California Nightmare

von Valeria Heintges

Zürich, 25. Oktober 2019. Da stehen sie, die fünf Markenfreaks. In Stückwerk-Klamotten aus einem Streifen Gucci hier, einem Streifen Lacoste da, einem Streifen Chanel auf dem Rücken. Sie sind die Reichen, die Sich-Auskenner. Sie wissen, was hier jetzt gleich zu sehen sein wird. "This is the story of the Joad-Family", rappen sie, "go to California, to get the social welfare". Und dann steht sie da, die Familie Joad: Mutter, die schwangere Tochter Rose und der gerade auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassene Sohn Tom. In grauen, schnörkellosen, knöchellangen Klamotten. Schon ein Blick auf Lene Schwinds Kostüme für Christopher Rüpings Version von John Steinbecks "Früchte des Zorns" am Zürcher Pfauen zeigt: Diese Joads gehören nicht dazu. Und: Sie werden im Leben nur herumgeschubst werden. "Was sollen wir jetzt tun, Mutter?" wird die immer wieder gefragt; was soll sie da sagen? Einer der Markenmenschen stellt sich neben sie, souffliert ihr ins Ohr. Kaum will sie antworten, spricht der andere schon ihre Antwort: "Wir müssen zusammenhalten. Es wird schon gehen."

Ein Muster, ein Meister, ein Monster

Maja Beckmann als Mutter, Nils Kahnwald als Sohn Tom und Nadège Kanku als Schwester Rose stehen in diesem Spiel, das doch ihre Geschichte sein soll, wie Falschgeld. Immer wieder, immer irritierter schaut Beckmann die Frager und ihren Souffleur an, immer wieder hält sie es nicht aus, so bedrängt und gegängelt zu werden und verlässt fluchtartig die Bühne. Die Oberhoheit über ihre Geschichte, ihr Schicksal, hat sie da längst verloren. Maja Beckmanns Spiel: schiere Fassungslosigkeit.

Fruechte8 560 ZoeAubry uFlucht ins Land, wo die Orangen wachsen: Nadège Kanku, Nils Kahnwald, Wiebke Mollenhauer, Steven Sowah © Zoé Aubry

Nach so vielen Vorstellungsinszenierungen, von jedem der acht neuen Hausregisseure je eine, nach so vielen Gastspielen und Spezialabenden fällt Christopher Rüping die Aufgabe zu, endlich, endlich die erste in Zürich entstandene Arbeit der Intendanz Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg zeigen zu dürfen. Dafür hat sich Rüping, an den Münchner Kammerspielen hochgefeiert und mit dem Antikenprojekt "Dionysos Stadt" zum Regisseur des Jahres erkoren, den 530-Seiten-Roman über die Flüchtlingsströme aus der Dust Bowl Oklahomas in das völlig überforderte Kalifornien vorgenommen, für den Steinbeck mit dem Nobelpreis geehrt wurde. Ein Muster, ein Meister, ein Monster von Roman. Gehalthaltvoll bis ins letzte Komma, basierend auf Steinbecks monatelangen Recherchen, gespickt mit Kapitalismuskritik und doch voll Saft und Kraft, Dürre und Staub, Leben und Tod.

"Deine Not ist das Abfallprodukt von Menschen ohne Not!"

So weit, so gut. Aber der Roman entstand 1939 – vor 80 Jahren. "You are in the dark. What do you see?", fragt Steven Sowah die Zuschauer. Man müsste ihm antworten: Wir sehen erstens ein Migrationsdrama. Eine Geschichte von Menschen, die gezwungen sind, sich eine neue Bleibe zu suchen. Und die, von Baby-Spieluhr-Musik eingelullt, von Popsongs verführt, den Ort suchen, wo es Arbeit gibt für alle, aber nie kalt ist. Wir sehen aber auch zweitens einen Kommentar zum Schicksal und zum Umgang mit Flüchtlingen heute: Direkt nach der Pause werden die Joads erst im "Auffanglager" von Steven Sowah als aufdringlich-zynischem Journalisten befragt. Dann will sie ein Minitraktor, der ausländerfeindliche Parolen schreit – "ihr Schmarotzer, haut ab, haut endlich ab" – aus dem Land vertreiben. Wir sehen drittens Reste der Steinbeckschen Kapitalismuskritik.

Wie 100.000 andere versuchen die Joads überleben. Die Grosseltern sterben dabei, die anderen verhungern fast. Benjamin Lilie ruft als charismatischer Prediger Tom Joad zur Revolte auf, schleudert ihnen immer wieder ein "Wehr dich!" entgegen. Und wir sehen viertens die modernisierte Variante dieser Kapitalismuskritik, verdichtet im Satz des Predigers an Tom Joad: "Deine Not ist das Abfallprodukt von Menschen ohne Not!"

Fruechte15 560 ZoeAubry uElend versus unerhörten Luxus: Gottfried Breitfuss, Maja Beckmann, Benjamin Lillie, Nadège Kanku, Kotoe Karasawa
© Zoé Aubry

Rüpings "Früchte des Zorns" gelingt damit ein hochkomplexer, hochverdichteter Theaterabend. Aber zuweilen überfordert der seine Zuschauer, will zu viel und verliert den roten Faden zwischen Radio Shows, Interviews, Original Steinbeck-Text. Und klebrigen Popsongs von "California Dreaming" bis zu Adeles "Hello", die Markenmensch und Musikerin Kotoe Karasawa mit phänomenal wandlungsfähiger Stimme süßlich dazwischen- und darüberwebt.

Wer sich einlässt auf dieses wilde, wahnwitzige Theater, sieht eine intelligente Steinbeck-Modernisierung. Der sieht auch ein wunderbar durchdachtes Bühnenbild von Jonathan Mertz mit aufblasbaren Gold-Kakteen und skelettösen Bäumen voller Orangen – auch sie nur aufblasbare Luft. Und er sieht ein großartiges Ensemble, in dem Wiebke Mollenhauer, Steven Sowah und Benjamin Lillie als Markenmenschen hervorragen und Maja Beckmann und Nadège Kanku als starke Joad-Frauen beeindrucken. Während Tom Joad von der Regie über lange Strecken so passiv angelegt ist, dass sich Nils Kahnwald nicht recht entfalten kann. 

 

Früchte des Zorns
nach dem Roman von John Steinbeck
Inszenierung: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind, Musik: Jonas Holle, Kotoe Karasawa, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Maja Beckmann, Gottfried Breitfuss, Nils Kahnwald, Nadège Kanku, Kotoe Karasawa, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Steven Sowah.
Premiere am 25. Oktober 2019
Dauer 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

neu.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Rüping zeige sehr stark und eben sehr theaterwirksam die Illusion, die Verführung, die hinter dem Bild des 'Gelobten Landes' steht, so Andreas Klaeui im SRF (28.10.2019). Er finde für so manches eine neue Form, "eine bühnengemässe Form, mit sentimentalen California-Songs zum Beispiel". Fazit: "Insgesamt sind diese Zürcher 'Früchte des Zorns' eine sehr dichte, reiche Romanlektüre auf der Bühne; und, was ich unbedingt auch sagen muss: grosses Schauspiel, tolle Schauspieler, die man in diesem neuen Zürcher Ensemble kennenlernen kann."

"Dieser irre Abgesang auf den (nicht nur) amerikanischen Traum kann kein Rausch sein. Er bietet kluge Ernüchterung. Er spricht mehr das Hirn als das Herz an", schreibt Alfred Schlienger auf republik.ch (29.10.2019).

Christopher Rüping "präsentiert Steinbecks beinharten und trotzdem bilderreichen, hochliterarischen Roman, der seinerzeit von manchen als kommunistische Agitprop verteufelt wurde, mit einem medialen und musikalischen Zitatesampling. Das hippt und hoppt und hat dennoch die Aura von Hochkultur. Freilich nicht ihre Tiefenschärfe." So schreibt Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (27.10.2019). Im "Lauf des Abends schält sich aus dem pfirsichglatten Erzähltheater mit dem angesagten moralischen Anspruch bei bewusster politischer Diskretion, mit den dezidiert oberflächlichen Entertainment-Elementen und den doch eher subkutanen Dringlichkeits-Momenten, vorsichtig eine ernsthafte Figurenliebe und ein wachsender Ensemblegeist heraus".

Eher ratlos zeigt sich Mirja Gabathuler im Deutschlandfunk Kultur (online 25.10.2019) über diesen Abend, dem "eine Haltung zum Stoff fehle". Regisseur Christopher Rüping gelinge es nicht, "durch die ironisch-trashige Brechung des etwas schwülstigen Textes aus dem Jahr 1939 Antworten auf Ungerechtigkeiten unserer Zeit zu finden". Überzeugend findet die Rezensentin einzig die Darsteller*innen. Hier sei "eindeutig Bühnenfreude zu spüren gewesen".

Dieses Kokettieren mit dem Elend der Großen Depression habe schon etwas Dreistes, findet Martin Halter von der FAZ (30.10.2019). "Und ganz ohne autoritäre Vorgaben und Übereinkünfte geht es ja auch auf der Bühne nicht. Autoren und Regisseure verteilen Rollen und Geschichten, und selbst wenn die Akteure demonstrativ fremdeln oder radikal authentisch mit ihnen verschmelzen, bleibt es doch immer: Schauspiel. Nils Kahnwald, immerhin Schauspieler des Jahres, kann in seiner Rolle als Brausekopf Tom kaum punkten; dafür glänzen neben Lillie vor allem Steven Sowah und Wiebke Mollenhauer als Animateure auf der Elendstour." Halter schließt: "Wenn am Ende Rose davon erzählt, wie sie einem verhungernden Fremden ihre Brust gab, wird es ganz still im Theater. Gute Geschichten rühren zuletzt eben doch mehr als jedes Konzept und jeder Blechroboter."

Für Christian Gampert vom SWR2 (26.10.201) "versinkt die Inszenierung in sozialer Not und albernen Show-Effekten". Rüping wolle anhand eines inneramerikanischen Konflikts auf das globale Anwachsen der "Kluft zwischen Arm und Reich" deuten. "Das ist ehrenwert, aber theatralisch völlig in den Sand gesetzt."

Rüpings Inszenierung sei "eine Anleitung, wie man aus harten News – hier Flüchtlingsschicksalen – das Stroh des soften Infotainments drischt", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (online 26.10.2019). Konzeptionell sind die Armen/die Flüchtlinge hier "Phantasieprodukte der Reichen". Dabei ist Rüpings "Prinzip der Stellvertretererzählung" für die Kritikerin "ungemein genau und komplex“, aber: "in seiner Rigorosität liegt eine dramatische Beengung. Die Fragestellung der Repräsentanz – wer spricht, wer spricht auf der Bühne, und wer spricht über wen? – erschöpft sich schneller, als es dem Abend guttut".

 

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