Blutgericht

von Esther Slevogt

Berlin, 12. Mai 2007. Die Bühne ist mit Sperrholz vernagelt, auf dem dicke Schichten von Blut auf vorangegangene Schlachtfeste kaum vorstellbaren Ausmaßes schließen lassen. Man erkennt die Abdrücke blutiger Hände und Körper.

Getrocknete Ströme vergossenen Bluts kleben auch an den beiden altarhaften Podeststufen, die bis kurz vor die erste Sitzreihe des Zuschauerraums reichen, von wo aus die hoch aufsteigende, blutbeschmierte Wand sich wie ein bedrängendes Massiv ausnimmt. Auf der oberen der beiden Stufen erscheint eine Frau mit deutlichen Spuren physischer und psychischer Verwahrlosung. Sie trägt nichts als Slip und BH, ihr Blick ist starr, sie könnte so auch in irgendeiner Wohnküche sitzen und dosenweise Bier in sich hineinkippen. Und das tut sie auch – später.

Zuvor jedoch öffnet sie einen Kanister und gießt literweise Theaterblut über sich aus. Als handele es sich dabei um ein Ritual, das immer und immer wieder in zwanghafter Wiederholung vollzogen werden muss. Bald erzählt, nein, schreit die Frau die Geschichte aus sich heraus, die sie zu diesem unfassbaren Akt der Selbstbesudelung antreibt: denn hier steht Klytaimestra (beeindruckend radikal von Constanze Becker gespielt), Königin von Argos und Gattin des Agamemnon, der einst die gemeinsame Tochter Iphigenie opfern ließ, um vor seinem Feldzug nach Troja die Götter milde zu stimmen. Zehn Jahre ist das her, aber auf dass die Zeit nicht etwa Wunden heile, müssen sie täglich wieder aufgerissen werden. "Tun – Leiden – Lernen" wird es den ganzen Abend immer wieder heissen. Doch hier lernt keiner, wälzen Unbelehrbarkeit, Unrecht und Unglück sich immer weiter – mordet der Vater die Tochter, wird dafür von seiner Frau ermordet, die der eigene Sohn erwürgt.

Bilder, so zeichenhaft wie grauenvoll
Für Michael Thalheimers Inszenierung der "Orestie" des Aischylos sind die Türen des Zuschauerraumes im Deutschen Theater herausgenommen worden. Das Licht wird nicht erlöschen den Abend über: kaltes Neon glost aus den Kandelabern an den Rangbalkonen, die normalen Glühbirnen sind ausgetauscht. An die Zuschauer in den ersten Reihen wurden Plastikplanen verteilt, als Schutz vor spritzendem Theaterblut. Eine Zuflucht vor den Zumutungen des Abends bieten sie nicht. Man sieht immer wieder, wie Zuschauer sich fast ängstlich hinter den Planen verkriechen, entsetzt auf die Bilder starren, die sich gleichzeitig doch so demonstrativ zu ihrer Zeichenhaftigkeit bekennen. Denn Constanze Beckers Selbstübergiessung lässt sich ja auch als Initiationsakt eines Theaterabends verstehen. Und die Blutspuren als Spuren vergangener Aufführungen.

Und trotzdem erlauben diese Bilder keine Distanz. Wenn der siegreiche Agamemnon (aasig-brutal: Henning Vogt) aus Troja heim kommt und in einem gewaltsamen Geschlechtsakt erst einmal die Frau wieder in Besitz nimmt. Wenn er wenig später blutüberstömt, nackt und unendlich langsam sterbend die unterste Podeststufe entlang robbt; fast eine halbe Stunde dauert es, bis er im letzten Drittel dann reglos liegen bleibt. Wenn Sohn Orest (Stefan Konarske) als verklemmtes Sensibelchen sich vor Angst und Überforderung angesichts des Götterbefehls die Mutter zu ermorden, einnässt und ihm der Urin die Beine entlangt läuft.

Nicht nur, dass diese Figuren bei aller Archaik hundertprozentig heutig sind und ihre tragische Größe gerade aus der Alltäglichkeit ihres Unheils wächst. Überdies setzt Thalheimer dem Zuschauer sozusagen die eigene Stimme in den Nacken: im zweiten Rang bellt, skandiert, flüstert und schreit ein Chor aus vierzig Männern und Frauen wütend, argumentierend und am Ende nur noch hilflos gegen das Unheil an, dass sich da unten abspielt, wo nach der gleichen mörderischen Logik, mit der auch die Real-Geschichte funktioniert, in einem Familienkrieg Blutopfer mit immer neuen Blutopfern gesühnt werden und das Verhängnis nicht aufzuhalten ist.

Der zivilisatorische Fortschritt entfällt
Aischylos erzählt in seiner Tragödie, wie aus einem archaischen Chaos, aus Götterwillkür und Menschenmacht, wie aus der Barbarei eine für alle verbindliche irdische Ordnung entsteht. Denn am Ende muss sich Orest, der letzte in der Mörderlinie der Atridenfamilie, vor dem Areopag für den Mord an seiner Mutter verantworten. Thalheimer und sein Dramaturg Oliver Reese – ausgehend von Peter Steins Übersetzung, dessen eigene, Epoche machende Aufführung vor 26 Jahren noch acht Stunden gedauert hat – machen diesen Schritt in die Zivilisation nicht mit.

Sie kondensieren Text und Figuren, bis ein Konzentrat übrig bleibt, das gerade noch für hundert Spielminuten reicht. Darin ist das Exemplarische der antiken Tragödie radikal auf das Persönliche herunter gerechnet. Es sind die niederen Instinkte Einzelner, die auch wenn sie Macht haben nicht klüger sind –, die das Rad der Geschichte drehen und die Massen unterpflügen. Dem zivilisatorischen Fortschritt wird eine klare Absage erteilt. "Frieden für immer. Frieden für immer!" skandiert der Chor am Schluß. Das klingt ebenso trotzig wie sinnlos und zuletzt bloß noch wie eine leere Litanei. Irgendwann geht dann das Licht aus.

 

Die Orestie
von Aischylos
Deutsch von Peter Stein, Fassung Oliver Reese und Michael Thalheimer
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Michaela Barth, Musik: Bert Wrede, Chorleitung: Marcus Crome.
Mit: Constanze Becker, Michael Gerber, Henning Vogt, Katharina Schmalenberg, Michael Benthin, Stefan Konarske, Lotte Ohm, Kalle Kalima, Bert Werde.

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