Ein Raum voller Geister

von Cornelia Fiedler

Dortmund, 12. Oktober 2019. Das Schlimmste ist: "wenn man hier steht, liefern soll und weiß es ist SCHEIßE!" Bettina Lieder, eben noch Tschechows Nina Saretschnaja im kanariengelben Gutelaune-Kleid, stürmt von der Bühne, stürmt, von Tobias Hoeft mit der Livekamera verfolgt, durch einen engen Gang, der aussieht wie ein LSD-Trip, stürmt aufs Klo und schimpft und wütet und zetert und schreit und flucht zwischen Spiegeln, Fliesen und Toilette minutenlang, absolut hinreißend und ohne Atempause.

Sie wütet über die beschissenen Tränen, die auf der Bühne nicht fließen wollen, über die reaktionären Stadttheater, die kaum Frauenrollen kennen, die nicht ständig flennen müssten, über Angst, über Zwangsneurosen, über die "verfickte Mittelmäßigkeit", über "die Kollegen, die Regisseure, die Inspizienten, das Publikum, die Kritiker", darüber, die intimsten Gefühle für die Arbeit ausbeuten zu müssen, über den Zwang, trotz unmenschlicher Arbeitszeiten jugendlich frisch zu wirken, über – und dann passiert das noch Schlimmere: Ein – natürlich männlicher – Kollege, Ekkehard Freye, platzt in den Monolog des Abends, drängt sich an ihr vorbei zum Klo, wirft sich geradezu auf die Schüssel und erleichtert sich donnernd.

Reise durch die Geschichte des Abbildes

Es ist ein sehenswerter Rundumschlag für, gegen, über das Theater: Schauspiel-Intendant Kay Voges tritt noch ein letztes Mal mit seinem kompletten Ensemble an, bevor er 2020 ans Wiener Volkstheater wechselt und Julia Wissert in Dortmund übernimmt. "Die Möwe" steht auf dem Programm, das Künstlerdrama schlechthin, das Anton Tschechow mit eisiger Ironie als Komödie betitelt hat. Dass dabei kaum ein Textbaustein auf dem anderen bleiben wird, ahnt, wer Inszenierungen wie Voges' Theatermacher gesehen hat. 

Play Moewe 5 560 BirgitHupfeld uKein Tschechowtextbaustein mehr auf dem anderen: Uwe Schmieder und Ekkehard Freye © Birgit Hupfeld
Mit dem Ensemble und den Dramaturg*innen Anne-Kathrin Schulz, Matthias Seier und Roman Senkl fragt Voges nach der Wirkmacht und den Grenzen der Kunst und des Einzelnen. Als ästhetische, auch methodische Folie dient Jean-Luc Godards "Histoire(s) du Cinéma". Der mehrteilige Collage-Filmessay ist eine persönliche, anmaßende, poetische, analytische Gedankenreise durch die Geschichte der Bilder, der Abbilder, der Produktion von Wirklichkeit. Manchmal sieht man darin Godard selbst an der Schreibmaschine sitzen, rauchen, tippen, philosophieren, bevor er wieder Schrift, Filmsequenzen und Bilder sinnfällig aufeinander prallen und neue oder alte Bedeutung produzieren lässt.

Das goldene Voges-Zeitalter in Dortmund

Schreibmaschine, Bücherwand, sogar das alte eckige Mikrofon sind stilgetreu auf der Bühne nachgebaut, vorne rechts an der Rampe. Jede*r ist hier mal Godard, Friederike Tiefenbacher zum Beispiel spricht am Schreibtisch sitzend von der Kunst als einem verzweifelten Versuch "das Unvergängliche zu erschaffen, mit vergänglichen Dingen". Dazu verspeisen vor einem gelb und rot leuchtenden Hintergrund drei Ninas, nur als Schattenrisse zu erkennen, drei Möwen.

Wie bei Godard überschneiden sich hier Theater- und Filmszenen, eingeblendeter Text, Musik und Zitate. Mal entsteht ein Gedanke daraus, mal ein Lachen, mal lediglich ein langes "Hääää?". So organisch wie im Film finden poetischer Kommentar und Spielszenen hier allerdings nicht zusammen. Godards extrem subjektive Bilanz der Filmgeschichte auf ein Jahrzehnt Dortmunder Theatergeschichte zu übertragen ist stellenweise doch eine Nummer zu groß.

Play Moewe 4 560 BirgitHupfeld uMultiple Ninas nach dem Prinzip der Serie  ©  Birgit Hupfeld

Eines der zentralen Organisationsprinzipien dieses Abends ist die Serie, die Vervielfachung. Auf der Bühne öffnet sich eine weitere Bühne, die den Blick freigibt auf noch eine Bühne, auf der dann ein Treblew nach dem anderen auftaucht, eine Nina nach der anderen verschwindet. Ein zweites Prinzip ist der Loop, bekannt aus Das goldene Zeitalter: das Wiederundwieder des Theaters, der Alltagsroutinen, der ritualhaften Streits über alte und neue Theaterformen, des Denkens selbst, das ja allzu gern in Kreisen verläuft.

Das dritte lautet, "Dieser Raum ist voller Geister", Geister der Menschen und Rollen, die hier Tag für Tag gelebt haben oder zum Leben erweckt wurden: Der Duracel-Hase aus "Das goldene Zeitalter" spukt durch die Kulissen, der Astronaut aus der Borderline-Prozession, die Braut aus Hell. Ein Augenblick, und sogar eine der Gestalten aus dem Theaterfilm Einige Nachrichten an das All hat es in die dritte Dimension geschafft. Was in den Flashbacks in die letzten neun Jahre leider nicht vorkommt, abgesehen von der wie immer perfekten Videotechnik, sind die Geister der Digitalisierung, die die Arbeit von Kay Voges und seinem Team in Dortmund ganz wesentlich geprägt haben.

Lustvoller Krawall, nachdenkliche Stille

Dafür wartet die Inszenierung mit fast unerwartet viel Tschechow auf, der seine Figuren ja auch gern in Endlosschleifen kreisen ließ. Wir sehen Treblew und Nina in allen Varianten. Postdramatisch mit Ketchup beschmiert, präpubertär als Wum und Wendelin mit Durchfall und rührend als zwei alte Menschen im Rollstuhl, die nicht begreifen können, wie schnell das alles ging und wann sie ihre Liebe der Kunst geopfert haben.

"►PLAY" erreicht nicht die Wucht des "Goldenen Zeitalters" oder der "Borderline-Prozession". Es ist einfach ein starker Theaterabend mit einem tollen Ensemble. Und, obwohl einem der lustvolle Krawall und die dröhnenden Sounds von T.D. Finck von Finckenstein noch in den Ohren hallen, ist es ein Abend, der in der Erinnerung leise wirkt, nachdenklich und mit Fug und Recht nostalgisch.

 

►PLAY: Möwe | Abriss einer Reise
von Kay Voges und Ensemble, frei nach Tschechow
Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Videoart: Mario Simon, Laura Urbach, Jan Isaak Voges, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz, Matthias Seier, Roman Senkl, Licht-Design: Voxi Bärenklau, Musik und Komposition: T.D. Finck von Finckenstein, Live-Kamera: Tobias Hoeft
Mit: Andreas Beck, Christian Freund, Ekkehard Freye, Björn Gabriel, Frank Genser, Caroline Hanke, Marlena Keil, Bettina Lieder, Julia Schubert, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Alexandra Sinelnikova, Friederike Tiefenbacher, Anke Zillich
Premiere: 11. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

Das gesamte Ensemble zeige sich hier von seiner besten, lebendigsten, spielerischsten Seite, schreibt Jens Dirksen in der WAZ (12.10.2019). "Am knapp eine halbe Stunde zu späten Ende sind weit mehr Fragen gestellt als beantwortet, ist aber zugleich auch ein ganzes, irrwitzig schnell vergangenes Jahrzehnt vorübergezogen."

"(E)in schillernder, bunter, lustiger und wehmütiger Gedankenpalast über dieses seltsame Ding, das wir Theater nennen“ – so beschreibt Bettina Jäger von den Ruhr Nachrichten (13.10.2019) die Inszenierung. "Ein Nachteil des Abends ist, dass er wenig durchgehende Handlung hat. So hängt die Uraufführung nach einer genussvollen Stunde durch, findet ihre Spannung dann wieder und mündet nach zweieinhalb Stunden ohne Pause in ein Finale, von dessen eindrucksvollen Szenen jede als Schlussbild getaugt hätte und das darum etwas schwergewichtig wirkt."

"Hier zieht einer alle technischen Register modernen Regietheaters und schafft es trotzdem, sich nicht im Formalismus zu verzetteln. Auch dank des herrlich spielenden Ensembles entstehen in all dem Durcheinander immer wieder berührende Theatermomente", lobt Christoph Ohrem vom WDR (14.10.2019). "Antworten gibt es keine, dafür einen sehr unterhaltsamen, anregenden und originellen Theaterabend, der in zweieinhalb Stunden trotz aller Wiederholungen keine Sekunde langweilt."

"Das hat durchaus seine Längen. Aber immer wieder findet die Inszenierung zu Momenten und Bildern von großer Intensität", schreibt Ralf Stiftel vom Westfälischen Anzeiger (14.10.2019). Viel Nostalgie schwinge mit. "Es fehlt der Schauer des Neuen, den man beim 'Goldenen Zeitalter', bei der 'Borderline Prozession' fühlte. Dennoch ist dies ein Abend, an dem ein Theater gespielt wird, das man nicht so schnell vergisst." Das Ensemble zeige noch mal, welche Klasse in ihm stecke.

"Voges hat in Dortmund Theatergeschichte geschrieben, jetzt, nach zehn Jahren, zieht er Bilanz", berichtet Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (online 23.10.2019). Voges haben das Schauspiel Dortmund "belebt, hat es bunter, schriller, aufregender gemacht", so der Kritiker. "Am Ende seiner zehnjährigen 'Reise' ist das Voges-Ensemble nun so vom Erfolg verwöhnt, dass es sich sogar leisten kann, einen kunterbunten, überfrachteten Abend, bei dem es um alles und nichts geht, als 'Play: Tschechow' laufen zu lassen und sich selbst zu feiern."

 

Kommentare  
Play: Möwe, Dortmund: Hinweis
"Ein schillernder, bunter, lustiger und wehmütiger Gedankenpalast über dieses seltsame Ding, das wir Theater nennen. […] Das ist ein toller Abend für alle, die das Theater lieben. Wir als Zuschauer begreifen die Schmerzen, mit denen ein Stück geschrieben wird. Die Zweifel, mit denen Schauspieler jeden Abend um ihren Ausdruck ringen. Den Wunsch, etwas Wichtiges über die Welt zu sagen. Kay Voges ist das seit 2010 in Dortmund gelungen." Bettina Jäger, Ruhr Nachrichten
https://www.ruhrnachrichten.de/nachrichten/kay-voges-letzter-vorhang-gilt-der-liebe-zum-theater-plus-1459432.html
►PLAY: Möwe, Dortmund: zum letzten Mal
Hier greift ein Ensemble ein letztes Mal tief in die eigene Repertoirekiste, findet Figuren und Kostüme und Spielhaltungen, auch Bilder, wieder, remixt sie zu neuen, überraschenden, auch albernen Kombinationen. Die alten Geschichten und Figuren und Kostüme sind geblieben, sie suchen als Gespenster ihre einstige Heimat heim, irren über die Bühne, docken an das gerade zu Spielende an, werden neu ersonnen und erträumt. Das Theater als kollektiver Traum, der nicht selten ein Albtraum ist. Seine Geschichten als Untote, die nicht zur Ruhe kommen, die in diesem Raum geblieben sind, weil sie keinen anderen haben, keine andere Realität, in der sie existieren, die zu Hause sind in den Erinnerungen, der Spieler*innen, der Zuschauer*innen, den individuellen wie kollektiven. Sie sind gefangen in der Zeitschleife wie es auch Tschechows Figuren sind, die sich non-linear durch die Lebensalter hangeln, immer wieder in den gleichen Situationen und Dialogen landen und nicht voneinander fortkommen. Weil das Geschichtenerzählen nicht endet, nicht enden kann, weil die Frage im Raum bleibt, wie „richtig“ zu erzählen ist, auf welche Weise sich die „echte“ in die theatrale Realität übertragen lässt.

Kay Voges und seine Mitstreiter*innen haben solche Fragen zehn Jahre lang gestellt. Sie haben sich in Loops gedreht und per Glasfaserkabel über hunderte Kilometer hinweg verdoppelt. Sie haben sich wiederholt und variiert, haben die Zeit aufgehoben und sich in ihr verheddert, sind in Bilderfluten ertrunken und haben sehen gelernt. Sie haben aus uralten Geschichten neue gemacht, heutige, und sind immer wieder daran gescheitert. Dieser letzte Abend ist ein finales Mixtape, eine allerletzte Suche nach der Beziehung des Drinnen zum Draußen, des Theaters zur Wirklichkeit. Er zitiert und assoziiert, kommt (nicht im Handkeschen Sinne) von Tschechow und Godard, aber eben auch aus dem Internet, von Twitter und Netflix, von 24-Stunden-News und YouTube. Er schwankt und zittert und dreht sich voran und im Kreise und um sich selbst. Lolitas treffen auf Wum und Wendelin, Trigorin auf Roboterpuppen, Godard auf Fäkalhumor. Alles Geschichten, alles dieselbe, alles Theater. Die Geister, sie werden bleiben. In den Hirnen, den Herzen, den Ritzen zwischen den weltbedeutenden Brettern. Und sie werden sich neu verknüpfen, remixen zu neuen Geschichten, Erzählungen, Bildern. Die alle die eine sind: Theater. Dem Voges ein letztes Mal an diesem Hause huldigt. Mit Demut, Ratlosigkeit, Witz und Selbstironie. Zehn Jahre. Vorbei oder noch gar nicht begonnen?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/12/30/10747/
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