Vorwärts zur Natur?

6. November 2019. Pflanzen wollen vermutlich gar keine Protagonisten auf unseren Bühnen sein – zumindest nicht, wenn die so bleiben, wie sie sind. Der Regisseur Kevin Rittberger kontert Tobias Rauschs Entwurf eines "Schauspiels jenseits des Menschen".

Von Kevin Rittberger

Vorwärts zur Natur? Ein Plädoyer für eine Welt ohne uns, mit uns!

von Kevin Rittberger

6. November 2019. "Pflanzen als Protagonisten im Theater? Wie soll das funktionieren? Damit eine Pflanze im Zentrum eines Bühnengeschehens stehen könnte, schienen uns drei Eigenschaften notwendig:

  1. Die Fähigkeit, zu handeln, d.h. komplexer als in simplen Reiz-Reaktionsmustern agieren zu können.
  2. Individualität.
  3. Die Möglichkeit, ein Publikum emotional zu affizieren." 

Einige grundlegende Dinge scheinen mir bemerkenswert auf der Suche nach einem Theater der Pflanzen, für das der hier zitierte Essay von Tobias Rausch auf nachtkritik.de einige Umrisse skizziert hat, und das den Menschen noch zu brauchen scheint, obwohl es ihn bereits ins Jenseits befördert. Wenn wir die Welt ohne uns als "Schauspiele jenseits des Menschen" betrachten, betrachten wir sie immer noch. Der alte "Gottes-Trick" (Donna Haraway) schleicht sich nicht ein, er macht sich breit wie eh und je. Zwar geht ihm diesmal eine Verneigung vor der Intelligenz ("Hach, die Wurzeln, so klug wie das Internet!") und der Individualität ("Der arme Basilikum mag keine Klassik!") der Pflanzen voraus, am Ende sollen jedoch wieder Publikum und Artisten durch ein Schauspiel befriedigt werden. Die Leute sollen gerührt sein und staunen, wie geil der Planet ohne sie aussieht.

Beobachtung der Beobachtung

Dabei war das immer so. Das bürgerliche Theater entsorgte seit jeher die Beschädigten und Deklassierten im Deklamationssprech und Mitleidstäusch und konstruierte eine Privilegiertenbubble, ohne diese als solche zu markieren. Dies war das Guckkastentheater und behauptete qua Repräsentation, dass es die Welt da draußen nachahmen könne, mal psychologischer, mal typenhafter, mal lustiger, mal trauriger. Und sorry, bevor ich‘s vergesse: Gratisgereinigt sollten die Bürgerlichen auch noch werden, auf dass ihre Mitleid und Kleingeld verschenkenden Krämerseelen keine (oder wenn schon, dann spannend kognitiv-dissonante) Gewissensbisse kriegen beim Weitervererben und Weiterverdienthaben der eingehegten Eigentumsverhältnisse.

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Aber diesmal – nein, künftig, weil der Klimawandelscheiß hat ja erst begonnen! – soll ein Pflanzentheater uns also zu Gefühlen hinreißen wie anno dazumal die großen Mimen? Und wir sitzen wieder vor der Bühne und staunen? Ich beobachte die Beobachtung der Beobachtung und ich beobachte Denkfehler. Wohlbemerkt: Eine Welt ohne uns ist eine Welt, in der die Apokalypseaktivist*innen von Exctinction Rebellion nicht mehr performen, in der keine Menschenseele mehr kreucht und fleucht, nicht einmal der menschengemachte Gott, der alles betrachtet. Dieses Paradoxon soll bewusstermaßen das Interessante sein an einer Welt ohne uns? Ach herrje. Interessant ist doch, dass Menschen so anfällig sind für defätistische Szenarien, die den Menschen nicht mehr enthalten. Bereits Rigo Baladur ("Der Stille Tod") und Ulrich Horstmann ("Das Untier") haben weit vor Alan Weisman erstaunliche Bücher geschrieben, die den Menschen hinweggewünscht haben. Man kann diese als anthropofugale Ästhetiken diskutieren.

Hurra, die Welt geht unter?

Aber noch viel entscheidender ist, dass die Menschen heute nicht mehr auf die Anmaßung hereinfallen dürfen, eine irgendwie künftig wieder unberührbar werdende Natur irgendwann mal beobachten zu können. Früher hieß es: Zurück zur Natur! Das wurde zumindest Rousseau angedichtet und hernach haben bis zu Thoreau ("Walden") einige Denker*innen denjenigen Keywords geliefert, die Libertarianismus und Landkommunen schon immer zum Teufel gewünscht haben. Jetzt also: Vorwärts zur Natur? Hurra, die Welt geht unter? No!

Der Theaterapparat kann wie der Wissenschaftsapparat anfangen zu begreifen, dass das Subjekt-Objekt-Verhältnis nicht starr ist, kein unaufhebbarer Dualismus. Der Apparat ist eine materiell-diskursive Praktik. Er findet nicht bereits vorhandene Dinge vor, wie menschliche Tragödien und Umweltkatastrophen, die er dann lediglich untersuchen und kunstfertig ausstellen kann – oder mit einer Meinung anspitzen. Künstlerische Ergebnisse sind nichtig, wenn sie nicht mitreflektieren, dass der Apparat die dualistischen Unterscheidungen erst konstituiert, zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, zwischen uns und den anderen.

estado vegetal 560 eike walkenhorst"Estado Vegetal" von Manuela Infante, vorgestellt beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2019 © Elke Walkenhorst

Nehmen wir einen Stock. Ich kann ihn als Tastinstrument im Dunkeln verwenden, er wird dann meine Körpergrenzen ausdehnen, meine Kontur sprengen. Oder ich kann ihn bei Licht betasten und fühlen, woraus er beschaffen ist. Ich vollziehe den "agentiellen Schnitt" (Karen Barad) jeweils anders, je nach Gebrauch, nicht immer bewusst und willkürlich. Und Pflanzen, die etwa der italienische Botaniker Stefano Mancuso emphatisch auf evolutionäre Augenhöhe zu Tieren und Menschen hochranken lässt, haben auch eine "Agency" (Handlungsfähigkeit), selbst wenn ich sie biedermeierlich vor sich hinvegetieren lasse. Ethik ist nicht bloß verantwortliches Handeln in Beziehung auf menschliche Erfahrungen der Welt. Sie ist, mit Barad, vielmehr "eine Frage materieller Verschränkungen und eine Frage dessen, welchen Einfluss jede Intraaktion bei der Rekonfiguration dieser Verschränkungen gewinnt." Sudesh Mishra, ein iTaukei-Wissenschafler und Poet, nennt diese Unabtrennbarkeit aller Aktanten mit Rückgriff auf Deleuze eine "Zoē-Assemblage". Sie ist nur dann gegeben, wenn sich Menschen immer als mehr-als-menschlich und weniger-als-menschlich zugleich begreifen. Und sich vom dem verabschieden, was Haraway "menschlichen Exzeptionalismus" nennt. Denn auch die Anmaßung, eine wieder genesende Natur noch betrachten zu dürfen, wenn mensch sich das eigene Grab bereits geschaufelt haben und vom Planeten verschwunden sein wird, löst sich nicht vom anthropozentrischen (und meist androzentrischen) Subjekt-Objekt-Dualismus.

Mit agentieller Freude ins Getümmel

Ich finde jedoch wichtig zu betonen, dass die "Response-Ability" (Haraway) der Zoē-Assemblage, die – in meinen Worten – Achtsamkeit für alles Lebendige um uns herum, auch als menschliche Verantwortung angenommen wird und nicht als Alles-mit-allem-Geschwurbel oder Survival of the Fittest. Mensch kann durchaus rückwärtsgewandt und alleinig Verantwortung für bereits geschehene Schäden auf sich nehmen und sich dennoch vorwärtsgewandt aus der Wachstumsschlinge befreien, welche alles extraktiv in den Dienst des Menschen stellt und jede nicht verwertbare Geste abwürgt.

– Hold on! Die eigene Abwesenheit beobachten, yeah, eine abgefahrene philosophische Übung!
– Ok, aber jetzt lass uns mal Tacheles reden! Du bist entweder zynisch oder immer noch die leibhaftige, von Selbstekel und Misanthropie erfüllte Schadensfreude! Geh vielleicht besser nach Hause, leg dich ins Bett und lies Sloterdijk! Aber steh mir nicht im Licht, wenn ich mich mit agentieller Freude ins Getümmel mit den noch nicht ausgelöschten Menschen, Tieren und Pflanzen stürze!

"Es gibt keinen äußeren Beobachtungspunkt. Wir sind keine äußeren Beobachter der Welt. Wir befinden uns aber auch nicht einfach nur an bestimmten Orten in der Welt; vielmehr sind wir Teil der Welt in ihrer fortlaufenden Intraaktivität. (…) Die Möglichkeiten dafür, was die Welt werden mag, werden in der Pause ausgerufen." (Karen Barad)

RockyRaccoon 560 Wiki u Waschbär © DDima / https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2130476
Zuletzt habe ich eine – ich möchte sagen - defätistische Treue zum Guckkasten leider auch auf einer Klimawandelkonferenz namens MORE WORLD beobachten können, als mir Anja Kanngieser, eine Geografin und Künstlerin aus South Pacific, einen Artikel aus der "National Geographic" unter die Nase hielt, der behauptete, dass bald Waschbären das Regiment auf Erden übernehmen werden. Ich war eigentlich in einer – wie nenn ich’s? – Affinitätsgruppe, die Counter Narratives wie Klimagerechtigkeit gegen abzusehende Drohkulissen (Massenauslöschungen, Hungerkatastrophen, Abermillionen zum unwürdigen Lagerdasein verdammte Klimaexilanten) entwerfen und ausarbeiten sollte. Das Waschbärszenario fanden dann aber viele unterhaltsamer. Ja, weil eh alles zu spät sei, wir Menschen ja auf der gesamten Timeline der Schöpfung nur von kurzer Dauer wären und es also an der Zeit sei, dass wir wieder verschwänden.

– Das ist doch pessimistisch oder defätistisch!
– Nein, das ist realistisch.
– Aber wir sind doch nun hier, um andere Narrative zu finden, die einen Ausweg möglich erscheinen lassen. Was ist mit Ernährungssouveränität und Solidarischer Landwirtschaft?
– Lass uns nicht über Meinungen reden.
– Das ist keine Meinung. Die Pläne hierfür, der Weltagrarbericht etwa, liegen seit Jahrzehnten auf den Tischen der Regierungen und werden nur nicht umgesetzt.
– Ich bin Geografin und du Theatermacher. Also.

Sorgetragende Beziehungsweisen zwischen allen Erdlingen

Ein Theater, das das Publikum da abholen will, wo es steht und mit den altvorderen Mitteln des Guckkastens arbeitet, hat all diejenigen Handlungsfähigen bereits vor der Vorstellung aussortiert, welche erst durch das vorgängige Repräsentationsverfahren abgetrennt oder durch einen agentiellen Ansatz in ein Beziehungsgeflecht eingewoben werden. Die Guckkastenbewunderer, die darüber hinweggetäuscht werden, welche Schnitte sich vor ihren Augen vollziehen, können sich dann in ihrer geistigen und emotionalen Lähmung verstanden fühlen. Es bedeutet aber, sie in ihren Dualismen, welche ihnen Heimat geworden sind und welche immer Herabsetzungen und Ausgrenzungen bedingen, zu verstehen und zu verstärken. Ein progressives Theater hingegen wagt die mannigfaltigen Verschränkungen und sorgetragenden Beziehungsweisen zwischen allen Erdlingen, solidarisch, praktisch, um des Überlebens und um der Heilung willen. Es schießt Vertrauen voraus, dass Menschen im Diesseits aus ihren alten Gewohnheiten und Gehässigkeiten befreit werden können.

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Zurück zum Pflanzentheater. Was ist utopisch, was realistisch, was pessimistisch? Ein Ende der jahrhundertelangen Verweißungs- und Verwertungspolitik der Europäer*innen, indem Beschädigten Reparationen zukommen und anderen Kulturtechniken Platz gemacht werden? Blühstreifen am Rand der heimischen Äcker für die Regeneration von Insekten und gleichzeitig subventioniertes Agro-Business, das den Klimawandel weiterhin befeuert? Kohlekraftwerke am Netz lassen und beobachten, wie schnell es gehen kann, dass auch heimischen Bauern die Ernte wegbricht?

"Neue Selbstverständlichkeit bedeutet: Konstruktiv sich bis in die Zukunft hinein zu erinnern, was möglich sein muss, was denkbar ist und dort hinein die Fühler auszustrecken. (…) Die Verhältnisse nicht beschönigend, doch Schönheit suchend.“ (Tucké Royale)

Pflanzen wollen keine Protagonisten sein

Konflikte und Gegnerschaft auf die Bühne bringen zu wollen, im Zeitalter des fortschreitenden Klimawandels, muss wie zu jeder Zeit in Betrachtung ziehen, welche bereits geschehenen Ausgrenzungen und Herrschaftsszenarien verdoppelt, welche Beschädigungen also lediglich wiederholt werden könnten, auch in ihrer Unwiderruflichkeit. Menschen befragen, die wie Pflanzen zertreten werden? Einer Koralle zusehen, wie sie verblasst? Von Menschen erzählen, die vor Klimaschäden fliehen und in Gefängnissen und Lagern landen? Ja, gut, aber passiert halt alles bereits. Und weiter? Die Protagonist*innen eines Theaters des Klimawandels müssen zunächst einmal Apparate zulassen, die Ausgrenzungen nicht permanent reproduzieren, sondern die Erweiterungen von anthropozentrischen Körpergrenzen zulassen.

Als nächstes müssen Dualismen und Hierarchien weichen. Sodass nicht mehr der Eindruck entsteht, die Kultur könnte die Natur beobachten und repräsentieren. Stattdessen sind vielfältige NaturKulturen in einer fortwährenden Praxis des Mit-Werdens ineinander verschränkt und verwoben. Das kann "tentakuläres Denken" (Haraway) bedeuten oder "speaking nearby" (Trinh T. Minh-ha). Vielleicht wollen Pflanzen aber auch gar keine Protagonisten in einem Schauspiel sein, wie Menschen dies gern auf ihren Bühnen wollen. Es gibt bestimmt eine Erfahrung, wie es für eine Pflanze ist, eine Pflanze zu sein. Und ja, vielleicht können Pflanzen auch sehen und Tiere austricksen, wie Mancuso behauptet. Wir werden sie mit unseren Apparaten aber glücklicherweise nicht domestizieren können, dieses Geständnis für uns so zu erbringen, dass wir sitzen bleiben können.

 

Kevin Rittberger uKevin Rittberger, geboren 1977 in Stuttgart, ist Regisseur und Autor. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Berlin. Sein Stück "Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung" war in der Inszenierung von Felizitas Brucker 2011 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. 2010 erhielt Rittberger den Kurt-Hübner-Regiepreis, 2012 den Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreis. Zur Klimathematik entwickelte er zuletzt gemeinsam mit dem Theater Basel und Critical Media Lab Basel die Theaterinstallation Community in Progress II: Syntegrity. Seine neue Inszenierung "The Männy. Eine Mensch-Tier-Verknotung" hat am 21. Februar 2020 am Schauspiel Hannover Premiere. Aktuell zu sehen ist sein Stück IKI.RADIKALMENSCH am Theater Osnabrück.

 

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