Träume sind Verschwörungstheorien

von Gabi Hift

Berlin, 27. Oktober 2019. Ein neuer Kruse ist da! Die Fangemeinde musste zwei Jahre warten, nun holpert und knirscht und berauscht es dann doch. Jürgen Kruse interessiert sich nicht für analytisches, intellektuelles Kopftheater. Wer sich "normales Theater" erwartet, wird enttäuscht. Es ist, wie wenn man statt eines Champignon-Omeletts ohne Vorwarnung Magic Mushrooms vorgesetzt bekäme. Kruse geht es nicht um Psychologie, sondern darum, Besucher kollektiv auf einen psychedelischen Trip zu schicken – mit den Mitteln des Theaters.

Individuum gegen Gesellschaft

Nun hat er im Deutschen Theater Ödön von Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" inszeniert, das Horváth gemeinsam mit dem Gerichtsreporter Lukas Kristl verfasste. Hinter einem schwarzen Gazevorhang zeigen sich schemenhaft Silhouetten. Vor dem Vorhang türmen sich Bücher und Blumen, an einer Wäscheleine hängen Hüftgürtel, Büstenhalter, Korsette. Ein Rätselwesen nach dem anderen tritt so nah an den Vorhang, dass man das Gesicht sehen kann.

Die Schauspieler grüßen nach draußen: "Guten Abend", als ersten längeren Text sprechen sie Peter Handkes "Als das Kind Kind war" (Kruse benutzt oft Texte von Handke, aber direkt als Auftakt ist das gerade in dieser Woche natürlich auch eine Provokation). Dann geht der Vorhang auf und dahinter öffnet sich eine Traumrumpelkammer: eine Litfaßsäule mit einem "Körperwelten"-Plakat, Schaufensterpuppen, Grabengel, Marienstatuen, an der Hinterwand aufgemalte grinsende Skelette. Links vorn geht eine Tür zum Wohlfahrtsamt, gegenüber liegt das Anatomische Institut.

GlaubeLiebeHoffnung2 560 Arno Declair uElisabeth in der Geisterbahn: Linda Pöppel © Arno Declair

Hier findet nun Horváths "gigantischer Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft" statt: Die arbeitslose Elisabeth (Linda Pöppel) versucht ihren Leichnam schon zu Lebzeiten ans anatomische Institut zu verkaufen. Sie braucht Geld für einen Wandergewerbeschein, gerät in den Würgegriff der kleinen Paragraphen, kommt ins Gefängnis. Es sieht kurz so aus, als könnte die Liebesbeziehung zu einem Polizisten sie retten, aber als herauskommt, dass sie vorbestraft ist, lässt er sie sitzen.

Alles hängt mit allem zusammen

Bei Kruse betreiben die Figuren ihre Angelegenheiten nur mit halber Kraft, unterbrechen sich ständig und horchen in ein unheimliches Draußen. Was am meisten in die Traumatmosphäre hineinzieht, ist, dass manche plötzlich Zähne ausspucken, zwei, drei, Dutzende – während sie weitersprechen und es kaum zu registrieren scheinen. Und dass ihnen, die doch so nötig Geld brauchen, auf einmal Büschel von Geldscheinen aus allen Taschen quellen, sie achtlos Münzen auf den Boden fallen lassen. Hinter dem gesellschaftlichen Unglück steckt etwas Anderes, Unbegreifliches, alles hängt mit allem bedeutungsvoll zusammen, Träume sind immer Verschwörungstheorien.

GlaubeLiebeHoffnung1 560 Arno Declair uKruses Traumpaar: Manuel Harder und Linda Pöppel © Arno Declair

Nicht ganz so gut funktioniert die Inszenierung auf der Sprach-Ebene. Kruse lässt nach jahrzehntelang entwickelter und bewährter Methode kalauern und gegen den Sinn betonen. "Auto" kriegt, nachdem es ein Weile in der Luft hing, einmal ein "psie" hintendran, ein andermal ein "mobil", und das unerklärliche "Anti" steht lang allein im Raum, bis es durch die sinnstiftende "lope" erlöst wird. Die Schauspieler stottern und stolpern und verhaspeln sich in sinnwidrigen Betonungen, denen sie dann selbst erstaunt hinterherhorchen.

Aber anders als bei vielen anderen Stücken, wo Kruse und seine Truppe dieses Aufbrechen der Sprache schon erfolgreich benutzt haben, hakt es hier. Denn Horváth hat seine eigene artifizielle Sprache: Er lässt seine Figuren in Floskeln aus Dreigroschenheften reden. Die müssen ihnen, um ihre komische und schreckliche Wirkung zu entfalten, sehr schnell und im Brustton der Überzeugung von den Lippen kommen – und das geht nicht gleichzeitig mit stotternder paradoxer Silbenaufsplitterung.

Unio mystica auf einer anderen Existenz-Ebene

Es wirkt also, als zöge der böse satirische Horvath auf der einen, der sanftere mystischere Kruse auf der anderen Seite an den Schauspieler*innen. Erst in der Beziehung zwischen Linda Pöppels Elisabeth und Manuel Harder als Schupo Alfons Klostermeier geht das auf. Die beiden sind Kruses angestammtes Traumpaar und sie sind virtuos. Er ist ein dumber, eitler Kerl, sie ist nur bei ihm, weil sie keine andere Chance mehr hat. Die ganze Romantik spielen sie einander nur vor – aber dann wird plötzlich auf Horvaths Düsternis und Tristezza gepfiffen: Elisabeth kommt im Hippiekleid herein, aus den Boxen dröhnt "Like a rainbow", und sie tanzen und hüpfen über Bett und Tisch und Stühle. Eine große, kindliche, völlig unvorbereitete Unio mystica ist da zu sehen und man weiß genau: Das stimmt, sowas gibt's, dass man auf einmal für einen Song lang ganz blödsinnig glücklich ist miteinander – auf einer anderen Existenz-Ebene.

Danach kommt's wie's kommen muss: Die Vorstrafe fliegt auf, er wirft sie hinaus, sie geht ins Wasser. Wie er sich als das Opfer sieht, als einen, der nie Glück hat, das ist widerlich und rührend. Eine halbe Stunde lang findet Kruse dann kein Ende, ein überlebensgroßer Jesus am Kreuz kommt kopfüber aus dem Schnürboden, eine weiße Boa constrictor hat einen Auftritt, und es geht weiter und weiter und wird albern und traurig und wieder albern.

Die Krusetraumwelt ruckelt und holpert also diesmal, langweilt einen und macht dann doch wieder sehr glücklich, mit großartigen Schauspielern, und ganz anders als alles Andere, bewusstseinserweiternd, ein Stoff der Träume, den seine User einfach brauchen, und es ist schön, dass er jetzt wieder zu haben ist.

Glaube Liebe Hoffnung
Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern
von Ödön von Horváth und Lukas Kristl
Co-Regie: Jürgen Kruse, Bühne: Bernd Damovsky, Kostüme: Sophie Leypold, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Juliane Koepp, Franziska Trinkaus.
Mit: Frank Büttner, Alexandra Finder, Christian Hankammer, Manuel Harder, Jürgen Huth, Linda Pöppel, Natali Seelig, Bernd Stempel, Caner Sunar, Julia Boxheimer, Sarah Lauks, Johann Otten, Nina Philipp und einer (im Programmheft nicht genannten) Boa constrictor.
Premiere am 27. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Kruse lässt keine psychologische, sozialrealistische Geschichte erzählen, sondern baut eine riesige Distanz zu den Figuren über ihr Sprechen auf," so Barbara Behrendt auf rbb-kultur (29.10.2919). Doch gerade das wird aus ihrer Sicht dem Abend zum größten Problem. "Kein einziger Satz darf so klingen, wie man ihn normalerweise spricht, jede Betonung, jeder Sinnzusammenhang wird dekonstruiert," was auf die Dauer von zweieinhalb Stunden "tödlich ermüdend" auf die Kritikerin wirkt. Das verändere sich erst, wenn Linda Pöppel und Manuel Harder das Paar Elisabeth-Alfons zu spielen begännen. Erst in der letzten halben Stunde "dieses düsteren Abends" wird "Kruses Totentanz" aus Sicht der Kritikerin "doch noch lebendig-emotional, überbordend albtraumhaft."

"Wirklich ungemein zäh schleppt sich Horváths 'kleiner Totentanz in fünf Bildern' über Bernd Damovskys Friedhofsbühne," schreibt Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (29.10.2019)."Man möchte sich wirklich nicht ausmalen, wie der Abend in den DT-Kammerspielen aussähe, wenn es nicht Linda Pöppel wäre, die hier dem karrieristischen Uniformträger hinterhertrauert. Und wenn in ebendieser Uniform nicht Manuel Harder steckte. Die Tatsache, dass hier absolute Spitzenkräfte ihres Fachs auf der Bühne stehen, führt immerhin zu dem einen oder anderen bemerkenswerten Moment in den ewig langen zweieinhalb Stunden."

"Es schwächt und ermüdet einen auch so schon, wenn im Dunkeln langsam und verfremdet gesprochen wird," schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (28.10.2019) "Aber die Seltsamkeit dieser Rituale, vor allem der dann seelisch doch ganz ausgefüllte und beglaubigte Schmerz im Spiel des Ensembles, wirkt farbig, klebrig und schwer nach. Wie ein böser Traum."

Kruses Behandlung der Sprache klinge oft ein bisschen affektiert und an langen Haaren herbei gezerrt. "Bei Horváth aber, dem 'Sprach-Verknapper', ist dieser Effekt sinnvoller und erhellender als sonst. Hier steht ja eh kaum ein Wort im Text, das nicht mindestens einen Doppelsinn hätte. Und auch die berühmten, in den Text geschriebenen Pausen funktionieren in Kruses Manier viel interessanter", so Michael Laages im Deutschlandfunk (29.10.2019).

"So vorgestrig und unlustig wie ein Altherrenwitz" lautet das Urteil von Anna Fastabend in der Süddeutschen Zeitung (29.10.2019). "Keine Frage, die Schauspieler sind alle großartig." Auch Linda Pöppel spiele so meisterhaft "wie der Meister es eben will". Ihre beziehungsweise Kruses Elisabeth sei aber nicht mehr als ein sexy Opfer, das sich mit rotem Schmollmund, rotem BH und roten Strapsen an inhumanen Paragrafenreitern abarbeite, bis sie einsehe, dass Selbstmord die bessere Lösung sei. "Wie sie da so liegt, ist man selbst fast froh, dass sie endlich gestorben ist, so nervig, wie Kruse sie mit ihrer stockenden Sprache und ihrem Marilyn-Monroe-Geklimper angelegt hat."

 

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