Zu viel Wahrheit

von Gerhard Preußer

Oberhausen, 11. Oktober 2019. "Was ist Wahrheit?", fragte Pilatus, erhielt keine Antwort und beging einen der folgenreichsten Justizirrtümer der Weltgeschichte. Was die Wahrheit auf dem Theater ist, weiß man trotz aller Authentizitätsdebatten auch nie. Das Theater ist die Mischmaschine, die Wahrheit und Lüge zu einer ganz neuen Farbe mischt. Also ist die Biographie einer Frau, in der sich Täuschung, Übertreibung, Lüge und Erfindung aufs Schönste mischen, ein passender Theaterstoff.

Über die "Schutzheilige der Verschwörungstheoretiker"

"Alles ist wahr – Die neun Leben der Marita Lorenz" im Theater Oberhausen will diese Lebensgeschichte auf die Bühne bringen. Die 1939 in Bremen geborene Tochter einer amerikanischen Mutter, die Informantin des CIA war, überlebt das KZ Bergen-Belsen, fährt mit dem Schiff ihres Vaters, des Kapitäns Heinrich Lorenz, nach Havanna, wird dort mit 19 Jahren Fidel Castros Geliebte, wechselt dann die Fronten und arbeitet jahrzehntelang für die vom CIA geführten Exil-Kubaner und hat ein Kind mit dem venezolanischen Ex-Diktator Jiménez. Ihre Tochter nennt ihre Mutter ein "Diktatoren-Groupie". So weit sind die Ereignisse wunderlich, aber wohl wahr.

AllesIstWahr 3 560 KatrinRibbe xKapitänstochter, Castro-Geliebte, CIA-Agentin: Nina Karimy als Marita Lorenz © Katrin Ribbe

Zur "Schutzheiligen der Verschwörungstheoretiker" aber wird sie, als sie behauptet, belegen zu können, dass die Exil-Kubaner mit dem CIA die Ermordung J.F. Kennedys geplant und ausgeführt haben. Sie sei mit Oswald, dem Mörder Kennedys, von Miami nach Dallas gefahren am Tag vor den tödlichen Schüssen. Sie verliert nach dieser Aussage den Rückhalt bei ihren alten exil-kubanischen Freunden, verarmt, hat weitere Kinder mit unklarer Vaterschaft, erledigt kleine Jobs für CIA und FBI.

Überhöhte Monologe

Schließlich – und hier scheint die Geschichte in dem im Theater so beliebten Zwischenreich zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu enden – siedelt sie im Alter von 80 Jahren in ein Seniorenwohnheim in Oberhausen-Sterkrade über und stirbt dort, einen Monat vor der Uraufführung des Theaterstücks über ihr Leben. Doch hier scheint der Schein nur Schein zu sein, es ist die Wahrheit. Autor Dominik Busch hat sie vor ihrem Umzug noch in New York interviewt und hat aus diesen Informationen ein Theaterstück destilliert, das wichtige Stationen dieses Lebens in eine komprimierte Sprache bringt.

AllesIstWahr 1 560 KatrinRibbe xUuuuund Action: Shari Asha Crosson und Elisabeth Hoppe © Katrin Ribbe

Busch schreibt keine Szenen, sondern Monologe. Marita erzählt. Dabei spricht sie eine Sprache, die die Banalität des Lebens als Agentin überhöht mit dem, was man Poesie nennen soll, was aber auch in Kitsch abrutscht. Der erste Verkehr mit Castro wird in den Maschinenraum des Ozeandampfers verlegt und dort, so spricht sie in der Erinnerung zu Castro, "werden deine Lippen, wird dein Mund, deine Zunge, zu einem Baum, der fest verwurzelt auf der Erde steht und wir lehnen uns an diesen Baum und spüren die Rinde …"

Willkürliche Bebilderung

Die Gefahr der Monotonie des Erzähltheaters nötigt der Regie (Babett Grube) Gegenmaßnahmen ab: Nicht eine Marita erzählt, sondern vier. Die Fortsetzung der Begegnung mit Castro wird zwischen dem Gesang von "Walking on broken glass" eingeschoben. Wenn Marita mit den CIA-Trainern Schießübungen macht, gibt es heftiges Geknalle und alle vier Maritas springen, robben und fallen über die Bühne wie in einer Kriegsfilmparodie.

AllesIstWahr 4 560 KatrinRibbe xWildes Geknalle mit Nina Karimy und Susanne Burkhard © Katrin Ribbe

Von den vielen Versionen, die sie über die Abtreibung erzählt hat, als sie in Havanna von Castro schwanger war, bleibt nur der trocken wiederholte Satz "Wo ist mein Kind geblieben?".

Kurzfristig spielen die vier Schauspielerinnen auch Maritas Tochter Monica und besprühen heftig ihre grotesk hohen Perücken mit Haarfestiger: Willkürliche Bebilderung soll für Humor in der traurigen Geschichte sorgen. Das Bühnenbild bietet neben projizierten Fotos von Marita einen schiffsartigen Aufbau mit einer Werbefläche von Tui-Tours: "grenzenlose Freiheit". Doch frei wird Marita gerade nicht, nur arm und alt. Und deshalb bevölkern zum Schluss noch acht muntere Seniorinnen und Senioren mit Rollatoren und Rollstühlen die Bühne.

Viel verwirrender verwoben

Am ehesten schafft das Regiekonzept noch so etwas wie annähernde Bühnenwahrheit, wenn es reduziert: im Anfangsmonolog, in dem Marita ihre abwesende Mutter über ihre Kindheit befragt, oder in der Parallelszene gegen Ende, in der Maritas Tochter Monica ihre Mutter befragt, wie sie zu diesem wilden und letztlich in Enttäuschung endenden Leben kam.

Alles ist wahr – ja, aber in der Wirklichkeit von Marita Lorenz sind Wahrheit und Täuschung viel verwirrender verwoben, als es auf der Bühne deutlich wird. Der Erzählgestus schafft auf der Bühne eine Kontinuität, die man in ihrem realen Leben nur schwer erkennen kann. Die Versuche der Regie, Brüche in die narrative Linearität zu injizieren, bleiben dagegen äußerlich. Nichts geht unter die Haut. Nicht neun Leben der Marita Lorenz sieht man hier (auch nicht vier), sondern eines.

 

Alles ist wahr – Die neun Leben der Marita Lorenz
Uraufführung mit Texten von Dominik Busch und Marita Lorenz
Regie: Babett Grube; Bühne: Marie Gimpel; Kostüme: Hsin-Hwuei Tseng; Video: Nazgol Emami; Choreografie: Salome Schneebeli; Dramaturgie: Elena von Liebenstein, Patricia Nickel-Dönicke.
Mit: Susanne Burkhard, Shari Asha Crosson, Elisabeth Hoppe, Nina Karimy, Martin Engelbach (Musik).
Premiere am 11. Oktober 2019
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de

 

Kritikenrundschau

Ralph Wilms schreibt in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (online 13.10.2019, 13:30 Uhr): Dominik Busch und Babett Grube präsentierten kein "Heldinnenporträt", sondern skizzierten vielmehr das Leben "Getriebenen, zeitlebens Gehetzten". Im "poetischen, fast blümeranten Ton der großen Monologe" zeige sich Dominik Busch inspiriert vom magischen Realismus der Literaten Lateinamerikas. Wilms kritisiert das "Herumpoetisieren" an der Realgeschichte der KZ der Nazizeit. Doch was Buschs Text an sprachlicher Verwegenheit aufblitzen lasse, scheine sich die "übervorsichtige Regie" nicht zuzutrauen. Das 75minüige Bühnenwerk hetze seine "vier groß aufspielenden Maritas" durch die "Untaten der US-Geheimdienste" und lasse sie ein wenig mit der Gefahr flirten.

"Wechselnde Foto-Projektionen in Bilderrahmen sollen den Wahrheitsgehalt beglaubigen, ansonsten gibt das Bühnenbild nicht viel her", schreibt Klaus Stübler von den Ruhrnachrichten (14.10.2019). "Nach der langweiligen, zu statischen Susanne Burkhard ist Shari Asha Crosson als junge Verliebte der reinste Wirbelwind. Elisabeth Hoppe berührt als um ihr Kind gebrachte Mutter. Nina Karimy ist die vom Erscheinungsbild her authentischste Marita." Das abrupte Ende lasse viele Fragen offen.

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