Die Verlorenen - Residenztheater München
In allmächtiger Verzweiflung
von Anna Landefeld
München, 20. Oktober 2019. Am Anfang steht die simple Frage, aber eine Antwort gibt es nicht: "hallo? hört uns jemand? kann uns jemand/ ist wer / ist wer da?" – Ja, zehn Schauspieler*innen, aufgereiht nebeneinander, die gebrochenen Sätze des/der jeweils anderen übernehmend.
Tonart: alltagstrist
Kraftvoll beginnt der Prolog von Ewald Palmetshofers "Die Verlorenen", geschrieben für die Eröffnungspremiere am Münchner Residenztheater unter der neuen Intendanz von Andreas Beck. Ein auf Rhythmus fixierter, mehrstimmiger Sprechchoral, aus dem nach und nach einzelne hervortreten und ihre Soli anstimmen. Tonart: alltagstrist. Monochrom ihre Geschichten über das gefühlsfreie Wischen durch Dating-Apps, übers Mitesserausqetschen oder Masturbieren mit eingeschlafener Hand, damit es sich zumindest nach irgendwem anderen anfühlt.
Die anderen lächeln, ekeln sich, blicken mit offenen Mündern und Augen doch nicht sich gegenseitig an, sondern ins Publikum. Einsam sind sie, vereint in "allmächtiger Verzweiflung" unter gleißendem, nichts verzeihendem Licht. Näher rücken sie geschlossen, doch niemals werden sie es über die leicht nach oben geneigte Rampe schaffen in dieser Inszenierung von Nora Schlocker.
Behältnis der Verdammten: das Ensemble spielt im Bühnenraum von Irina Schicketanz © Birgit Hupfeld
Sie sind Gefangene in einem weißen Raum, einem nach hinten leicht zulaufenden Kasten von Irina Schicketanz. An der hinteren Wand zunächst ein Holzkreuz, links, rechts Spalte zum Hindurchzwängen in die Schwärze, ins Nichts. Sie sind Verdammte in einem leeren Behältnis, ohne Zeit, ohne Dimension, in dem sich nur die Lichtverhältnisse Szene für Szene ändern.
Viel Freiheit lässt Regisseurin Nora Schlocker ihren Schauspieler*innen nicht. Sie exerzieren Satz für Satz durch. Rhythmisch, präzise, geschmeidig durch die Ellipsen und Adverbien mäandernd, so verlangt es Palmetshofers Sprachpartitur.
Gemeinsam einsam
So beweglich die Sprache, so bewegungsarm das Spiel. Die Schauspieler*innen meistens Herumsteher und Textaufsager. Denn von der Kraft des Prologs ist bald nichts mehr übrig, dann, wenn die eigentliche Handlung beginnt. Eine kitschige Geschichte: Clara, überfordert und entfremdet, braucht Ruhe. Ruhe von ihrer Mutter, ihrem Ex, ihrem Sohn. Sie zieht sich ins ländliche gelegene Haus ihrer Großmutter zurück und trifft dort auf Kevin. Kevin, ebenso überfordert und entfremdet, ist zuhause rausgeflogen und schlurft sich so durchs Leben. Johannes Nussbaum legt seine Verletzlichkeit so subtil offen, dass selbst ein "Fick dich" wunderschön klingt.
Clara und Kevin verbringen die Nacht miteinander, zueinander finden sie nicht. Das liegt vermutlich an Clara. Sie kreist ziellos um sich selbst, in ihrer Verzweiflung. Myriam Schröder bleibt darin stecken, schaut und spricht immer besorgt, tanzt kurz selbstvergessen in rot-schwarzem Licht in der Dorfdisko, rennt dann doch manchmal von vorn nach hinten über die Bühne in flatterndem weißen Nachthemdkleid und wehendem Trenchcoat. Was sollte sie auch sonst noch tun, ihre Figur – und nicht nur ihre – entwickelt sich über die zweieinhalb Stunden nicht.
One night stand ohne happy end: Myriam Schröder und Johannes Nussbaum spielen Clara und Kevin © BirgitHupfeld
Das Immerselbe zu durchbrechen, dem Text etwas über den apathischen Verzweiflungsduktus hinauszugeben, gelingt an diesem Abend nur wenigen. Da ist Max Mayer als "Der Mann mit der Trichterbrust", ein Gescheiterter, der mit seinem Kumpel an der Dorftankstelle schon morgens ein paar Bierchen zischt, dabei am Etikett herumknibbelt, die eh schon gut hoch- und engsitzende Hose noch höher zieht, dass es ordentlich kneift, den rechten Daumen aus der leicht geballten Faust nervös wegschnippt oder den Kiefer so anspannt, dass Kopf und Hals sehnig-rot anlaufen.
Tragisch-komisch ist Florian von Manteuffel, der als Harald, Claras Ex, eine wohltuende Albernheit hineinlegt, wo eigentlich gar nichts Albernes zu finden ist. Eigentlich ist er einer, der mit seiner passiv-aggressiven Frau Svenja im Reihenhaus festhockt.
Ohne Gott und ohne Sinn
Festhocken tun sie alle in dieser Seifenoper über das Best of Unbehagen in der Kultur, über das, was den Menschen so leiden lässt, der ohne Gott und ohne Sinn, unfreiwillig dazu verdammt ist in der Welt zu leben. In der sich der Mensch, allein wie er ist, auseinandersetzen muss mit Sexismus, Patchwork-Familie, Rassismus, Einsamkeit, Geflüchtete, Drogen, Dorfleben, Internet oder Faschismus.
"Die Verlorenen" packt alles hinein, erzählt aber wenig Neues. Kratzt alles oberflächlich mal an, rauscht durch das alles so schnell hindurch, um seinem Anspruch eines Universalstücks über den modernen Menschen gerecht zu werden. Da bleibt keine Zeit für Begründungen, Lösungen, Entwicklungen und dem Zuschauer somit verwehrt, nachvollziehen zu können, wer oder was diese Existenzen auf der Bühne wirklich in den zivilisatorischen Abgrund katapultiert hat.
Die Verlorenen
von Ewald Palmetshofer
Uraufführung/Auftragswerk
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Marie Roth, Musik: Friederike Bernhardt, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Sibylle Canonica, Pia Händler, Steffen Höld, Nicola Kirsch, Max Mayer, Johannes Nussbaum, Carlo Schmitt, Myriam Schröder, Arnulf Schumacher, Florian von Manteuffel, Ulrike Willenbacher.
Premiere am 19. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.residenztheater.de
Autor Ewald Palmetshofer und Regisseurin Nora Schlocker arbeiteten schon während der Intendanz von Andreas Beck am Theater Basel zusammen: etwa an den Klassikeradaptionen Edward II. Die Liebe bin ich (2015) und Vor Sonnenaufgang (2017).
Nora Schlocker werfe Palmetshofers Figurenpanoptikum "geschickt in jenen weißen leeren Bühnenraum, der nur in seiner schwarzen Umrandung schmale Streifen für Auf- und Abtritte ermöglicht. Ansonsten aber dient er als rein abstrakte Spielfläche, die schnelle Orts- und Figurenwechsel und so einen zügigen Handlungsfluss ermöglicht", so Sven Ricklefs im BR (20.10.2019). "Gleichzeitig wagt sie es immer mal wieder ganz statisch zu arbeiten: die Figuren einfach im Raum stehen zu lassen, was die Konzentration auf das Gesagte stark erhöht." Auch der "fein im Text versteckte Humor" des Autors werde herausgearbeitet. "Und so machen dieses starke Stück und ein Ensemble, in dem es für München einige Gesichter und Persönlichkeiten neu zu entdecken gilt, viel Lust auf mehr."
"Es ist ein geglückter (und teils auch beglückender) Start in die erste Spielzeit von Andreas Beck als neuem Intendanten am Bayerischen Staatsschauspiel", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (21.10.2019). Es gebe zwar keine Requisiten und nie einen Szenenwechsel in Nora Schlockers "ganz auf den Text bauenden (und daher auch etwas eintönigen) Inszenierung". "Das grenzt fast schon an Bilderverweigerung", so Dössel. Aber "Palmetshofer hat Sprachwitz, er kann Komödie, trägt manchmal mit Deftigkeiten dick auf. 'Die Verlorenen' sind ein wirklich funkelndes Stück."
"Das Besondere an Palmetshofers furiosem Text ist, dass hier kein moralinsaurer Predigtdienst wütet, kein gefühlsduseliges Drama, sondern die Deformiertheit des Daseins schon in der Sprache kenntlich wird: Sätze ersterben, da haben sie kaum begonnen – ihnen fehlt das Durchhaltevermögen; sie geben frühzeitig auf, wo noch etwas Wichtiges zu sagen wäre", schreibt Margarete Affenzeller im Wiener Standard (21.10.2019). Allerdings eignete nicht allen im Ensemble die nötige Sprechkunst in Nora Schlockers reduzierten, soliden Inszenierung. "Dieses Gefälle setzt dem Abend ziemlich zu."
"Palmetshofers Stück funkelt, ist komisch, abgründig, unberechenbar, es hat Sätze von bernhardschem Grimm und horváthscher Traurigkeit und Figuren, die, auch wenn sie nur kurz auftreten, ausdrucksstark gezeichnet sind", jubelt Simon Strauß in der FAZ (22.10.2019). "Der Ausgang ist vielleicht zu konstruiert, zu klassizistisch, es braucht die große Schreckenstat gar nicht, die vielen kleinen Szenen der Zerstörung sind eindrucksvoll genug." Dennoch: "Mit Palmetshofers Eröffnungsstück steigt München über Nacht wieder an die Spitze des literarischen Theaters auf."
"'Die Verlorenen' ist ein Oratorium für Massenmenschen, die im Chor bekunden, dass sie doch ganz allein sind. Es geht um Not, sie wird gebändigt durch Sprache", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (30.10.2019). "Schlocker und Palmetshofer entwickeln mit dem starken Ensemble eine mäandernde, Pointen wie Beifang aufsammelnde, den Moment der Erkenntnis feiernde, die Grenzen der Figuren überwindende Sprechkunst: gleichsam einen kollektiven inneren Monolog einsamer Seelen."
Einen "trägen, problemüberladenen Untertageblues" hat Bernd Noack gesehen und schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (1.11.2019): "Die Probleme der Bühnenfiguren werden wie kleine Seelenabschürfungen präsentiert, die Verzweiflung am Irrlauf des Lebens steht im Text; in der Inszenierung von Nora Schlocker verpufft sie wie eine vage Behauptung von Figuren, denen man weder Pein noch Sein wirklich abnehmen kann."
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Eine anregende, Konzentration verlangende Aufführung mit den neuen Basler und alten Resi Schauspieler!
Der Text von Palmetshofer lässt kein Klischee aus und langweilt darin meist mit erwartbaren Szenen. Auch wenn jedes einzelne Lebensschicksal selbst alles andere als banal ist, so wird die Tragik der „Verlorenen“ oberflächlich als Bilderbogen dargestellt. Eine vertiefende Untersuchung, entweder der einzelnen tragischen Lebenssituationen oder der Ausgesetztheit des Menschen an sich, ist etwas anderes. Die im Stück wiederholte „Erklärung“ des Lebens, hat mir weder eine szenische Erfahrung noch neue Fragen eröffnet. Offen bleibt für mich die Frage, was Andreas Beck mit dieser Eröffnung seiner Intendanz zum Ausdruck bringen will - auch wenn diese Premiere ursprünglich nach dem Stück von Stone die zweite sein sollte.
Von Basel und seinem Theater hat Herr Bleek keine Ahnung, sonst würde er nicht so eine törichte und absolut falsche Bezeichung wie „Basler Bauerntheaterwelt“ der Münchner Aufführung umhängen...Wenn Herr Bleek das Theater liebt, dann sollte er mehr Geduld und Zuwendung aufbringen...
Lieber Daniel Spitzer,
solche auf Krawall gebürsteten Ergüsse wie Kommentar #5 sollte man einfach ignorieren. Der Furor, der aus diesen Zeilen spricht, speist sich sicherlich aus anderer Quelle.. Wer jahrelanger Abonnent am Resi gewesen sein will, kann letztlich keine so kurze Lunte haben. Oder er wäre schon längst abgewandert.. nur wohin? #bauerntheater