Verheerender Rotstift

von Michael Nijs

15. November 2019. Sechs Prozent: Um diesen Anteil werden die Subventionen für Flanderns Kulturorganisationen ab Januar 2020 gekürzt. Das erläuterte Jan Jambon, Ministerpräsident und Kulturminister Flanderns von der Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) am gestrigen Donnerstag im Kulturausschuss des flämischen Parlaments.

Neue Akzente und Wertmaximierung?

Bekannt geworden waren die Kürzungspläne des Ministers bereits am letzten Wochenende. Im Leitplan Kultur 2019-2024 ("Beleidsnota Cultuur 2019-2024") hatte Jan Jambon die Sparmaßnahmen schriftlich angekündigt. Trotz (oder mithilfe?) der Kürzungen will der Kulturminister die "Stärken der bestehenden flämischen Kulturpolitik weiterentwickeln und gleichzeitig neue Akzente setzen, um den sozialen, persönlichen und wirtschaftlichen Wert der Kultur zu maximieren".

Ausnahmen von seiner Sechsprozentregel trifft der Kulturminister deswegen im Bereich größerer Kulturinstitutionen, deren Subventionen nur um drei Prozent gekürzt werden. Dafür sind die Schnitte im Bereich der Projektförderung umso drastischer: Für letztere stehen im kommenden Jahr 60 Prozent weniger Mittel im Vergleich zum Vorjahr zur Verfügung.

"Bei der Beurteilung [der Projektanträge, d. Autor] geschieht die Auswahl vorrangig in Abhängigkeit des Potenzials, ein internationales Niveau zu erreichen", schreibt der Kulturminister dazu im Leitplan Kultur 2019-2024. "Eine selektivere Auswahl soll auch zu einer besseren Unterstützung" der übrig gebliebenen Projekte führen. Der Kulturminister verschiebt die gekürzten Gelder: Unter anderem das kulturelle Erbe (Museen und Archive) und Opera Ballet Vlaanderen erhalten einen zusätzlichen Zuschuss, von dem nach Abzug der generellen Mittelkürzung und dem zurückgenommenen Inflationsausgleich jedoch kaum etwas übrig bleibt.

Woher der Wind weht bei diesen Kürzungen? Von rechts, muss man wohl sagen: Die neue flämische Regierung unter Ministerpräsident Jan Jambon (N-VA) hatte ihr Amt am 2. Oktober 2019 aufgenommen. Nachdem die Koalitionsverhandlungen zwischen der größten Partei N-VA und der zweitgrößten Partei, dem rechtsextremen Vlaams Belang, im Sommer gescheitert waren, hatte die N-VA mit der christdemokratischen CD&V und der liberalen Open VLD eine Koalitionsregierung gebildet. Das Kulturressort wurde dabei zum ersten Mal dem Ministerpräsidenten zugeordnet. So ist mit Jan Jambon erstmals ein Mitglied der flämisch-nationalistischen und separatistischen Partei N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie) Kulturminister.

Kulturschaffende empören sich

Mit Bekanntwerden der Haushaltspläne erhob sich in der flämischen wie internationalen Kulturszene lautstarker Protest. Insbesondere die Kürzung der Projektfördermittel um 60 Prozent ruft viele Reaktionen hervor. Leen Laconte des Kunstnetzwerks oKo (overleg Kunstenorganisaties), weist darauf hin, dass die Einsparungen die Kulturbranche hart treffen: "Seit zehn Jahren wird gekürzt. In diesem Zeitraum wurde dem Kultursektor schon 25 Millionen Euro entzogen, zusätzlich wurden die Fördermittel nicht wie geplant der Inflation angepasst. Das hinterlässt geschwächte Akteure. Die Regierung schlägt eine Einsparung von 60 Prozent der Projektfördermittel vor. Von der großen Kunstinstitution bis zum kleinsten Akteur finden dies alle bedauerlich. Projektsubventionen erlauben es den jungen Künstler*innen Fuß zu fassen und sorgen für Innovation. Solch eine gigantische Einsparung blockiert die Zukunft der Künste."

Kaaitheater Screenshot KulturEtatProtest 2019 11 15 28060 Prozent weniger: Protest-Hashtag #thisisourcultureInternationale Reaktionen gab es u.a. in der Tageszeitung De Standaard in Form eines offenen Briefes an Kulturminister Jan Jambon unter dem Titel "Investieren Sie in Künstler*innen". Darin kritisierten 13 Intendant*innen und Kurator*innen wie Annemie Vanackere (HAU Hebbel am Ufer Berlin), Matthias Lilienthal (Münchner Kammerspiele), Matthias von Hartz (Zürcher Theaterspektakel), Christophe Slagmuylder (Wiener Festwochen), Stefanie Carp (Ruhrtriennale), Catherine Wood (Tate Modern) oder René Pollesch (Volksbühne Berlin) die Pläne: "Seit vielen Jahren empfangen wir unterschiedliche Generationen flämischer Künstler*innen mit offenen Armen. Diese Künstler*innen unterscheiden sich durch ihren Erneuerungstrieb, ihren internationalen Blick, ihre grenzüberschreitende Praxis, ihre politische Sensibilität und ihre außergewöhnliche Qualität. Ob sie nun Anne Teresa De Keersmaeker, Otobong Nkanga, Dries Van Noten, Mokhallad Rasem oder Miet Warlop heißen, sie beehrten unsere Podien und Museen und bestätigten Mal für Mal die unglaubliche Reputation, die Flandern in der zeitgenössischen Kunst im Ausland hat. … Nach einem Jahrzehnt von Einsparungen und Kürzungen sind signifikant weniger flämische Künstler*innen auf den bedeutenden europäischen und internationalen Podien und in den Museen auszumachen. Die vorgeschlagenen Kürzungen könnten den Gnadenstoß bedeuten und Flandern im internationalen Kontext vollkommen irrelevant machen."

Gekappte Lebensader

Auch Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker meldete sich mit Regisseur und Leiter des Internationaal Theater Amsterdam Ivo Van Hove unter der Überschrift "Einst waren auch wir 'Projekte'" mit einem offenen Brief an Jan Jambon zu Wort: "Das Kunstbudget beträgt nur noch 0,35 Prozent des Etats der flämischen Gemeinschaft. … Die bereits unterfinanzierte Projektförderung kürzen Sie um 60 Prozent. … Warum? Was ist ihrer Meinung nach falsch mit dieser Projektförderung, dass sie so extrem beschnitten wird? … Diese Projekte sind eine notwendige Lebensader für ein gesunde Kunstlandschaft. Davon sind wir beide ein historisches Beispiel. Wenn wir heute international erfolgreich sind, dann ist dies u.a. dank der projektgebundenen Unterstützung die wir empfangen durften in den vielen Jahren, in denen wir noch keine strukturellen Subventionen erhielten. Wir können Dutzende Beispiele anderer Künstler*innen und Organisationen nennen, für die dies auch gilt."

Der Hintergrund: Zugute kommen die Projektfördermittel freien Künstler*innen und kleineren Organisationen, welche die Förderung für Vorhaben in den Bereichen Darstellende Kunst, Bildende Kunst, Musik, Architektur und Design beantragen können. Das Budget hierfür war bereits unter dem vorigen Kulturminister Sven Gatz (Open VLD) von 11 Millionen Euro in 2018 auf 8,2 Millionen Euro in 2019 gekürzt worden. Bei Gatz’ letzter Subventionsentscheidung im Juli 2019 wurden nur noch 17 Prozent der Anträge gefördert. Dagegen wurden vor zehn Jahren in der Regel mehr als die Hälfte der eingereichten Projekte mit Subventionen versehen. Die geplante Reduzierung der Projektfördermittel um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 3,3 Millionen Euro kommen also einer Kürzung um 70 Prozent über zwei Jahre gleich.

Alle im selben Boot

Wenige Tage nach der Bekanntwerden des Leitplans Kultur 2019-2024 versammelten sich nach einem kurzfristigen Aufruf der Künstlerorganisation "State of the Arts" mehr als 2000 Kulturschaffende in und vor der Brüsseler Beursschouwburg, um sich zu beraten und konkrete Protestmaßnahmen zu planen. "Wahrscheinlich haben sich in Flandern noch nie so viele Künstler*innen zusammengefunden," sagte Theatermacher Simon Allemeersch. "Wir wollen keine Spaltung zwischen den großen Häusern und den kleinen Organisationen oder den einzelnen Künstler*innen. Wir sitzen alle im selben Boot."

Belgien 2019 11 Protest beursschouwburg 560 StefanBlaeske uKünstler*innen versammeln sich vor der überfüllten Beursschouwburg © Stefan Bläske

Die internationale Petition "Invest more in the arts, rather than less" an die flämische Regierung wurde bereits am Tag nach der Anhörung mehr als 50.000 Mal unterzeichnet.

Unter dem Hashtag #thisisourculture veröffentlichten hunderte Kulturschaffende und Kulturinstitutionen Abbildungen von (ihrer) Kunst, die zu 60 Prozent von einem Balken im gelben Farbton der Kommunikationsmedien der flämischen Regierung überdeckt ist. Damit wollten sie zeigen, dass die Regierung mit dieser Entscheidung 60 Prozent der Kultur und des zukünftigen kulturellen Erbes streicht. "Der Hashtag #thisisourculture macht deutlich, dass wir nicht nur die flämische Kultur von heute schützen müssen, sondern auch jene von morgen nähren müssen", laut Sängerin Laura Groeseneken (Sennek).

Online- und Offline-Aktionen gehen Hand in Hand: Einen Protestmarsch zum Sitz des Parlaments organisierten Kulturschaffende und Kunststudierende in Brüssel anlässlich der Vorstellung des Leitplans Kultur 2019-2024 im Flämischen Parlament . Eine Delegation wohnte der öffentlichen Sitzung des Kulturausschusses bei. Zudem blieb das Museum für zeitgenössische Kunst S.M.A.K. in Gent aus Solidarität an diesem Tag geschlossen.

Heizt der Ministerpräsident einen 'Kulturkampf' an?

Wie hat Ministerpräsident Jan Jambon die Kürzungen im Kulturausschuss rhetorisch eingebettet? Er betonte, das der gesamte Kulturetat u.a. durch Baumaßnahmen in Höhe von 15 Millionen Euro nicht sinkt. Zudem machte er den Kulturschaffenden einen Vorschlag: "Wenn man innerhalb des Kultursektors einen Konsens und eine bessere Verteilung der Mittel finden kann unter Berücksichtigung unserer beabsichtigten Haushaltsziele, bin ich bereit, mich auf ein Gespräch einzulassen und mir einen alternativen Etat anzuschauen."

Staf Pelckmans von der Oppositionspartei Groen kritisierte, dass der Vorschlag zu einem "Boxkampf" im Kultursektor führen wird, und dass Jan Jambon die Akteure gegen einander aufstachelt.

Belgien 2019 11 Protest Parlament 560 LauraGroeseneken uDer Protestzug zum Flämischen Parlament © Laura Groeseneken

Auch die Koalitionsparteien waren kritisch. Karin Brouwers (CD&V) machte deutlich, dass die starken Kürzungen ihre Partei "erschreckt" hätten. Stephanie D’Hose (Open VLD) ging einen Schritt weiter: "Ich bin besorgt. Und ich bin davon überzeugt, dass Sie eine falsche Einschätzung gemacht haben." Sie hofft, dass Jambon die Kürzungen "korrigiert".

Nur die rechtsextreme Oppositionspartei Vlaams Belang zeigte sich positiv. Filip Brusselmans (Vlaams Belang) sagte: "Ich bin froh, dass etwas übergeblieben ist von unseren Koalitionsverhandlungen in diesem Sommer." Die Partei möchte gerne mehr Kürzungen durchführen, denn laut Vlaams Belang gibt es im Kultursektor noch "Fett auf der Suppe". Er nannte die Empörung der Kulturschaffenden heuchlerisch: "Die flämische Identität finden sie schmutzig, aber für Subventionen öffnen sie die Hand."

Im Vorfeld der Sitzung des Kulturausschusses hatte der flämische Finanzminister Matthias Diependaele (N-VA) die Kürzungen verteidigt: "Wir sparen überall. Vom Kultursektor zu hören, dass wir bei ihnen nicht sparen dürften, finde ich schockierend." Da die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag eine schwarze Null ohne Steuererhöhungen verabredet hatten, sollen Investitionen durch eine sechsprozentige Subventionskürzung aller nichtstaatlichen Akteure, auch außerhalb des Kulturbereichs, kompensiert werden.

Mehr geht nicht mit weniger

Flämische Kulturschaffende reagierten gemischt auf die Vorschläge von Kulturminister Jan Jambon. Im Gegenzug für eine reduzierte Mittelkürzung um nur drei Prozent (im Vergleich zu den generellen sechs Prozent) hatte Kulturminister Jan Jambon sieben große Kulturinstitutionen gebeten, beginnende Künstler*innen zu unterstützen. Ancienne Belgique, Antwerp Symphony Orchestra, Brussels Philharmonic/Vlaams Radio Koor, Concertgebouw Brugge, deSingel, Kunstencentrum Vooruit und Kunsthuis Opera Ballet Vlaanderen bilden zusammen die Gruppe dieser sieben "Großen".

"Mit weniger Geld kann man nicht mehr realisieren", sagte Jerry Aerts, Direktor des Internationalen Kunstzentrums deSingel in Antwerpen. "Dafür muss man nicht rechnen können. Die sieben Kulturinstitutionen, die weniger einsparen müssen, können die fehlenden fünf Millionen Euro der Projektförderung nicht kompensieren. Zudem hat jedes dieser Häuser einen eigenen Schwerpunkt. Manche machen Opern, andere Konzerte, unser Betrieb hat eine internationale Ausrichtung. Nicht alle Arbeiten junger Künstler*innen können ohne weiteres in diese Profile eingebettet werden."

Michaël Pas, Sprecher des Schauspielerbundes Acteursgilde, reagierte weniger zurückhaltend. "Ist dies eine ausgestreckte Hand oder eine Taktik des Divide et impera? Die großen Kulturinstitutionen sollten angeblich die kleineren helfen können, aber sie gehen jetzt schon auf dem Zahnfleisch."

Michaël De Cock, künstlerischer Leiter des Brüsseler Stadttheaters KVS, fragte sich, ob es Schule machen soll, dass ein Sektor selbst bestimmt wie gespart werden soll. "Wir pferchen alle in einen Käfig und lassen sie drum kämpfen, wer die Mittel bekommt?"

Die Kürzungen der Kultursubventionen und der Künstler*innenförderung wirken nicht zufällig: der Rotstift wird für eine ideologische, konservative Politik eingesetzt. Baumaßnahmen und das kulturelle Erbe, für das das Freilichtmuseum Bokrijk Sinnbild ist, werden zusätzlich gefördert. In der Zukunft wird in einen unter Mitwirkung des Kulturministers aufzustellenden Flämischen Kanon investiert. Zudem sollen Privatsammler flämischer Meister von der Regierung unterstützt werden. Denn, so wird das Büro des Kulturministers Jan Jambon im öffentlichen Rundfunk VRT zitiert: "Wir setzen uns klar für die flämische Identität ein, und haben die meisten Flamen nicht dafür gewählt?"

 

Nijs Michael 120 JochenKlenk uMichael Nijs, geboren 1986 in Belgien, ist Dramaturg und arbeitete u.a. für Kunsthuis Opera Ballet Vlaanderen und das Badische Staatstheater Karlsruhe. Seit 2014 ist der diplomierte Naturwissenschaftler Akademischer Mitarbeiter für Bühnenbild und Kostümbild an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Er ist Mitglied der Projektförderkommissionen für Tanz und Theater der Flämischen Gemeinschaft.

 

 

Kommentare  
Theaterbrief Belgien: Entpolitisierung
Neben den kulturellen Einrichtungen sind übrigens auch in hohem Maße Presseorganisationen betroffen.
Trotz einer solidarischen Geste wäre allerdings auch eine tiefere Analyse von Diensten, nicht zuletzt um wertvolle Lehren für den Umgang mit der politischen Situation in Deutschland zu ziehen.
Es ist mitnichten so, daß der Zinnober um „flämische Identität“ ein Produkt der letzten Jahre ist. Und die NVA, eine nationalistisch-liberale Chimäre, ist bereits seit ca. einem Jahrzehnt prominent vertreten. Einen Teil ihrer Wähler und auch Mitglieder (z.B. Jambon) zog sie vom Vlaams Blok bzw Belang ab. Das sind Mitwirkende in Jurys, in Aufsichtsräten, in Verwaltungen, in Schulen, als Sponsoren. Wer glaubt, daß dies bisher keine Konsequenzen hatte, irrt. Zu beobachten war u.a. eine Entpolitisierung des kulturellen Sektors. Nicht weil die Werte geteilt wurden, sondern weil eben lange viel Geld da war, und man schlafende Hunde nicht wecken wollte. Wenn schon Konflikte thematisiert wurden, dann die der anderen. Die Marke Kultur wurde konsequent aufgebaut: sexy, stromlinienförmig und exportfähig. Jetzt ist der Ungehorsam außer Übung, ich hoffe er findet sich schnell.
Theaterbrief Belgien: zweierlei Maß
Kleiner Nachtrag: Die Künstlerin Otobong Nkanga war bereits international überaus erfolgreich bevor sie vor ca. 12 Jahren Antwerpen als Wohnort wählte. Und dann noch dauerte es zehn Jahre bis sie mit dem Belgian Art Prize 2017 (der sich nicht aus den Projektmitteln speist) auch vor Ort "bekannt" und besprochen wurde.

Die eigentliche Frage lautet ob sie als beginnendes Talent die Förderung vor 20 Jahren, oder heute, erfahren hätte die den flämischen Kollegen zuteil wurde. Mit Blick auf die veröffentlichten Förderlisten und mit Kenntnis der vielen dort ansässigen Künstler*innen muss man leider sagen: Nein.
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