Theatermachen. Kämpfen. Sein.

von Frank Schlösser

Greifswald, 12. Oktober 2019. Das Programmheft setzt Greta Thunberg gegen Donald Trump. Denn natürlich ist nicht nur im Staate Dänemark etwas faul. "Die Zeit ist aus den Fugen" beschreibt den globalen Normalzustand. Doch kein Grund zur Sorge: auf dem Theater bereitet nur der Partyhit zur Hochzeit von Gertrud und Claudius Bauchschmerzen wegen der brutalen Dummheit des Refrains und seiner martialischen Bässe. Die Hochzeitsgesellschaft danct durch die Festung am Meer – oder durch den Bauch eines Kreuzfahrtschiffes. Willkommen bei Shakespeare, willkommen in Helsingör, willkommen im Hier und Jetzt.

Zwei mal Hamlet an zwei Abenden

Schon am gestrigen Freitagabend war Hamlet die Hauptfigur. Der Autor hieß hier noch Heiner Müller und die Bühne war um einiges kleiner. Zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler zeigten die "Hamletmaschine" vor einem mit 80 Besuchern voll besetzten Parkett des Rubenowsaales – so heißt die Studiobühne des Theaters Vorpommern in Greifswald. Dreißig Jahre nach der Wende befragt Regisseurin Annett Kruschke den Text, mit dem der Dramatiker sich 1977 selbst dekonstruierte – besser: Seine Position als Intellektueller in der DDR so weit in Frage stellte, dass es dem beruflichen Selbstmord gleichkam.

Hamletmaschine 1 560 VincentLeifer uWer ist die Leich' im Leichenwagen? Felix Meusel spielt Hamlet Müller  © Vincent Leifer

Diese wenigen Seiten sind bis heute ein Erguss der Verzweiflung, nicht einmal halb fertig als Stück konstruiert. Nicht immer lässt sich auch nachvollziehen, ob hier der Autor oder seine Figur zum Publikum spricht oder wann die Rede in eine Regieanweisung übergeht.

Damals konnte der Text als eine Auseinandersetzung mit dem Opportunismus gelesen werden – so wie er allen DDR-Intellektuellen ideologisch angetragen wurde: Kritik? Ja, gerne, aber bitte nur bei Einhaltung einiger Tabuzonen. "Ich will nicht mehr essen (…) ich nehme Platz in meiner Scheiße" – das ging 1977 so natürlich nicht. Kein Wunder, dass die "Hamletmaschine" innerhalb der DDR keine Wirkung entfalten konnte. 1979 wurde sie in Paris uraufgeführt, erst 1990 folgte das Deutsche Theater in Berlin – übrigens auch zusammen mit einem Shakespeare-Hamlet.

Lach doch mal, Hamlet Müller!

Die Inszenierung in Greifswald geht unentschieden mit dem Stoff um. In den schwarz-weißen Kostümen (Ausstatterin Indra Nauck gibt ihr Debüt am Theater Vorpommern) klingt schon die Commediadell'Arte an und über weite Strecken wird die "Hamletmaschine" in Klamauk und als Groteske übersetzt. Doch das war nur die Folie, auf der die Verzweiflung ausgebreitet wurde, mit der sich "Hamlet Müller" wegwünschte von dieser Welt.

Kraftvolles, körperliches Spiel auf einer schlichten Bühne aus einer flachen Paletten-Treppe – ein kleiner, guter Theaterabend ohne Hänger. Offensichtlich durften auch die Schauspieler eigene Interpretationen der "Hamletmaschine" einbringen. Genau diese sehr unterschiedlichen Sichtweisen schaffen die Reibungen des Abends: Harlekin und Columbina arbeiten sich an "Hamlet Müller" ab: Lach doch mal! "Hamlet Müller" versucht es: "Haha."

Hamlet 2 560 VincentLeifer uHamlet heutig: Ensemblebild © Vincent Leifer

Die Konfrontationen werden auch von außen in das Stück getragen: Ein Satz von Karl Marx. Ein rotes Kampflied. Tondokumente von Heiner Müller selbst. Fotografien aus sinnlosen Kriegen und verpatzten Revolutionen. Vorbei.

Befragung ohne Antworten

Kann man Heiner Müller heute ernst nehmen oder kann man ihn nur noch grotesk überhöhen? Oder kann man die "Hamletmaschine" heute gar nicht mehr machen? Annett Kruschke leistet es sich, ihre Aufführung grundsätzlich in Frage zu stellen: Die österreichische Schauspielerin Brigitte Antonius sagte die Einladung zur Mitwirkung an diesem Stück am Telefon ab: Es täte ihr leid, aber sie fände den Text grässlich, veraltet und zum Kotzen. Diese telefonische Absage wurde eingespielt, und erntete natürlich Heiterkeit. Den Monolog der gealterten Ophelia hatte im Video-Einspieler Ursula Werner übernommen.

Aber die Befragung bleibt ohne Antworten. Dennoch war sie mehr als eine Erinnerung an frühere Zwänge, unter denen die Intelligenz in der Diktatur des Proletariats zu leiden hatte. Wenn "Hamlet Müller" nicht nur sich selbst, sonder auch gleich die Bühne demontiert, wenn irgendwann doch der Klamauk mit den existenziellen Fragen gekontert wird – dann taucht sie wieder auf, die alte Frage: Leb' ich nicht besser, wenn ich die Hand, die mich ernährt, nicht allzusehr beiße?

Blaugelockter Youtube-Influencer

Doch zurück zu Shakespeare, zurück in den großen Saal, zurück in die Gegenwart. Regisseur Reinhard Göber, Oberspielleiter am Theater Vorpommern, greift sich für seinen Hamlet natürlich die Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch. Seiner Fassung mischt er Alltagsfloskeln bei. Doch Einsprengsel wie "Was soll der Quatsch?" oder "Bist du jetzt völlig bescheuert?" passen zur erklärten Herangehensweise: Hamlet so heutig wie möglich.

Natürlich wird Hamlets Exil in England für Kommentare zum Brexit genutzt, der Rache-Auftrag vom Vater kommt per Twitter von "Ghost_09" und Hamlet demontiert als blaugelockter Youtube-Influenzer sein elterliches Königshaus. Aus Ophelias Abgesang in der Naturapotheke wird eine pharmazeutische Beratung mit Pillen gegen alles, etliche der nötigen Morde werden per Revolver erledigt und irgendwann bittet Hamlet das Publikum, doch mal "Hebenon" zu googeln und ihm zu sagen, was das für ein Giftzeug sein könnte, das in des Königs Ohr geträufelt wurde. Aha: Bilsenkaut vielleicht.

Hamlet 1 560 VincentLeifer uKämpfen oder schlafen? Tobias Bode als Hamlet © Vincent Leifer

Bei aller Modernisierung kommt keineswegs weniger Shakespeare auf die Bühne. Tobias Bode nimmt sich den Raum, den sein Hamlet braucht – ein Außenseiter, der aber genau weiß, wie das Spiel läuft, das er da subversiv unterläuft. Ophelia und Gertrud werden als starke Gegnerinnen inszeniert: Hier geraten eine sittliche Moral-Schlampe und eine moralische Sittlichkeits-Schlampe wunderbar aneinander. Rosenkrantz und Guildenstern dürfen das entlarvende Schauspiel am Hofe von Helsingör ebenso übernehmen wie das Gespräch der Totengräber an Ophelias Grab – und liefern brillante Momente ab.

Fortinbras in heiterem Kommunistenrot

Selbst der Generationenkonflikt zwischen Laertes und Polonius darf an diesem Abend ausgespielt werden. Nur die andauernde politische Bedrohung durch den norwegischen "Verbündeten" Fortinbras wird geopfert. Aber daran leidet das Familiendrama nicht. Denn der letzte Eindruck des Abends gehört ihm: Fortinbras tritt auf mit einer Krawatte in heiterem Kommunistenrot, besieht sich – höflich lächelnd – das Resultat der europäisch-westlichen Selbstzerstörung und tritt – sich dankbar verbeugend – sein Erbe an.

Zur "Hamletmaschine" vom Vorabend hatte dieser Hamlet keinen Bezug. Jedenfalls keinen direkten. Höchstens, dass Reinhard Göber und sein Greifswalder Ensemble "Hamlet Müllers" Frage "Soll ich in diesen Verhältnissen versuchen, gesellschaftlich relevantes Theater zu machen? Oder soll ich mich mit künstlerischer Unterhaltung zufrieden geben? Soll ich kämpfen oder schlafen? Sein oder Nichtsein?" mit dieser Inszenierung pathosfrei beantwortete: Theater machen. Kämpfen. Sein.

 

Die Hamletmaschine / Hamlet

Die Hamletmaschine
von Heiner Müller
Regie: Annett Kruschke, Bühne & Kostüme: Indra Nauck, Musik: Sebastian Undisz, Video: Till Sündermann, Dramaturgie Sascha Löschner.
Mit: Felix Meusel, Feline Zimmermann, Susanne Kreckel, Ronny Winter.
Premiere am 11. Oktober 2019
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

Hamlet
von William Shakespeare
Übersetzung: Angela Schanelec & Jürgen Gosch,
Regie: Reinhard Göber, Bühne: Johann Jörg, Kostüme: Kerstin Laube, Dramaturgie: Oliver Lisewski
Mit: Tobias Bode, Markus Voigt, Claudia Lüfftenegger, Mario Gremlich, Friederike Serr, Hubertus Brandt, Stefan Hufschmidt, Jan Bernhardt
Premiere am 12. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.theater-vorpommern.de

 

Kritikenrundschau

"Durchaus gelungen" findet Werner Geske von der Ostsee-Zeitung (14.10.2019) den Hamlet. Es gelinge die Transformation der Tragödie ins digitale Zeitalter. "Das Ensemble beweist, dass das Stück auch heute noch jung, frisch und zeitgemäß und zudem in der Lage ist, aktuelle Probleme zumindest anzureißen."

 

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