Zwei-Fäuste-Slalom

Von Christian Muggenthaler

Bamberg, 12. Oktober 2019. Johann Wolfgang von Goethes "Faust 2", dieses Nagelbett des Bildungsbürgertums, ist in seiner Vielschichtigkeit eine reichhaltige Herausforderung für jede Regie. Der Text ist ein weitschweifiger Tanz auf einem Erkenntnis-Erntedankfest, das tatsächlich Ergebnis jener Universalgelehrtheit ist, der Goethe sich lebenslang unterzogen hat und die sein Faust zu Beginn des ersten Teils noch ziemlich frustriert verdammt. Am E.T.A-Hoffmann-Theater in Bamberg erklären Regisseurin und Theaterleiterin Sibylle Broll-Pape und der Dramaturg Remsi Al Khalisi diesen zweiten Teil nun für besonders brisant und visionär und bürsten ihn auf: indem sie einerseits auf der Bild-Ebene aktuelle Bezüge einflechten und ihn andererseits mit der Handlung von "Faust 1" gegenschneiden und eng verflechten.

Huschhusch hin und her

So entsteht ein "Faust 1in2", eine Produktion, in der immer dann die Gretchen-Handlung geschwind in den zweiten Teil wechselt, sobald Assoziationsbezüge das zulassen. Faust verliebt sich in Margarete – und schon sind wir bei Helena. Margarete findet in ihrer Kammer ein Schmuckkästchen – ratzfatz versorgt Mephistopheles den darbenden kaiserlichen Hofstaat mit Geld. So springt diese Inszenierung huschhusch hin und her, als ob der erste Teil der Kleiderbügel des zweiten wäre und alles zusammen ein zweifäustiges Mobile, das an Assoziationsfäden über der Bühne schwebt. Eine ziemlich fleißige Kompilationsarbeit, beide Texte auseinanderzufieseln und wie einen Quilt neu zu vernähen.

Faust 1in2 7 560 MartinKaufhold uIm Klassikermodus: hinten Grete (Anne Weise), vorne Mephisto (Eric Wehlan) und Faust (Stephan Ullrich) © Martin Kaufhold

Das ist ja immerhin mal eine ziemlich clevere Idee, einem Text im Kaleidoskop-Modus vielleicht ein paar neue Ansichten zu verschaffen. Und irritiert zunächst insofern ein wenig, als zu Beginn den gewohnten Teil-1-Anschubszenen um Phiole, Famulus und Osterglocken eher mit Wurstigkeit begegnet wird: Ohne viel Gedöns hat sich der Pudel geschmeidig entkernt. Aber man gewöhnt sich schnell an diese Konstruktion, die die klassische Handlung eher nebenher erzählt und stattdessen auf etwas ganz anderes hinaus will: auf die mephistophelische Kontamination des Menschen, der bewusst Handeln vor Klugheit setzt: Gold! Sex! Macht! Fortschritt! Im permanenten Bühnen-Verschiebebahnhof von vier schwarzen, multifunktionalen, stets neu bespielbaren Kästen wachsen die gezogenen Assoziationsfäden bis in die Gegenwart weiter.

Im Inneren der Phantasie-Glocke

Denn die Schränke erweitern sich in den Hintergrund zu Datenschränken von Netz-Knoten, Homunculus bekommt die Gestalt eines Cyborgs und der Krieg in Kaisers Auftrag wird hinterblendet von der Monitor-Distanz ferngesteuerter heutiger Artillerie-Waffen. Diese Bezüge sind nie aufdringlich, aber eben: immer auch da. Dazu kommt die Tradition in Sibylle Broll-Papes Haus, gern mal schräge Gestalten in die Handlungen einzubauen, und hier sind sie sonder Zahl: Meerkatzen sind dem Text mehrere Male entsprungen, die Proteusszenen vor der Pause werden zu einem Figurenaufgalopp im Sinne von – passt ja – E.T.A. Hoffmann-Nachtstückgespinsten. Da sitzt dann das Publikum im Inneren einer Phantasie-Glocke. Und der Schlagzeuger Daniel Klein dingdongt am Bühnenrand Klangwucht und Glockenklang dazu.

Faust 1in2 6 560 MartinKaufhold uIm Phantasiereich: Mehr Meerkatze ist kaum möglich © Martin Kaufhold

Logistisch ist der ganze Bühnen- und Kostüme-Apparat (die höchst phantasievolle Ausstattung ist von Trixy Royeck) mit gerade einmal acht Darstellern für zwei Fäuste in knapp drei Stunden eh stark. Am Premierenabend wurde das souverän gemeistert. Sechs Darsteller wechseln im Dauerdurchlauf durch ein Dutzend Rollen in den verschiedensten Modi, Temperamenten und Geschwindigkeiten und verleihen dennoch allen Wesen Konzentration, Präsenz, Wucht und Wortmacht. Zwei Darsteller bleiben in ihren Rollen: Eric Wehlan ist ein lässiger, snobistisch unterkühlter Mephistopheles, der so viel gesehen hat vom immergleichen menschlichen Streben, dass er fast schon ein wenig genervt ist von seinem Seelen-Geschäft. Er schnaubt nach neuen Herausforderungen viel mehr noch als die Titelfigur selbst (Stephan Ullrich).

Diese seltsame Wirkung ist denn auch der eigentliche Nachteil der Bamberger "Faust 1in2"-Konstruktion: Sie wirkt – phasenweise wenigstens – entkernt. Im Zwei-Fäuste-Slalom verliert man bisweilen vollends den Blick auf Goethes Handlungs-Konstruktion – und die Figuren verlieren so ihre womögliche Bedeutungsträgerschaft, die auch zugunsten der Neu-Erzählung nicht immer wirklich erfragt wird. Dem Text kommt einerseits Getragenheit, andererseits aber auch Verlässlichkeit abhanden. Wer an seinem Reclam-Heftchen hängt, wird wahnsinnig. Immerhin ist dies alles ein guter Versuch, eine neue Lesart zu ergründen – ein Goethe-Homunculus.

 

Faust 1In2
von Johann Wolfgang Goethe
Regie: Sibylle Broll-Pape, Bühne und Kostüme: Trixy Royeck, Musik: Daniel Klein, Video: Lea Heutelbeck, Dramaturgie: Remsi Al Khalisi.
Mit: Stephan Ullrich, Eric Wehlan, Anna Weise, Ewa Rataj, Carlotta Freyer, Clara Kroneck, Stefan Herrmann, Denis Grafe.
Premiere am 11. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.theater.bamberg.de

 

Kritikenrundschau

Christoph Hägele schreibt auf www.inFranken.de, der Online-Plattform des Fränkischen Tag (online 13.10.2019):  Das Bühnenbild eines "Rechenzentrums"zeuge vom Anspruch, "die Gesellschaftsanalyse Goethes auf unsere von Big Data, Künstlicher Intelligenz und hochtourigem Finanzkapitalismus geprägte Gegenwart zu übertragen". "Glücklicherweise" hätten Dramaturg Al Khalisi und Broll-Pape "Goethes Menschheitsparabel" nicht in "das enge Korsett einer bis ins Detail ausformulierten Gegenwartskritik" gezwängt, auch wenn unübersehbar der "Gegenwartsmensch" gemeint sei. Für die, die sich im aufgesplitterten Text verlören, gebe es "berückende Bilder" in "ausreichender Zahl". Bei der Premiere sei eine "geschlossene Mannschaftsleistung" zu sehen gewesen. Schlagzeuger Daniel Klein dramatisiere die Szenen, rhythmisiere und schärfe sie zu.

 

 

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