Der tote Plattengott

von Dorothea Marcus

Köln, 25. Oktober 2019. Es ist das Blöde an 1200 Seiten Romantrilogie, dass sie, auf einen Theaterabend gebracht, zwangsläufig zu Vereinfachung führen. In der dritten deutschsprachigen Bühnenversion von Virginie Despentes' bösartigem wie scharfsichtigem Bestseller "Das Leben des Vernon Subutex 1-3" setzt Regisseur Moritz Sostmann diesem Allgemeinplatz sein erwachsenes Puppentheater entgegen – und die Kraft der Playlist, die im Leben des Ex-Plattenhändlers, lädierten Frauenhelden und lässigen Obdachlosen Vernon eine so große Rolle spielt (über 200 Titel verzeichnet sie auf Spotify). Mit einem schrillen Pfiff stürmen die Darsteller von den Seiteneingängen hinter den Breitwandkasten von Christian Beck und wiegen sich als scharfe Schattentheater-Umrisse lasziv zu düsteren Bässen. Vernon Subutex wirkt als Puppe wie ein Wiedergänger von Iggy Pop: blondierte Langhaarfrisur, gediegene Rockstar-Falten, Pilotenbrille. Sein menschliches Alter Ego Aram Tafreshian rattert in einem furiosen Schnorrer-Monolog durchs Publikum ("Haben Sie vielleicht mal ne Zigarette?") Vernons Abstieg herunter: Wohnungsrauswurf, sesshaft und illusionslos gewordene Freunde, Tod des berühmten Gönners Alexandre Bleach, Couchsurfing als verdeckte Obdachlosigkeit.

Vom Ehefrust zum Wutbürgertum

Erste Station: die Ex-Bandkollegin Emilie, früheres Punk-Girl und heutig spießig-durchtherapierte Ordnungsfanatikerin. Schön, wie durch Puppe und Schauspielerin zwei Lebensphasen und Charakterebenen in einer Figur vereint werden: Katharina Schmalenberg rotzt mit Vokuhila-Frisur und Schlabber-Look ihren inneren Widerstreit zwischen Einsamkeit und Männerhass dahin, während die Puppe im schicken blauen Kleid und kühlem Isabelle-Huppert-Appeal geziert ihre Contenance bewahrt. Auch die anderen Figuren, die Vernon im Schnelldurchlauf abklappert, gewinnen, wenn sie durch Puppen gedoppelt werden, Tiefe zurück, die sich durch die irrwitzigen Kürzungen verlieren.

Vernon2 560 ThomasAurin uTiefe durch Puppen-Dopplung: Magda Lena Schlott, Ines Marie Westernströer © Thomas Aurin

Auf der Breitbandbühne sind alle stets irgendwie anwesend und tippen, streamen, filmen irgend etwas auf digitalen Endgeräten, bis sie nacheinander mit ihren Puppen auferstehen: Der erfolglose Drehbuchautor Xavier, dessen gutbürgerlicher Ehefrust zum faschistoiden Wutbürgertum wird, als Puppe jämmerlich im Gefängnis des Einkaufswagens, in das ihn seine Frau gesteckt hat. Der arrogant-hierarchische Machtmisanthrop und Filmproduzenten Dopalet, Puppen-Protoyp des alten weißen Mannes, dem ein kleiner Stoffpenis aus der Hose hängt, während er Xavier demütigt.

Nur "Gutmenschen" wedeln noch mit Wahlzetteln

In keiner Szene wird das, was laut Programmheft die Grundthese des Abends ist, so deutlich: die zunehmende, durch die Globalisierung befeuerte Ungleichverteilung von Macht, Reichtum, Repräsentation – die fast zwangsläufig in politischem Extremismus und gesellschaftlicher Spaltung mündet. Nicht alle Figuren des Despentes-Universums sind gedoppelt, viele ganz gestrichen, manche nur durch Menschen gespielt. Nur zuweilen gerät das auch zur Karikatur, wenn etwa Nicola Gründel in unschuldsweißen Cowboy-Klamotten allzu comichaft die cybermobbende Privatdetektivin "Hyäne" herauszockt. Katarina Schmalenberg overacted die allzeit erreichbare und sexbereite Journalistin Lydia Bazooka, während sich hechelnd ein Puppenmann an ihrem rosabestiefelten Bein reibt. "Da wo wir sind, hören wir euch nicht", ruft der hyperaktive Trader Kiko (Tafreshian) der absteigenden Mittelschicht verächtlich zu – nur "Gutmenschen" wedeln noch mit Wahlzetteln und kümmern sich um Schulen oder Sozialhilfe. Die Schicht der Superreichen ist längst woanders.

Vernon1 560 ThomasAurin uWas hat ihn bloß so ruiniert? Aram Tafreshian, Anna Menzel © Thomas Aurin

Vernon Subutex dagegen segelt in stets lässigem Desinteresse in die Gesellschaft der Obdachlosen im Pariser Park Buttes Chaumont hinein. Die haben ihre Schlafsäcke ziemlich stylish um sich gebunden und bilden eine Art sozialromantische Gegen-Clique zu den ängstlich-vereinsamten Normalbürgern. Ist diese Art von Armuts-Darstellung auf Bühnen nicht auch eine ärgerliche Form des "Cripping up"? Grandios ist dennoch Ines Marie Westernströer als zeternde, obdachlose Olga, die drei jugendliche Rechtsextreme zur Schnecke macht und danach krächzend "Skyfall" von Adele anstimmt.

Notgemeinschaft auf der Suche

Immer wieder gelingt es Sostmann, mit Hilfe der Puppen den Blick vom Einzelschicksal aufs Ganze zu lenken. Auch die Eiffelturm-Schattenspiele hinter der Bühnenwand richten die Vogelperspektive auf eine verrohende französische Gesellschaft im Spätkapitalismus ("man weiß nicht genau, was die Lieblingskinder Europas so quält"). Die Notgemeinschaft, in die sich die Freunde dann auf ihrer Suche nach Vernon zusammenfinden, ist kurzzeitig ein positiver Gegenentwurf. Genauso wie die sektenhaften Erlösungs-Musikhappenings, die Vernon nun veranstaltet – der kurz vor Komplettverwahrlosung gefunden wurde.

Vernon3 560 ThomasAurin uPlattenteller-Kreuzigung: Ensemble im Bühnenbild von Christian Beck © Thomas Aurin

Als gesellschaftlicher Gegenentwurf und antikapitalistische Alternative wirkt das allerdings befremdlich harmlos. Und außerdem kommt ja auch noch der Rachefeldzug von Ayscha, orthodox muslimische Tochter eines ermordeten Pornostars, dazwischen. So viel Platz für den ersten Subutex-Band noch blieb, so rasend schnell geht es in der Fassung von petschinka nach der Pause zu Ende: eben noch hippiesk im Tanz versunken, wird die neu belebte Freundesschar zu "Machine Gun" von Portishead über den Haufen geschossen. Als Märtyrer wird der Puppen-Vernon auf einer Vinylscheibe gekreuzigt.

Sein Ruhm wird ihn überleben, hören wir: als Popstar einer Fernsehserie und eines Bestsellers, Prophet einer popkulturellen Pseudo-Religion – in der es auf einmal schick wird, wieder ganz analog Papier zu beschreiben. Mit Selbstkurbel-Taschenlampen tasten sich die Schauspieler durch die Zuschauerreihen und segnen uns: ein kapitalistisch-popkultureller Selbstbestätigungskreislauf. Moritz Sostmann gelingt an diesem Abend eine kluge Erzählung mit schlüssigen, schönen Bildern. Die eigentümliche Grazie der Puppen retten ihn dabei vor manchem Klischee. Allein: die wahren Gründe der immer extremistischeren Realitäten von heute benennt er nicht.

 

Das Leben des Vernon Subutex 1-3
von Virginie Despentes
Fassung von petschinka
Regie: Moritz Sostmann, Bühne: Christian Beck, Kostüme: Elke von Sivers/Lise Kruse, Puppen: Hagen Tilp, Dramaturgie: Anne Rietschel.
Mit: Johannes Benecke, Sebastian Fortak, Nicola Gründel, Benjamin Höppner, Anna Menzel, Magda Lena Schlott, Katharina Schmalenberg, Aram Tafreshian, Ines Marie Westernströer.
Premiere am 25. Oktober 2019
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.schauspiel.koeln



Kritikenrundschau

"Mit bösem Witz, präziser politischer Analyse und packenden emotionalen Momenten" inszeniere Moritz Sostmann die Roman-Trilogie von Virginie Despentes, berichtet Stefan Keim für SWR2 (26.10.2019). "Auf einer breiten, schmalen Cinemascope-Bühne inszeniert Moritz Sostmann die Geschichte mit einem Ensemble aus Menschen und Puppen. Dabei gelingen grandiose Szenen."

Die Adaption der drei Romanbände scheitere "an der Masse an Geschichten und Personen", so Axel Hill in der Kölnischen Rundschau (28.10.2019). Man folge der Inszenierung dennoch gern, weil die Puppen oft radikal anders präsentiert würden als in den vorhergegangenen Produktionen. Dass Puppenspiel und Schauspieler*innen-Stimme oft voneinander getrennt agierten, sei "ein interessanter Schachzug, ein spannendes Moment der Irritation".

Es seien kleine Liebesdienste wie die Szene, in der die Puppenspieler der Xavier-Puppe in die Haare pusten, um die Heftigkeit des Wutausbruchs seines Gegenübers zu illustrieren, und die vielen gelungenen Bilder, die den Abend zusammenhielten, findet Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (28.10.2019). Despentes Trilogie habe zwar noch einiges mehr an Gesellschaftsanalyse zu bieten, "aber 1200 Seiten lassen sich eben nicht eins zu eins in einen schlüssigen Dreistunden-Abend übersetzen".

 

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