Zieht Nirvana die Lederhosen aus

von Maximilian Sippenauer

München, 24. Oktober 2019. "Vergewaltige mich", singt ein Chor aus queerem Hirsch, Waidmann, Femme Fatale und Waldelf so fromm, als handle es sich um eine bayerische Volksweise. "Vergewaltige mich", trällert's von den Stufen der veilchenfarbenen Showtreppe, und ein Jagdhorn bläst vom Zuschauerbalkon. Und nachdem dieses Nirvana-Tribute-Konzert, das keines ist, eine knappe Stunde lang etwas unentschlossen geblieben ist, wird spätestens jetzt klar: Hier geschieht Grandioses.

Willkommenskultur auf boarisch: ein bierseliges "Fuck you"

Zu Beginn hatte ein recht angespannt grinsender Damian Rebgetz die Bühne betreten. In diesem Rebgetz, der als englischsprachiger Quotenperformer in Matthias Lilienthals Ensemble firmiert und sich dementsprechend besonders angesprochen fühlen durfte, als 2016 die Feuilleton-Salven auf die Kammerspiele niedergingen, in diesem Rebgetz, das merkt man, da brodelt es gehörig. Er schlägt ein Buch auf, stadtchronikdick mit gravitätischem Wachssiegel daran, und verliest erst einmal, was heute abgeht: in "Es-war-einmal"-Theatralik. Auf Deutsch, selbstredend. Dass bloß keine Klagen kommen.

nirvanaslast 3 560 c david baltzer uBoarische Blas-Grunge-Musik mit dem Rebgetz-Ensemble © David Baltzer

Es waren einmal drei Buben: Kurt, Chris und David (alle Deutsch ausgesprochen). Die gründeten eine Band namens Nirvana, wurden mit ihrem subkulturellen Grunge weltberühmt und spielten 1994 im frisch stillgelegten Münchner Flughafen Riem ein Konzert, bei dem einmal der Strom ausfiel und "Chris was über Dinos erzählte". Das Konzert war "irgendwie scheiße", dabei aber ganz zufällig auch das letzte der Band. Denn Kurt brachte sich kurz darauf um. Dieses letzte, eigentlich komplett unbedeutende und doch so eminent durch Bedeutung aufgeladene Konzert werde heute nachgestellt, kündigt Rebgetz nun an: Song für Song. Auf Deutsch. "Ohne Zwischenapplaus, bitte."

Rebgetz' Vorrede ist launig, aber auch bitter. Denn er verwebt die Bandbiografie und ihre unwahrscheinliche Schlusspointe (Nirvana zuallerletzt in München!) mit seiner eigenen Zeit als Wahlbayer. Kein Zweifel: Der Freistaat der Heimattrunkenen empfing ihn nicht gerade mit offenen Armen. Und wenn jetzt das letzte Jahr für ihn und sein Ensemble begonnen hat, dann ist es an der Zeit, ganz Nirvana-like, dieses bierselige "Fuck you" auch mal zu spiegeln. Sagt er natürlich nicht so, aber merkt man. Kein Abend für Nostalgiker also. Kein Abend für Fans. Sondern ein Abend über das wahre und tragische Scheitern einer gegenkulturellen Geste. Damit auch ein Abend über das tragische Verhältnis des "Theaters des Jahres" zu einer Stadt, die in großen Teilen seine Form von Theater nie wollte.

Queer Grunge

Es beginnt das Konzert. Aus der Konserve erklingen Akkordeon-Synthesizer und digitale Hörner. Benjamin Radjaipour steigt auf die lilafarbene Showtreppe, die in die Höhen eines dahinter projizierten bayerischen Bergidylls führt. Es silbert ein Sechsender aus seinem Haar, er trägt grünes Leiberl, lila Hemd, rote Lederhose. Optisch wie akustisch: Nirvana auf queer gedreht, womit allen Pogo-Schweiß-Mitgröhl-Erwartungen ein regenbogenfarbener Riegel vorgeschoben ist. "Du tanzt immer so die Straßen runter, mit deinen Nubuklederaugen", singt Radjaipour in der Übersetzung von Ann Cotten. Das ist witzig, weil es nicht klingt, als hätte es irgendetwas mit Nirvana zu tun. Nach Nummer vier, fünf versandet der Gag, Grunge durch Queerness zu substituieren – und nicht nur die Nirvana-Fraktion im Publikum wird unleidig. Echt jetzt? Und das nach so einer vollmundigen Vorrede?

nirvanaslast 2 560 c david baltzer uNubuklederaugen und Sechsender im Haar: Benjamin Radjaipour © David Baltzer

Aber dann verkriecht sich Radjaipour in der Showtreppe, und Rebgetz selbst kommt auf die Bühne. Im Jagdgewand, mit einem Schnauzer so klischeeträchtig, als sei er aus doppeltem Oachkatzlschwoaf gezwirbelt. Im Hintergrund zittert nun das Laub eines Hochwaldes: Vom Berg- geht's in ein Waidmannspanorama. Rebgetz singt eine entsprechend waidwunde "Come as you are"-Aberration. "Lass dir Zeit, reiß di zam (…) Lass mi dan aloa". Die eigenbrötlerische Abgeschiedenheit des Waldschrats findet ihre psychologische Entsprechung im larmoyanten Outsider-Pathos Nirvanas. Mittlerweile sitzt Sachiko Hara am Flügel und begleitet Rebgetz mit Arrangements von Paul Hankinson, die ein Referenznetz zur Punk-Rock-Grunge-Genealogie der Band spinnen, das sich aus Romantik, bajuwarischem Volksgut und Pop speist.

Selbstfindung durch Entfremdung

Als endlich auch der letzte Zuschauer akzeptiert haben dürfte, dass da kein Nirvana-Nirvana mehr kommen, keine Pop-Trivia mehr verhandelt und nicht mehr mitgesungen werden wird, nimmt dieser eigenwillige Liederabend richtig an Fahrt auf. Und umso größer ist die Freude, wenn doch ab und zu kleine Anspielungen aufblitzen, wie die Cobainesken Converse Sneakers unter Zeynep Bozbays rotem Ballkleid. Oder als Waldelf Christian Löber mal kurz die Bassline von "Come as you are" anzupft, bevor er den Bottleneck zückt und "Pennyroyal tea" ganz Nirvana-unlike zur Bluesnummer macht.

nirvanaslast 3 560 c david baltzer uDie Nirvana-Coverband der Münchner Kammerspiele: Damian Rebgetz, Benjamin Radjaipour, Zeynep Bozbay, Christian Löber © David Baltzer

Und schließlich also "Rape me". Es ist das einzige Mal, dass die vier aus ihren Rollen fallen. "Rape me", das sei ein Song gegen sexualisierte Gewalt, erklären sie. Gegen die massenhaften Vergewaltigungen während der Balkankriege. Weil Chris gebürtiger Jugoslawe war. Dann schlägt Löber in die Saiten. Auf Deutsch, im Volksliedhaften schmerzen die Zeilen des Songs, der sich irgendwie zur Hymne verirrt hat, brutal. Und in dieser harmlosen Tonalität von Idylle, Heimat, Jagdhorn entfaltet sich die ursprüngliche Wucht von Nirvanas Musik, die bei zig Millionen verkauften Alben längst zur leeren Pose erstarrt ist. Totale Entfremdung ist nötig zur Selbstfindung in einer Wirklichkeit, die sich nurmehr in Klischees geriert. Und es ist allein die irre Konsequenz dieser Performance, die solche Augenblicke ermöglicht.

Wenn die Reibung zwischen dieser Stadt und diesem Theater nicht fruchtbar ist, dann weiß ich auch nicht. "Ich liebe Stadttheater", hatte Rebgetz noch vor Konzertbeginn gesagt, "bring on the freaks". Amen.

Nirvanas Last
von Damien Rebgetz nach Nirvana
Übersetzung Songtexte: Ann Cotten
Arrangements und musikalische Leitung: Paul Hankinson, Regie: Damian Rebgetz, Bühne: Janina Sieber, Kostüme: Veronika Schneider, Dramaturgie: Martin Valdés-Stauber, Lichtdesign: Max Kraußmüller, Video: Amon Ritz.
Mit: Zeynep Bozbay, Christian Löber, Benjamin Radjaipour, Damian Rebgetz, Horn: Stefano Brusini, Konrad Probst, Querflöte: Janine Schöllhorn, Isabelle Soulas, Violoncello: Katerina Giannisioti, Mareike Kirchner, Violine: Julia Bassler, Nina Takai, Klavier: Sachiko Hara.
Premiere am 24. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Die Arrangements von Paul Henkinson arbeiten mit Anleihen aus allen möglichen Genres", sagt Christoph Leibold im Deutschlandfunk Kultur (online 24.10.2019), "aber verbleiben dann oft sperrig. Sie suchen die Widerstandsmomente auf.“ Der Abend kreise um die Frage, wieviel Underground in unserer Zeit noch möglich sei – und formuliere daraus auch eine Frage an das Theater: "Wie viel Subversion ist in einem subventionierten Stadttheater möglich?" Der Versuch, "das Theater sperriger zu machen", sei jedenfalls gelungen, so Leibold.

In Rebgetz' "Erzählung wie aus einem dicken Märchenbuch" gehe es auch "um Heimat im Sinne von 'wir gehören hier her, du bist auch hier', um Gendermännerrollenbilder", findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (26.10.2019), und empfiehlt: "Am besten, man vergisst den gesamten Überbau und hört die Lieder, angeordnet in der Reihenfolge des letzten Konzerts, aber so nie gehört." Denn die Musik, so Tholl, erzähle "alles von allein". Dann werde der Abend zu einem "immer stärker anrührenden Requiem", das "große Würde und auch viel Schönheit" zeige.

"Der famose Mime Damian Rebgetz trieb der Band Nirvana, die 1994 in München ihr allerletztes Konzert ab, in einer sensiblen theatralischen Spurensuche den Grunge aus und brachte ihr queere Querflötentöne bei", schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (1.11.2019): "Nicht ohne zu fragen, ob die ganze Aufmüpfigkeit einer Generation uns in den letzten Jahren denn auch nur einen Schritt weitergebracht hat. Wohl kaum, und Rebgetz verknüpfte diese Erkenntnis auch mit den ablehnenden Reaktionen, die die Kammerspieler in der angeblich so weltoffenen Theaterstadt München erfahren mussten."

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