Die Grimm-Gaudi

von Valeria Heintges

Zürich, 10. November 2019. Das schwere Buch ist total verstaubt. Aber einen Märchenerzähler mit Diplom kann das nicht stoppen – oder doch? Langhaarig, im Mantel, sehr altväterlich sitzt Lukas Vögler vor dem Bühnenvorhang in Zürich. Doch dann streikt er plötzlich. Was die Königin denkt? "Keine Ahnung!" Rüde schimpft er über seine "Minigage" und erklärt: "Einen Scheißdreck erzähle ich euch!"

Heile Märchenwelt, unheiler Schönheitswahn

Was Nicolas Stemann als Autor und Regisseur in zwei Stunden samt Pause als "Schneewittchen Beauty Queen" über die Bühne sausen lässt, das unterläuft gnadenlos fast alle Vorstellungen von einem gediegenen Weihnachtsmärchen. Dabei wird immer mal wieder der Gebrüder-Grimm-Originaltext zitiert und mit Matthias Neukirch extra ein gestrenger Aufpasser engagiert, der über die Korrektheit der Sache wachen soll. Doch ist es ein Kreuz mit diesen Märchenfiguren; sie machen überhaupt nicht mehr, was sie jahrhundertelang widerspruchslos gemacht haben.

Schneewittchen1 560 Zoe Aubry uRotkäppchen, Schneewittchen und der Wolf (Henni Jörissen, Giorgina Hämmerli, Songhay Toldon)
© Zoé Aubry

Die durchweg begeisternden Schauspieler in den bunten Kostümen von Marysol del Castillo feiern auf der phantasievollen Bühne von Katrin Nottrodt eine Grimm-Gaudi, frönen Gags und Kalauern, veräppeln heile Märchenwelt und unheilen Schönheitswahn samt Wettbewerben, Beautyvideos und Operationen. Zudem tritt Schneewittchens Vater als geldgieriger Banker und profitgeiler Immobilienhai auf, der – analog der Frage der Gattin an das "Spieglein, Spieglein an der Wand" – seinen "Konto, Konto, Kontostand" befragt: "Wer ist der Reichste im ganzen Land?" Die Forbesliste zeigt, dass ihm noch drei Nullen zum Spitzenplatz fehlen. Und daher kann er der Tochter gerade leider nicht aus dem finsteren Wald helfen. Man muss eben Prioritäten setzen im Leben.

Zu dem Zeitpunkt ist dem Aufpasser die Sache längst entglitten. Nehmen wir mal nur Tabita Johannes' Königin. Im kurzen Mieder steht sie vor ihrem Riesenspiegel. Doch was macht der, als er gefragt wird, wer die Schönste sei? Kay Kysela, im glitzernd-spiegelnden Gewand, druckst herum, windet sich und schafft es nicht, geradeheraus eine Antwort zu geben. Wer könnte schöner sein? "Das muss so eine dünne Brechbohne sein", keift die Königin. Und befiehlt dem Spiegel: "Hau ab, ich will dich hier nicht mehr sehen!" Kleinlaut, aber logisch einwandfrei kann der nur kontern: "Ich kann nicht, ich bin hier festgeschraubt."

Vegan kochen für Königinnen

Oder nehmen wir den Wolf von Songhay Toldon. Der hat sich mit Rotkäppchen bei der Großmutter verabredet, sie hat ihm ordentlich den Weg beschrieben. Aber immer wieder steht er vor ihr, will erst ihren Namen wissen, dann hat er vergessen, am wievielten Baum er rechts abbiegen soll. Noch verrückter ist der Jäger, auch er gespielt von Kay Kysela. So oft und erfolgreich hat der Fortnite gespielt, dass er mal in echt ein Massaker anrichten will. Aber die vielen ausgestopften Tiere im Schützenhaus bringen ihn auf neue Ideen. Erst in der Jägerpraxis merkt er: Töten kann er Schneewittchen nicht, obwohl ihm die Stiefmutter-Königin das aufgetragen hat. Aber auch den Hirschen will er nicht erschießen. Was bleibt da? Nur noch der Ausweg ins Reich der Kochbücher. "Vegan kochen für Königinnen" ist das Buch der Stunde.

Schneewittchen5 560 ZoeAubry uSind es nun 6 oder 7 Zwerge in der Männer-WG ? (Lukas Vögler, Tabita Johannes, Kay Kisela, Henni Jörissen, Songhay Toldon) © Zoé Aubry

So brutal wie hier die Märchen auf ihren Gehalt abgeklopft werden, so wenig bleibt von ihnen übrig. Die Zwerge etwa mutieren zur Männer-WG, der Schneewittchen (Giorgina Hämmerli) den Haushalt schmeißen soll. Mitleid kennen die Herren in ihren Papphäuschen nicht. "Du wirst uns nutzen!", donnern sie dem Mädchen entgegen. Das gibt Stemann und seinem genialen Musikerduo Thomas Kürstner und Sebastian Vogel die Möglichkeit, Beatbox-, Pop- oder Rapeinlagen einzustreuen mit Titeln wie "Das kann man alles lernen" oder "Wir machen es gemeinsam".

Anarchischer Blödsinn

Obwohl viele Dialoge auch erwachsenentauglich sind, verliert die Inszenierung doch nie ihr Zielpublikum aus den Augen. Die Altersangabe "Ab 8 Jahren" kann man für etwas ambitioniert halten. Aber große und kleine Zuschauer kommen auf ihre Kosten, wenn etwa Rotkäppchen (klasse: Henni Jörissen) sich immer wieder Mühe gibt, ein braves Mädchen zu sein, aber mit den Erwachsenen zusammenstößt, wenn sie "nur 5000 Minuten Bibi und Tina gucken will". Oder wenn die sechs rotkappigen und dickbäuchigen Zwerge den bodenlosen Vorwurf, sie seien ja gar nicht sieben, mit einer Zählerei kontern, bei der sie immer bei sieben landen.

Schneewittchen4 560 ZoeAubry uRock'n'Woolf (Songhay Toldon) © Zoé Aubry

Doch verwundert niemanden die Ankündigung des Hauses, es sei bei den Proben soviel kinder-untaugliches Material zusammengekommen, dass man nun auch einen "Director's Cut", ein "Schneewittchen Beautyqueen für Erwachsene" zeigen werde. Sicher ist: Zürichs neue Weihnachtsmärchen-Version hebt mit seinem anarchischen Blödsinn und seinem gleichzeitig liebevollen Blick auf die Nöte von Kindern das Genre auf ein bis dahin selten gesehenes Niveau.

 

Zartbitterer Zusatz

Update, 4. Dezember 2019. Die Kinder- und Familienfassung "Schneewittchen Beauty Queen" hat Zuwachs bekommen, eine Fassung "Schneewittchen für Erwachsene". Gespielt wird aber trotzdem fast alles wie vorher. Nur hier und da mal kommt ein Extrasatz, wenn etwa Henni Jörissen als Rotkäppchen aus der Haut fährt und ins Publikum blökt: "Wie krank ist das denn, keine Kinder zu haben und in ein Kinderstück für Erwachsene zu gehen??" Aber Ausfälle wie diese, in denen das Wort "Erwachsenentheater" zum Schimpfwort wird, gleichrangig etwa mit "Scheißregietheater" oder "moderne Scheißpädagogik", sind selten.

Mit seiner Familienfassung hat Regisseur und Co-Intendant Nicolas Stemann das Genre Weihnachtsmärchen so von den Füßen auf den Kopf und wieder zurück auf die Füße gestellt, dass für den "Director's Cut" nicht viel Restbestand übrigblieb. Auch in der Familienfassung durfte der Förster von seinem Traum berichten, ein Massaker an einer Schule zu begehen; auch da ließ der Vater aus Gier seine Tochter allein durch den Wald irren und wollte er am Ende den Märchenwald abholzen lassen, um den "Glassarg 21" zu errichten.

Wenig Neues für Wiederholungstäter

Aber etwas ist eben doch anders; und das ist nicht nur das Publikum, sondern auch die Rahmung. Das bewährte Stemann-Musiker-Duo Thomas Kürstner und Sebastian Vogel tritt schon gleich zu Beginn vor den Vorhang. "Hallo, liebe Erwachsene, ich bin's, eure Oma", singt Kürstner, angetan mit weißer Schürze überm langen Rock. Dann beginnt Oma ihren Reigen auf den famosen "Irgendwer". Irgendwer hat eine Kurzstreckenrakete getestet, und irgendwer hat in meinem Bettchen gelegen. Irgendwer steuert auf Altersarmut zu, irgendwer hat zwei Versionen vom Leben, "Märchen eben", und irgendwer will seine Kindheit wiederhaben. Auch ihr Auftritt nach der Pause ist leicht verändert, da singt Oma von früher, wo sie noch "22 Avocados essen konnte ohne schlechtes Gewissen" und Surfen noch etwas mit Wasser zu tun hatte. Dazu kommt ein bitteres Ende, in dem nach dem Happy End einfach weitererzählt wird und die fröhliche Gemeinschaft bald auseinanderbricht. Und ein Kind fragt über Lautsprecher, was denn Schnee sei und warum man den nicht aus Wasser einfach wiederherstelle. Viel mehr ist es nicht, was Stemann seinen erwachsenen Zuschauern unter den Adventskranz legt. Für Wiederholungstäter bietet das nur wenig Neues. Aber es ist ein zartbitterer Spass für die, die noch verzweifelt ein Kind suchen, das sie ins Familienstück begleiten könnte.

 

Schneewittchen Beauty Queen / Schneewittchen für Erwachsene
von Nicolas Stemann
frei nach den Gebrüdern Grimm
Inszenierung: Nicolas Stemann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Thomas Kürstner, Nicolas Stemann, Sebastian Vogel, Dramaturgie: Joshua Wicke
Mit: Giorgina Hämmerli, Henni Jörissen, Tabita Johannes, Thomas Kürstner, Kay Kysela, Matthias Neukirch, Songhay Toldon, Lukas Vögler, Sebastian Vogel
Premiere am 10. November 2019 & 4. Dezember 2019 ("Schneewittchen für Erwachsene")
Dauer: 2 Stunden, eine Pause / 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause ("Schneewittchen für Erwachsene")

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Ein anarchischer Grundgestus kennzeichne Stemanns "prototypische Überschreibung des Märchen-Genres", die manches Klischee umdrehe, so Christian Gampert vom SWR (11.11.2019). Einiges erinnere an das Berliner Grips-Theater, aber Stemann halte der Gegenwart "mit ihren überforderten Multi-Tasking-Eltern und internetabhängigen Wohlstands-Kids auch das 'Spieglein-an-der-Wand' vor". Und er zeige mitleidloses Schweizer Miteinander, wenn die sieben fremdenfeindlichen Zwerge – die zwar Purcells Frostarie sängen, aber nicht bis Sieben zählen könnten – Schneewittchens Nutzen als Haushaltshilfe einschätzen. Insgesamt sei das zukunftsfähig und "vielleicht sogar origineller als die Erwachsenen-Abteilung".

Zu einem "Befreiungsschlag" setze Stemann an in seiner "kultverdächtigen Uraufführung", so Katja Baigger in der Neuen Zürcher Zeitung (11.11.2019): er befreie Schneewittchen "aus seinem Korsett der Passivität". In kindlicher Manier lasse Stemann "das Märchen so nachspielen, wie es ihm passt", hole Figuren aus anderen Erzählungen hinzu, dichte neue Passagen, ersinne "schnelle, oft schräge Dialoge", gefärbt von Dialekt oder Slang, und er webe gegenwartsbezogene Anspielungen ein, auf die Klimastreiks, auf Fremdenfeindlichkeit, den Veganismus.

Postdramatisch verschärft habe Stemann in seinem Text die Brüder Grimm, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (12.11.2019). "Was für ein Statement: Der Intendant macht das Kinderstück" – und Stemann selbst mache mit zwei Kollegen auch Musik zu seinem "Märchen-Patchwork" mit einem furchtlos-emanzipatorischen Rotkäppchen (Henni Jörissen) und einem Schneewittchen (Giorgina Hämmerli), das die Zwerge zur Hausarbeit animiert. Der Jäger kann keine Tiere töten, der König arbeitet daran, "die armen Menschen noch ärmer und die Umwelt noch dreckiger" zu machen. "Im Dezember bringt Stemann die Erwachsenenversion heraus", so Tholl, "doch hier ist schon alles drin".

Um die Geschichte von Königstochter, Stiefmutter, Zwerge, Prinz herum habe sich Stemann in seinem ersten selbst geschriebenen Stück auf den politischen Boulevard begeben, um "komisch, anarchisch und familiengerecht zugleich den aktuellen gesellschaftlichen Schieflagen nachzuspüren", bemerkt Bernd Noack bei Spiegel Online (12.11.2019). Zwischen den Märchenfiguren braue sich etwas zusammen: "Stemann macht sie zu kleinen Bürgern unserer Zeit, die sich um ihre Zukunft betrogen sehen und die Barrikaden der trägen Denkungsart stürmen wollen: Märchen for Future!" Etliche Themen würden angesprochen, als gelte es, "eine To-do-Liste der schlimmsten Auswüchse abzuhaken", so Noack. Und gelegentlich kippe "der schnoddrig-schräge Ton, der die Mär zur Zeitgeist-Komödie aufmotzt", in ein "gutmenschelndes Friede-Freude-Eierkuchen-Gesäusel".

"Simples Heruntererzählen oller Kamellen war Stemanns Sache nie", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (12.11.2019). Deshalb tobten durch Stemanns Familienstück etwa auch "die Kinderhörspiel-Heldinnen Bibi und Tina; böse Züriberg-Immobilienhaie; liebe Transgender-Omis" sowie "lautstark geschmetterte Schnulzen-, Schunkel- und Schulweisheiten". Fragmente des bekannten Märchens würden "wie Rettungsringe in die Sause hineingeworfen". Doch kriege die Satire öfters "kaum die Kurve zum Familienevent mit Kuschelfaktor", so Kedves, denn für die Grausamkeit der alten Texte baue Stemann "eine groteske Plattform aus brutaler Küchenpsychologie". "Im rabenschwarzen 'Schneewittchen'-Kabarett kräuseln sich eine Menge abgedrehter Arabesken". Das tolle Ensemble aber "haut mit seiner Spielfreude die Skepsis an dem Ding, das sie da spielen, einfach weg".

 

Kommentare  
Schneewittchen, Zürich: mächtig witzig
Rotkäppchen meets Schneewittchen: Zweifellos für die auf der Bühne ein Riesenmgaudi. Und für uns im Saal ebenso! Es gibt nur eines: Unbedingt hingehen. Und wer jetzt am Sonntag die Nachmittags-Familienversion gesehen hat, der wartet ungeduldig auf die Abendausgabe für die Erwachsenen. So wie man Stemann in seiner GefahrBar erlebt hat, ist klar: Das wir mächtig witzig!
Schneewittchen, Zürich: unterlaufene Erwartung
Nicolas Stemanns Inszenierung unterläuft die Erwartungen an ein Märchen für Kinder ironisch, mixt Schnipsel aus dem "Schneewittchen"-Stoff mit dem "Rotkäppchen" und garniert es mit zahlreichen Anspielungen auf den Reichtum und die soziale Schere in der Schweiz.

Streckenweise wirkt dieses Schneewittchen-Stück wie eine mit heißer Nadel gestrickte Aneinanderreihung mehr oder weniger gelungener Einfälle. Zu oft verliert es sich in platten Gags und Kalauern. Aber auch bei diesem Familien-Stück beweist Stemann wie zuletzt auch in seiner "Corona-Passionsspiele"-Revue sein Händchen für gute Songs, die die Handlung kommentieren, auflockern und mit musikalischen Stilrichtungen spielen.
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