Der Gotteskrieger vom Fjord
von Shirin Sojitrawalla
Frankfurt am Main, 12. Oktober 2019. Der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel nennt das Stück einen "wahren Brocken", und er hat natürlich recht. Für seine Prosaübersetzung hat er Henrik Ibsens mehr als 5000 Verse auf 105 Seiten runderneuert, von denen Roger Vontobel und seine Dramaturgin Marion Tiedtke noch 57 übrig lassen, um vom Leben und Sterben Brands zu erzählen.
Nebel auf mythischer Landschaft
Dabei legen sich Vontobel und sein Team mächtig ins Zeug, um die Schwächen des Ibsen-Textes zu übertünchen. Während die Zuschauer noch ihre Plätze suchen, hängen bereits Nebelschwaden über dem Parkett, Nebel, der sich den ganzen Abend nicht verziehen wird. Olaf Altmann hat eine plateauartige schräge Spielfläche auf der Bühne drapiert, die nach hinten spitz zuläuft. Später senkt sich eine ähnliche Platte von oben herunter, öffnet neue Horizonte, stilisiert eine Landschaft. Stimmungsvoll verkörpern Bühne und Licht das norwegische Dorf am Fjord und seine unwegsame Umgebung sowie die mythische Schwüle des Textes.
In dem Dorf lebt Pfarrer Brand, ein religiöser Eiferer, ein Alles-oder-nichts-Typ, ein Fundamentalist, ein bis zur Besessenheit Konsequenter, für den Kompromisse des Teufels sind. Seinem Gottesglauben ordnet er alles unter. Heiko Raulin spielt ihn mit dem Charisma eines Schutzpolizisten, der andere maßregelt wie Kinder und dabei ein wenig lächerlich wirkt. Kein Gotteskrieger, sondern ein Prinzipienreiter. Trotzdem vergällt er seiner Mutter das Sterben, opfert seinen Sohn und treibt die eigene Frau in den Tod. Im Stück verschluckt ihn am Ende Gottes Wille in Form einer Lawine, in Frankfurt schießt er sich nicht ganz freiwillig und warum auch immer in den Mund.
Im Namen des Herrn
Was ist das für ein Mensch? Eine Art Fitzcarraldo, ein Kohlhaas im Namen des Herrn, einer, der uns die eigene Inkonsequenz vor Augen führt, die eigene Menschlichkeit aber auch. Die Auftritte des jovialen Landrates (Isaak Dentler) begleitet ein Aufatmen, weil plötzlich ein Mensch mit all seinen Unzulänglichkeiten auf der Bühne steht, einer der schon mal lügt und seinen eigenen Vorteil im Blick behält. Das ist längst nicht so unheimlich wie dieser Spiel-des-Lebens-Verderber Brand. Wobei Raulin durchaus probiert, Zerrissenheit anzudeuten, dann taumelt er in einem Seil gefangen herum oder zieht sich an einer Wäscheleine mal nach links, mal nach rechts. Zum Ende hin hängt er wie ein Erdenwurm an der beinahe senkrechten Kirchenwand, zu der sich die Spielfläche aufrichtet.
Als "Brand" 1866 erschien, bescherte es Ibsen zwar den Durchbruch, ein Theatererfolg wurde das dramatische Gedicht aber nicht. Auch in Deutschland interessiert sich kaum mal ein Theater für den Stoff (Armin Petras zeigte "Brand" 2008 im Thalia Theater Hamburg). Das liegt an seinen ausufernden Textmengen, an seiner eindimensionalen Titelfigur und auch an den vielen Alternativen, sprich den viel schneidigeren Ibsen-Stücken, die landauf, landab gespielt werden. Dass "Brand" jetzt in Frankfurt zur Aufführung kommt, ist wohl dem Norwegen-Schwerpunkt der nächste Woche beginnenden Buchmesse geschuldet.
Der Fanatiker und die geheimnisvollen Wunderwesen
Leider ist Brand im Gegensatz zu seinem kindsköpfigen Nachfolger Peer Gynt ein ziemlich humorloser Typ und einer, an dem man sich die Zähne ausbeißen kann. Leichtfertig wischt man ihn mit einem "blöder Idiot" aus dem Kopf. Doch in seinem ideologischen Fanatismus könnte er ja auch positiver oder zumindest ambivalenter erscheinen, man denke etwa an Mahatma Gandhi und seine durchaus kompromisslos durchgezogene Idee des gewaltlosen Widerstands.
Dass man allzu viele Gedanken auf Brand verwendete, verhindert in Frankfurt die Frau an seiner Seite, Agnes, die der Abend als Figur deutlich aufwertet. Denn die traumwandlerisch auftretende Schauspielerin Jana Schulz, die bei Vontobel gern und oft in der ersten Reihe spielt, leiht Agnes ihre den Seelengrund erkundende Stimme und ihren wie auf der Bühne verankert scheinenden Körper und zieht damit alle Aufmerksamkeit auf sich. Bei Ibsen ist Agnes ein schwachmatisches Weib, bei Vontobel ein geheimnisvolles Wunderwesen.
Auch dem merkwürdigen Mädchen Gerd schenkt der Abend mehr Aufmerksamkeit; die Schauspielerin und Sängerin Katharina Bach gibt sie als koboldhaftes Fabelwesen, als schwarzen Vogel, der mit Nina-Hagen-Stimme Lieder faucht und dunkle Fingernagel-auf-Tafel-Schreie krächzt, die in Brands Kopf widerhallen wie Donnerschläge.
Der Abend will Großes und schreitet konsequent voran. Den finsteren Stoff fasst er in düstere Bilder, fast alles spielt sich im Halbdunkel ab, die Menschen darin nehmen sich zuweilen wie Scherenschnitte aus, Scheinwerfer zeichnen neue Spielkorridore in den Raum. Vontobels inszenatorischer Zugriff ist handfest, seine Bilder sind plakativ. Heraus kommt eine wuchtige Schauergeschichte, zu der die Musik (Keith O'Brian) wahlweise dröhnt oder dräut. All das verhindert nicht, dass Brands Dogmenreiterei mitunter dennoch zum Schmunzeln reizt.
Brand
von Henrik Ibsen
Neuübersetzung Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Ellen Hofmann, Musik: Keith O'Brien, Dramaturgie: Marion Tiedtke.
Mit: Heiko Raulin, Heidi Ecks, Jana Schulz,, Nils Kreutinger, Isaak Dentler, Michael Schütz, Wolfgang Vogler, Uwe Zerwer, Katharina Bach sowie Statisterie.
Premiere am 12. Oktober 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Kritikenrundschau
"'Brand' ist nun dem menschlich etwas verkümmerten Titelhelden entsprechend von einiger Kargheit. Auch zeigt sich der Versuch, ein so selten gezeigtes Stück nicht gleich zu problematisieren, sondern auszubreiten. Was immer noch ein gewaltiges Textkürzen bedeutete", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (13.10.2019). "Die Kargheit führt zu einem blutarmen Spiel, gleichwohl zu großen Bildern."
Vontobel habe ein untrügliches Gespür für den richtigen Rhythmus, den passenden Takt eines Stückes, heißt es in der Gießener Allgemeinen (13.10.2019). Es gelinge ihm, "den düsteren Zauber dieser nordischen Saga auf die weitläufige Bühne des Schauspielhauses zu bannen". Katharina Bachs spitze Habichtschreie hallten nach, gingen durch Mark und Bein. "Ist sie der Teufel in Person? Auf jeden Fall eine passable Rockröhre, die mit ihrem lautstarken Gesang zur E-Gitarre von Keith O’Brien das Publikum in ihren Sitzreihen aufrüttelt, wenn die wundersam berührende Erzählung droht, allzu sehr vor sich hinzumäandern."
Hinrich Schmidt-Henkel habe für das hochallegorische Drama eine klare, klanglich dabei überaus nuancierte Prosasprache gefunden, lobt Sandra Kegel in der FAZ (14.10.2019). Die Anknüpfungspunkte zur Gegenwart seien so offensichtlich, dass sie auch in Vontobels zeitlos-strenger Inszenierung kenntlich würden. "Schade nur, dass es Heiko Raulin nicht gelingt, Brand die ganze Varianz der Figur zu entlocken." Und weiter: "Dass da neben dem Furor eine mitreißende Idee steht, für die Brand zu begeistern vermag, vermittelt sich in Frankfurt nicht."
Egbert Tholl hat für die Süddeutsche Zeitung (18.10.2019) "imposantes Überwältigungstheater in einer monumentalen Leere, die in ihrer Wucht ausgezeichnet zum Text passt" gesehen.
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Ein Muss für jeden Theatergänger und solche die es noch werden wollen.Die Vorlage ist sehr treffend in die heutige Zeit verlagert worden und es regt zum Nachdenken an.
Unterstrichen wird dies noch von einem beeindruckenden Bühnenbild das den Akteuren trotzdem genug Raum gibt zu überzeugen.Chapeau !
Leider bleiben die Gegenentwürfe blaß. Auch die Inszenierung glaubt nicht an den Wert des Kompromisses, Humanität bleibt im Mund des opportunistischen und leicht clownesk gespielten Landratspolitprofis bloße Floßkel. Dazu noch mit im Frankfurter Schauspiel ebenso unvermeidlicher wie öder Kapitalismuskritik. Soll dadurch der Gotteskrieger als Alternative attraktiver werden?
Wenn man dann bei Brands Motivationsrede statt bloß "Sieg" fast schon Endsieg zu vernehmen meint, das (Dorf-)Volk nur bei dessen Gelingen einen Lebenswert besitzt, der Opfertod glorifiziert wird und Raulin mit Goldfarbe im Gesicht an "Sieg des Glaubens" oder "Triumph des Willens" erinnert, nähert man sich mehr dem Obersalzberg als dem norwegischen Fjord. Auch eine gespenstische wie aktuelle Assoziation.