Querschläger in Wartestellung

von Dieter Stoll

Nürnberg, 2. November 2019. Die Dame des Hauses grüßt rücklings liegend nackt von der Wand herab. Überlebensgroß sechs Meter breit, grade richtig für die gehobene Ehemännerfantasie und deren grapschenden Zaungäste. Man krault gerne mal im Vorbeigehen an gewissen Stellen des Kunstwerks, dessen Po-Falte das Modell selber gerne mit dem Titel "Höhlenforscher kurz vorm Einstieg" bespöttelt. Unter dem Bild kann man das Original sogleich live erleben, mit dem gesundheitsapostolisch streng verbotenen Kuchenteller in der Hand und dem ersten Bekenntnis des Abends mit übervollem Mund. "Ich hasse dieses Bild", sagt sie und lacht schrill dabei. Das tut sie fortan oft – ein bisschen hassen, noch lieber spitzig kichernd auftrumpfen.

Schrecklich tragikomische Familie

Das Puppenheim hingegen, das Henrik Ibsen seiner tragischen Heldin und ihren vorerst noch unbemerkbaren Fluchtgedanken als bedrohlich ausbruchsicheren Idyllen-Bunker schon in den Titel des Dramas hinein baute, ist in Andreas Kriegenburgs Nürnberger Inszenierung radikal wegsaniert. Freie Bahn für den neuen Blick, wohin er auch führen mag. Einfach nur "Nora" heißt die Geschichte dieser furchtbar dekorativen Frau in dieser schrecklich tragikomischen Familie, wo es alle in ihrer aufgekratzten Stimmung eigentlich gut meinen könnten, weil ja seit 1879, als die Emanzipation noch ganz eigendynamisch skandalträchtig war, einiges an Aufklärung passiert ist.

Kein rechthaberischer Blick zurück im Zorn also, wenn die Geschichte aus dem "Vögelchen"-Gehege von der gefälschten Unterschrift der aus den Untiefen der Realität weggehätschelten Frau ins Licht von heute gedrängelt wird, auch kein verspäteter Werbetrailer fürs "Emma"-Abo. Einfach nur frisch montierte Fragezeichen mit geringer Aussicht auf Antworten. Vor der Wechselkulisse betont neutral bleibender Gegenwart (der Regisseur als besonders begabter Bühnenbildner baute sich und Noras besitzerstolzem Gemahl eine nach allen Seiten ausfahrbare Galerie wie einen Design-Vorschlag für die "moderne Ehe" mit der Pin-up-Tapete) kippt der unheimlich komplexe Geschlechterkampf samt der draufgesattelten Aktualitätsbehauptung in eine neu austarierte Balance zwischen familiärer Ehrenplatzverteilung und unterdrücktem Beziehungsstress.

Nora1524 560 KonradFersterer uIn der Ehekrise: Pauline Kästner als Nora und Maximilian Pulst als Helmer

Nora Helmer und Pauline Kästner, Ibsens Bühnenfigur und ihre brillant mit allen komödiantischen Möglichkeiten jonglierenden Nürnberger Interpretin, stürzen sich an steiler Rampe mit viel Publikumskontakt in ein wechselmonologisches Ein-Personen-Streitgespräch, ob man diese unmögliche Figur ablehnen sollte oder eben doch unbedingt "die tolle Rolle" spielen muss. Viele Streu-Pointen, keine überraschenden Ergebnisse, die Vorstellung kann endlich anlaufen und der frisch gekürte Bankdirektor Thorvald Helmer (Maximilian Pulst) steigt nach Büroschluss trällernd ins offenbar schon seit Beginn der achtjährigen Ehe "en suite" laufende heimische Comedy-Casting ein, das zur Bannung des Alltags den ständigen Bonmot-Rausch im Salon-Wortgefecht sucht.

Ironie als Strategie

Andreas Kriegenburg hat daraus sein spezielles Regie-Prinzip gemacht, er lockt die fünf Akteure (noch dabei: Julia Bartolome als Noras Freundin Kristine mit der Prise Vernunft im kleinen Handgepäck, Raphael Rubino als sterbender Nora-Verehrer Dr. Rank und Tjark Bernau als erpresserischer Gläubiger Krogstadt) in bewusst übertourige Ironie-Motorik, in einen Marathon entlang der erst im letzten Drittel der Vorstellung endenden Szenen-Verspaßung, ins Experimentierfeld des auch in Theaterkantinen tief verwurzelten Improvisationstheaters. Da werden Charaktere verhackstückt, dass es nur so spreißelt. "Du wirkst ein bisschen angestrengt, hast du es mit den Proben übertrieben?", sagt der Mann irgendwann zur Frau. Respekt, das in dieser Nürnberger Fassung so stehen zu lassen.

Im sortierten Text-Eigenbau sind die hausgemachten, stets die Urfassung ein wenig relativierenden Querschlag-Gedanken zur melodramatischen Basis-Story immerhin in lauernde Wartestellung gebracht, auch wenn sie meistens bloß kitzeln, wo sie zuschlagen sollten. Hochartifizielle Gruppenkomödiantik wird da geboten, das ganz zweifellos, aber – wenn die Frauen zur sarkastischen Selbstverwirklichung reichlich Emanzipations-Klischees mit Ansage ausspucken oder rhythmisch skandierend in Selbstpersiflage "Versace", "Gucci", "Lidl" und "C & A" rufen – schwerlich ein herausfordernder Beitrag zur Vergegenwärtigung der Liebeslüge, die zur Lebenslüge wurde.

Nora9212 560 KonradFersterer uViel Lärm um Nora © Konrad Fersterer

Am Rande des Bühnentods

Am Ende muss das gute alte Puppenheim doch wieder Metaphern-Ersatzdienst leisten, weil die Titelheldin nicht länger "Eichhörnchen" bleiben sondern plötzlich unerwartet "zum ersten Mal ernst reden" will, ihr Mann aber am liebsten alles wie vorher haben möchte. "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh`n" singt sie gegen den drohenden Rückfall an, nachdem sie eben noch am Rand der wieder steiler gewordenen Rampe in den Bühnentod stürzen wollte, aber im Akkord immer wieder gerettet wird.

Die Entscheidung darüber fällt im Auge des Betrachters, ob er nach all dem flotten Randerscheinungs-Entertainment noch irgendeiner der Personen etwas von ihrem Schmerz glauben kann oder will. Das Premierenpublikum feierte das Spektakel und bejubelte vor allem die stupende Komödianten-Artistik von Pauline Kästner. Regisseur Andreas Kriegenburg hatte vorab in mehreren Interviews zu dieser Premiere versichert, er habe Ibsens "Nora" früher eigentlich nie inszenieren wollen. Denkbar, dass er diesem Vorsatz treu geblieben ist.

 

Nora
von Henrik Ibsen
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Andrea Vilter, Licht: Kai Luczak
Mit: Pauline Kästner, Maximilian Pulst, Julia Bartolome, Tjark Bernau, Raphael Rubino.
Premiere am 02. November 2019
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause
Premiere am 2. November 2019

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

"Diese Nora ist kein Opfer, sondern spielt das rhetorische-erotische Pingpong zwischen dem Kind-, Eltern- und Erwachsenen-Ich munter manipulierend mit", schreibt Katharina Tank vom Donaukurier (3.11.2019). "Ibsens dezent modernisierter Text – angereichert durch manch heutige Floskel und pointensichere Extempores – kommt dabei überraschend unverstaubt und federleicht rüber, wie überhaupt die Tür-auf-Tür-zu-Dramaturgie der Ibsen'schen Intrige bei Kriegenburg geradezu boulevardesk wirkt. Wer hätte gedacht, dass das Schauspiel mit dem schweren Thema auch eine herrliche Komödie ist?"

Andreas Kriegenburg und sein Ensemble wollten mit ihrer "in Text und Ästhetik mehrmals herrlich durch den Fleischwolf der Gegenwart gedrehten Nora" auf Folgendes hinaus: "dass es heutzutage längst beide Geschlechter sind, die sich – gefangen in den Käfigen ihrer gesellschaftlich verhärteten Rollen – nach Freiheit sehnen, ohne allerdings zu wissen, wie diese Freiheit aussehen könnte, noch dazu gemeinsam: als Frau und Mann; dass moderne Ehen gespielt werden wie Kinderspiele, wo eigentlich eine erwachsene Auseinandersetzung auf Augenhöhe notwendig wäre; dass sie beide also erst reifen müssten für ein wahrhaftes Miteinander", analysiert Sven Ricklefs vom Bayerischen Rundfunk (3.11.2019) sehr angetan.

"Wenn man schon das ganze Stück auf modern wendet und keinen Witz auslässt, als aufgeklärte Gesellschaftsstudie mit saloppen Figuren von heute, dann muss man auch den Schluss lichten – und sich nicht melodramatisch im Schmerz suhlen, mit Nora als Opfer", wendet Wolf Ebersberger von der Nürnberger Zeitung (4.11.2019) ein. "Zum Nachdenken – und Nachfühlen – liefert diese Sicht dennoch genug Stoff."

"Man kann (...) der Produktion auf höchst unterhaltsame Art beim Entstehen zuschauen, Zweifel, Spaß und auch Kalauer des Teams aus den Proben werden mitgereicht", schreibt Katharina Erlenwein von den Nürnberger Nachrichten (4.11.2019). "Die Aufspaltung in Sein und Schein ist literarisch nichts Neues. Andreas Kriegenburg bleibt auch einige Antworten auf die selbst gestellten Fragen schuldig. Dafür liefert er konsequent einen Showdown, der trotz Distanzierung zum Text fesselnd wird."

"Wohlfeil, wenn ein Regisseur einen politisch korrekten Diskursrahmen auf der Höhe des Zeitgeistes setzt (wie ein Feigenblatt auf den Akt), um darin dann doch das ewig lockende Weib zu zelebrieren", merkt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (7.11.2019) kritisch an und führt aus: "Es dominiert in Kriegenburgs Inszenierung der männliche Blick auf die (schöne) Frau, die nackte Venus, da kann die Protagonistin noch so oft aus ihrer Rolle heraustreten und diese – und sich selbst – kritisch hinterfragen. Sie tut es merklich unter seiner Regie." Das bleibe als "diffuses Unbehagen", auch wenn das Konzept insgesamt aufgehe "und einen großen Unterhaltungswert hat", so Dössel: "Diese 'Nora' ist auch deshalb überzeugend, weil da in Nürnberg wirklich gute Schauspieler zu erleben sind und weil Kriegenburg, der prominente Gastregisseur, jedem und jeder in seiner, ihrer Rolle – und Rollenzuschreibung – genügend Zeit und Aufmerksamkeit schenkt. Dadurch entsteht Interesse an den Figuren, auch an den männlichen, keine gerät zur Karikatur."

 

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