Die Nächte mondkranker Soldatinnen

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 8. November 2019. Israel ist (neben Schweden, Norwegen und Eritrea) eines von vier Ländern auf der Welt mit einer Wehrpflicht für Frauen. Im Gegensatz zu den Männern (drei Jahre) müssen die Frauen aber nur zwei Jahre Pflichtdienst ableisten, und die allermeisten Führungspositionen im israelischen Militär haben Männer inne. Sivan Ben Yishai ist eine Berliner Autorin, die in Israel geboren wurde und aufgewachsen ist. Sie hat ein Stück geschrieben, das von acht Soldatinnen handelt. Präziser gesagt, handelt es davon, wie sich acht Soldatinnen in einem Albtraum treffen, der der Realität eines israelischen Frauen-Wehrdienstlagers ziemlich nah kommen dürfte.

18-Jährige im Wehrdienstlager

Aber es geht nicht um Israel, es geht nicht um den Nahostkonflikt, höchstens in dem Stoßseufzer, mit dem "Oder: Du verdienst deinen Krieg (Eight Soldiers Moonsick)" endet: "Ich will das Land sein, an dessen Rettung niemand auch nur denken wird." "Shalom", Frieden, ist der Epilog übertitelt, und den können sich die vier Schauspielerinnen in Sasha Marianna Salzmanns Uraufführung des Stücks im Gorki Studio nur wünschen, indem sie sich vorstellen, "das Tier zu sein, das selbst Tierärzte nicht akzeptieren werden", die Ratte, die dem Sterben überlassen wird, weil es um sie keinen Machtkampf gibt; weil es kein Patriarchat gibt, das ihren kleinen Ratten-Körper besitzen oder auch nur besetzen will.

Nein, Sivan Ben Yishais Stück ist auch kein plattes "Alter weißer Mann"-Bashing, dafür ist seine Bereitschaft, gedankliche Haken zu schlagen, viel zu groß, und ist sein Sound viel zu kaputt. Also: eight soldiers moonsick, acht mondkranke Soldatinnen, liegen allnächtlich zusammen in einem Zelt und masturbieren sich in die Albträume hinein, die die tödliche Sinnlosigkeit ihres Alltags ihnen unweigerlich bescheren wird.

Wie man sich den Tod vorstellt

In diesen Albträumen geht es nicht um Kampfeinsätze gegen hilflose Palästinenser*innen, sondern darum, wie man sich als 18-jährige Soldatin den eigenen Tod vorstellt: Es könnte passieren, dass man bei einer Übung sein Gewehr im Zelt vergisst und dafür gehenkt wird. Es könnte passieren, dass man in einer Toilette im Männerlager aufgefunden wird mit einer Schusswunde im Kopf unter einem "Ich habe sie gefickt"-Graffiti. Es könnte passieren, dass man seine Waffe reinigt und die Erkenntnis nicht überlebt, dass sie geladen war.

oderduverdienstdeinenkrieg 560c ute langkafel maifoto uAbak Safaei-Rad, Elena Schmidt, Catherine Stoyan, Kenda Hmeidan in "Oder: Du verdienst deinen Krieg" © Ute Langkafel / Maifoto

Die Regeln sind männergemacht, Männer treffen die Entscheidungen. Das israelische Frauen-Wehrdienstlager funktioniert als Kulminationsort patriarchaler Machtphantasien – seine Insassinnen können wie niemand sonst Zeugnis ablegen über den Schaden, den sie anrichten. Denn anders als die, die von ihren männlichen Mitsoldaten gezielt getötet werden, haben sie in ihrem Zelt gerade noch genug Sauerstoff, zu träumen und ihre Albträume in Worte zu fassen.

Papas beste Zeit

Es gibt noch eine weitere Albtraum-Sequenz, die erst einmal sehr unschuldig, beinahe traumhaft daherkommt: eine Familie fährt in einem Camping-Van durch die Landschaft, im Radio laufen die Hits der 80er, und Papa singt mit: "Every breath you take". "Noch war der Vater der beste Fahrer der Welt, der beste Schlagzeuger auch, und seine Musik war die beste Musik, die du jemals in deinem Leben gehört hattest, und nicht dieser Haufen scheiß-beschissen-verkitschter Lovesongs, gesungen von Männerstimmen, die dein Herz und diesen Planeten auf einmal ruinierten."

In diesem einen Satz steckt die Pointe des korrumpierten Kindheits-Traums, der seine hässliche Fratze zeigt, als ein Soldatinnen-Zombie mit Schusslöchern im ganzen Körper versucht den Van aufzuhalten, natürlich vergeblich. Papa ist nicht aufzuhalten, genausowenig wie das nationalistische System, dem er seine 17-jährige Tochter opfert, als er sie enthusiastisch auf ihren Wehrdienst vorbereitet: "Es war die beste Zeit meines Lebens."

oderduverdienstdeinenkrieg mg 560 ute langkafel maifoto uGemeinschaft in Rücken, auf denen auch der Stücktitel gedruckt ist © Ute Langkafel / Maifoto

Sasha Marianna Salzmann markiert diesen traumatischen Kippmoment von Geborgenheit in Ausgeliefertsein mit immer neuen tontechnischen Verfremdungen der Hits, zu denen Papa im Auto mitgeträllert hat: Phil Collins, Michael Jackson, Sister Sledge blöken, röhren, hallen dumpf aus dem riesigen Ghettoblaster, den die vier Schauspielerinnen bei ihrem offensiven Gruppen-Auftritt zu Beginn an der vorderen Bühnen-Kante abgestellt haben. Überhaupt tüfteln sie ständig am Sound des Texts herum, indem sie in ihm hin- und herspringen, einzelne Sätze loopen oder durcheinander sprechen. Dieser Kunstgriff verschafft ihnen Distanz zum Gesprochenen und stellt eine entspannte Gemeinschaft her, als wären sie zusammen auf einer Bandprobe.

Mit Empowerment-Gestus

Doch wird im Gorki-Stil auch viel im Empowerment-Gestus nach vorne gesprochen, sowohl einzeln als auch im eng stehenden Chor. Die vier Darstellerinnen sind allesamt souverän, ihr Zusammenspiel ist sehr gut getaktet. Sie bewegen sich auf einem Stufen-Podest, das mit schwarzen Stuhlreihen den Zuschauerraum doppelt, sie tragen große weiße Röcke, auf die Fetzen aus dem langen Stücktitel gedruckt sind. Darunter tragen sie military green, denn sie sind Soldatinnen.

Soldatinnen im Kampf gegen das Patriarchat, die sich im safe space ihres gemeinsamen Albtraums auf den wahren Krieg vorbereiten, indem sie erst einmal alles auskotzen, was ihre von den Zuständen krank gemachte Fantasie ihnen abwürgt. Sivan Ben Yishais formsicherer und hypersinnlicher, von Maren Kames wunderbar übersetzter Text hält dieser Bühnensituation mit fast allen seinen Untiefen stand. Trotzdem wäre ihm auch noch einmal eine weniger aktivistische Inszenierung zu wünschen.

 

Oder: Du verdienst deinen Krieg (Eight Soldiers Moonsick)
von Sivan Ben Yishai
Deutsch von Maren Kames
Uraufführung
Regie: Sasha Marianna Salzmann, Bühne + Kostüme: Cleo Niemeyer: Sounddesign: HYENAZ, Dramaturgie: Rebecca Ajnwojner, Mitarbeit Dramaturgie: Anna Heesen, Licht: Fritz Stötzner, Ton: Miloš Janjić.
Mit: Kenda Hmeidan, Abak Safaei-Rad, Elena Schmidt, Catherine Stoyan.Premiere am 8. November 2019.
Premiere am 8. November im Gorki Theater
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Das Stück sei "eine wüste Collage aus zerschundenen Körpern und blutigem Fleisch und Schlamm und Dreck und Kot". Man habe wenig Hoffnung aus diesem Horrofilm zu entkommen, so Frank Dietschreit vom RBB (9.11.2019). Aber Sasha Marianna Salzmann mache daraus "ein Oratorium der Stimmen, der Klänge, der Lieder". Der Kritiker war berührt und begeistert. "Es wird in unser Hirn geträufelt, in unser Herz gepflanzt und wir sind beschämt." Selten habe er so einen drängenden, dringenden und packenden Theaterabend erlebt.

"Brutal und kraftvoll" findet Katrin Pauly von der Morgenpost (10.11.2019) den Abend. Salzmann vertraue uneingeschränkt auf die erzählerische Kraft des Stücks, auf seine sprachliche Wucht, auf die Präzision der Beschreibungen. "Ihr ist damit eine kluge, berührende Inszenierung gelungen von einem dringlichen, sehr starken Text."

 

Kommentare  
Oder: Du verdienst..., Berlin: Patriarchats-Anklage
Der vom mehrere Generationen überspannenden Quartett hochkonzentriert vorgetragene Text erinnert fast an ein Oratorium, wie Frank Dietschreit im rbb-Kulturradio treffend feststellte, und kontrastiert drei Zeitebenen: Erstens das Hier und Jetzt der acht jungen Frauen, die Drill und Schikanen der Vorgesetzten ausgeliefert sind und Liegestütze vor den Stiefeln des Befehlshabers machen müssen. Um sexuelle Übergriffe der Männer abzuwehren, drängen sie sich eng einander. Kuschelnd, streichelnd und küssend entsteht eine homoerotische Verbindung zwischen den Frauen.

Zweitens phantasieren sie sich nachs in albtraumhaften Sequenzen über Todesarten, Militärtribunale, vor denen sie sich verantworten müssen, und Tierkadaver hinein.

Drittens erinnern sie sich in Rückblenden im Lager daran, wie ihr Vater ihnen davon vor schwärmte, dass die Jahre bei der Armee die „schönste Zeit seines Lebens“ gewesen seien. Als der Einberufungsbescheid in den Briefkasten flattert, bereitet der Vater seine Tochter stolz mit einem Initiationsritual auf den Wehrdienst vor. Von der männerbündischen Lagerfeuer-Romantik, von der ihr Vater seinen Kindern bei langen Autofahrten vorschwärmte, während die 80er Jahre-Hits von Phil Collins bis Michael Jackson aus dem Autoradio dudelten, ist die Realität der Töchter weit entfernt.

Sasha Mariana Salzmann lässt den Text ganz für sich sprechen und inszeniert ihn ziemlich minimalistisch. Die vier Frauen, die ihre weißen Röcke bald ablegen und in Camouflage-Montur durch die auf der Bühne aufgestellten Stuhlreihen pflügen, sprechen meist im Chor. Die Feel-Good-Popsongs werden passend zur düsteren Stimmung verzerrt und geloopt. Allgegenwärtiges Rauschen, Wispern und Knarren sorgt für einen irritierenden Klangteppich, in den die Patriarchats-Anklage der vier Frauen eingebettet ist.

In „Oder: Du verdienst Deinen Krieg (Eight Soldiers Moonsick)“ spielt die Autorin nicht ganz so raffiniert und hakenschlagend mit den Erwartungen des Publikums, wie ihr das beispielweise in „Die Geschichte vom Leben und Sterben des neuen Juppi ja jey Juden“ gelang. Die politische Botschaft steht deutlich im Vordergrund des Abends.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/11/oder-du-verdienst-deinen-krieg-gorki-theater-kritik/
Oder: Du verdienst..., Berlin: auf Botschaft versteift
Das Schauspielerinnen-Quartett spielt den Text nicht, sondern, formt ihn, zu Waffen, zu Anklagen, zu Erinnerungen, deklamiert ihn von der Rampe, presst ihn heraus, zerstückelt ihn in der Ratlosigkeit des nicht Fass-, nicht Verstehbaren. Das tun sie einzeln oder chorisch, unterstützt vom verzerrten, albtraumhaft gekippten 80er-Jahre-Soundtrack des Vaters, bei dem Phil Collins oder Sting zu Stimmen der Hölle mutieren. Wie der Text sich fragmentiert und kreist, zersplittert er sich in Loops, in kakophonem Übereinander, in fast kanonhafter Repetitivität. Die Realität der Sprache zerfällt in brüchige Materialität, ist nicht mehr in der Lage, eine fassliche Wirklichkeit zu beschreiben oder zu erschaffen. Die Körper zucken und beugen sich, zuweilen etwas plakativ in Opfer-Tableaux. Wie überhaupt der Abend eher das Eindeutige sucht, das der Text eigentlich verweigert. Wo er die patriarchale Unterdrückung umkreist, schlägt der frontale Erzählgestus sie ein wie Pflöcke, werden die vier Spielerinnen zur Rachegeistern und Anklägerinnen, verschwimmen die Konturen der nicht erinnerbaren Opfer noch weiter, werden sie erst recht zu Projektionen, wenn auch nun von der entgegengesetzten Seite aus.

Wie die Popstars ihre Stimmen verlieren, finden die namenlosen Acht die ihrigen nie. Zu sehr versteift sich die Inszenierung auf ihre Botschaft, die der Text auf schwankendem Boden balanciert, voller Untiefen und Unterströmungen und Abgründe, ein kaum greifbares Gewirr auf Machtstrukturen, in denen die, die ihre Zielscheiben sind, fast verschwinden. Wo Sivan Ben Yishais Sprache sie zumindest sucht, reduziert Sasha Marianna Salzmanns Inszenierung sie zu Waffen, instrumentalisiert sie selbst gegen die, deren Instrumente sie sein sollten. Am Ende steht die Sprache, der stille Wunsch, „das Tier zu sein, das selbst Tierärzte nicht akzeptieren werden“, das außenstehende Wesen, über das niemand Macht ersehnt, das niemand anblickt oder besitzen will. Die Worte fallen bleischwer in den leeren Raum, letzte Visionen eines nie vorhandenen Auswegs. Hier übernimmt der Text, weiß sich die Regie nicht mehr zu wehren. Es macht diesen Schluss eher stärker, dieses fatal finale allerletzte Oder.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/11/13/die-sehnsucht-ein-tier-zu-sein/
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