sich jetzt erst Fragen. Auch die Hochschulen müssen viel besser aufklären. Ich berate eine Reihe von jungen Absolvent*innen aus dem Bereich des Schauspiels und stelle fest, dass gerade die großen Häuser oft versuchen, junge Absolvent*innen mit minimalen Gagen abzuspeisen. Und es braucht einen Einheitstarifvertrag, das bringe ich seit fünf Jahren ins Spiel, aber der Vorschlag wird immer wieder abgeschmettert mit der Begründung, dann gingen die Theater kaputt. Dann braucht es auch Ombudsstellen, unabhängige Ansprechpartner, die nicht von den Intendanten zur Rechenschaft gezogen werden können. Es sind in der Studie Fälle genannt, bei denen bereits der Gang zum Betriebsrat, als Vertrauensbruch empfunden, zur Kündigung führte. Außerdem Geschlechterparität, Diversität und Inklusion. Die große Gruppe der Benachteiligten sind in einem sehr hohen Maße Frauen. Und das bedaure ich am meisten.

Ihre Ergebnisse sind dazu angetan, den Betrieb aufzurütteln. Erwarten Sie, dass nun tatsächlich eine Diskussion einsetzt, die etwas verändert?

Ich hoffe es sehr. Das ensemble-netzwerk hat enorm viel erreicht. Ohne diese Arbeit würde vieles noch in den Kinderschuhen stecken. Aber es muss jetzt weitergehen, alle müssen mit anpacken. Es gibt viele junge Intendant*innen, einige Namen habe ich in der Studie auch genannt, die vorbildlich sind – und daran muss das Theatersystem sich orientieren. Ich spüre den Gegenwind auf die Studie, aber ich erwarte, dass man die Ergebnisse nicht abschmettert, sondern sich damit auseinandersetzt, auf allen Seiten. Insgesamt ist der Zuspruch jedoch sehr hoch, und der Dank gilt den Teilnehmer*innen, die sich so ernsthaft mit den Fragen auseinandergesetzt haben, dem ensemble-netzwerk und meiner Hochschule.



Thomas Schmidt kleinThomas Schmidt ist Professor für Theater- und Orchestermanagement, Direktor des gleichnamigen Masterstudiengangs an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main und Vorstandsmitglied des ensemble-netzwerks. Er war Mitbegründer, Produzent und Autor am neuen schauspiel erfurt, von 2003 bis 2012 Geschäftsführer des Deutschen Nationaltheaters Weimar und in der Spielzeit 2012/13 dessen Intendant. Seine viel beachtete Studie Theater, Krise und Reform. Eine Kritik des deutschen Theatersystems erschien 2016, sein Buch "Programm und Spielplangestaltung im Theater" Im Juni 2019. Das Buch zur Studie "Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht" ist seit September 2019 im Verlag Springer VS erhältlich (Leseprobe auf google Books).

 

Mehr zum Thema Ungleichbehandlung im Theatersystem: Anne Peter schrieb im Mai 2018 über die Gründe für die strukturelle Benachteiligung von Frauen und mögliche Lösungsansätze. Und im Februar 2019 interviewte sie die Regisseurin und Karlsruher Schauspieldirektorin Anna Bergmann über Geschlechtergerechtigkeit und die Frauenquote im Theater.

 

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