Keiner will mehr gönnen können

von Anna Landefeld

München, 21. November 2019. Da steht ein Mensch der Gegenwart. So wie ihn der Alltag schuf mit Schnäuzer, Haarkranz, Pullover, Hose, Schuh' und einem Anliegen: Er will gehört werden. In der neuen Inszenierung seines Sohnes wollte er, Erkin Akal, nur mitspielen, wenn er auch eine Sprechrolle bekommt. Viel Menschliches liegt in diesem Scherz und damit Ernst. So ist der rhetorische Weg vom Sprechen und Gehörfinden auch nicht weit zur Gerechtigkeit, zur Gleichheit, zur Freiheit und auch zur Liebe. "Ich brenne", sagt er, schlägt sich mit der geballten Faust auf die Mitte seiner Brust. "Genau hier."

Wippende Geister

In Emre Akals Eröffnungsinszenierung des Projekts Ayşe X Staatstheater im Münchner Freie-Szene-Haus HochX, mit dem eine Gruppe junger Theatermacher*innen das Staatstheater der Zukunft ansteuern will, steht mit seinem Vater jemand auf der Bühne, der sonst nicht vorkommt. Die Macher*innen bewegt die Frage, wem Theater in Zukunft gehören soll. Ist es divers, hierarchiearm, fair genug? Dass hinter dem Projekt nicht nur Akal und seine direkten Mitstreiter*innen, sondern viele weitere Theatermacher*innen wie Julia Wissert und Sivan Ben Yishai stehen, klingt, als würde hier wirklich etwas brennen.

In den sechs Menschen der Zukunft allerdings brennt gar nichts mehr. Alles Menschliche ist ihnen fremd, aberzogen von der Gegenwart. Abhandengekommen unter den Hügeln von Plastik, aus denen Xaver Unterholzner für "Nur ihr wisst, ob wir es geschafft haben werden!" die Bühne geformt hat. Im Hintergrund die Projektion eines fast wolkenlosen Himmels. In dieser unguten Künstlichkeit kann man gar nicht mehr sein als ein zwanghaftes, ein unfreies Degenerat.

Totengeisterhaft in Fetzen gekleidet wippen sie sich eine halbe Stunde stumm mit gebeugten Armen und Beinen langsam über die Plastikwogen-Landschaft, blicken stumpf den Horizont an, schreien, wenn sie Hunger haben. Kleine, gefaltete Mülltüten gibt es dann. Die werden aufs Zärtlichste berührt, beleckt, bekaut und besaugt, bis man sie sich in aller Heiligkeit ganz in den Mund schiebt. Zärtlich könnte man auch zueinander sein, aber wie ging das eigentlich nochmal? Irgendwas mit Händen und Anschauen. Bevor man sich erinnert – Licht aus, Donner, Blitz, Zeit umzufallen. Nächste Szene.

Nur Ihr wisst 560a NicoleMariannaWytyczak uEnsemble in der Plastikwogen-Landschaft von Xaver Unterholzner © Nicole Marianna Wytyczak

Diese harte Szenenstückelei ist zunächst eine Stärke, weil sie in sich funktioniert. Welche Szene gespielt wird, entscheidet zuvor das Publikum – zumindest indirekt – per Wahlkreuz auf einer Liste von Gegenständen. Ein Gegenstand, eine Szene. Drei werden es: ein Regenschirm, ein roter Kamm und ein Magazin mit Bambi auf dem Cover.

So seltsam und zufällig diese Zusammenstellung, mit ihr geschehen Dinge, die so nur im Theater geschehen können. Scheinbar-charmanter Nonsens: Da hetzen sechs desaströs-geschmacklos gekleidete Schauspieler*innen über die Bühne und behaupten, sie seien sexy Rehe mit "softer skin" und "cute dots", die nicht zu viel vom Baumharz lecken dürfen, weil sie ja nach ihrer körperfixierten Hyper-Positivity-Ideologie "sexy", "beautiful" und "precious" bleiben müssen. Wer anders ist, wird (erst einmal) nur mit Worten niedergemacht.

Obskure Objekte der Begierde

Ebenfalls wo sonst, wenn nicht im Theater, könnte ein*e Schauspieler*in mit langer Kunsthaarperücke vor projizierten Mond und Milchstraße stehen, übergroß, kitschigst, einen roten Stielkamm zum Sirenengesang vor sich kreisen lassen. Am Bühnenrand die anderen fünf, die chorisch und überdeutlich in den Raum lachen. Bis plötzlich alle aufeinander losgehen, weil sich auch einmal ein*e andere*r die Perücke kämmen will oder eben nur den Kamm haben will. Weil keiner gönnt und erträgt, etwas nicht zu haben, was ein anderer besitzt.

Gier macht aus Menschen noch brutalere Zombies, die am Ende nicht nur Banken, sondern die ganze Finanzwelt zum Einsturz bringen. Und auch in Sätzen wie "Ich empfinde keine Liebe mehr für dich, Silvia. Ich liebe jetzt den Kamm", liegt eine nicht sofort offenkundige Wahrheit. Man müsste "Kamm" nur gegen "Smartphone" austauschen.

Nur Ihr wisst 560 NicoleMariannaWytyczak uAlle lieben jetzt den Kamm © Nicole Marianna Wytyczak

Oder eben gegen "Dildo". Der stand auch auf dem Wahlzettel, kommt aber an diesem Abend nicht vor. Nicht nur deswegen kommt ein unbefriedigendes Gefühl auf. Inhaltlich kreisen alle Szenen lose irgendwie um die monströse Frage "Was ist der Mensch in der Zukunft?", formt sich Szene für Szene Sprache aus den anfänglichen Schreien, ersetzt Kleidung die Fetzen – doch abgesehen davon steigert sich inhaltlich nichts.

Die Szenen folgen nur jede für sich einer Dramaturgie, sind aber beliebig aneinandermontiert, gehen nicht ineinander über oder werden von etwas zusammengehalten. In seiner Gesamtheit funktioniert Emre Akals Menschheits-Zukunftserzählung nicht. Auch weil die Gegenwart seinen Zukunfsentwurf teilweise schon längst überholt hat und dabei erschreckend normal wirkt. Er arbeitet sich an gegenwärtigen Problemen ab, behauptet sie als zukünftige. Vieles in der Zukunft Liegende aber bleibt an diesem Abend unerzählt.

 

Nur ihr wisst, ob wir es geschafft haben werden!
Regie und Text: Emre Akal, Künstlerische Kollaborateur*innen der Regie: Paulina Platzer, Valentin Walch, Dramaturgie: Guido Huller, Künstlerische Kollaborateur*in der Dramaturgie: Antigone Akgün, Bühne: Xaver Unterholzner, Kostüm und Maskenbild: Melina Poppe, Visual Artist/ Bühne: Kazim (Künstlerduo: Mehmet und Kazim), Musik und Sound: Mathis Nitschk, Licht: Rainer Ludwig.
Mit: Jasmina Musić, Melek Erenay, Željko Marović, Çağlar Yiğitoğulları, Adi Hrustemović, Erkin Akal, Mara Widmann.
Uraufführung: 21. November 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.ayse-x-staatstheater.de
www.theater-hochx.de

 

Kritikenrundschau

"Die Performance war fantastisch bis kryptisch," schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung  (23.11.2019), läuft aus seiner Sicht aber am Ende "allzu bescheiden auf eine wenig überraschende Zivilisationskritik am selbstverliebt der Schöpfung entfremdeten Menschen hinaus."

"Bis zum ersten gesprochenen Wort vergeht eine lange halbe Stunde", berichtet Nora Voit in der Süddeutschen Zeitung (25.11.2019), wo sie auch das Ayşe X Staatstheater ausführlich beschreibt. Als Zuschauer mache man "sein Smartphone dafür verantwortlich, dass es einem schwerfällt, da konzentriert zu bleiben". Lose Enden müsse man aushalten können, um zu erkennen, was in dieser Inszenierung stecke: "eine philosophische Hinterfragung der Gegenwart, seiner Objekte, seiner Sprache".

Sabine Leucht widmet in der taz (27.11.2019) dem offenen, diversen, auf flache Hierarchien setzenden Projekt des Ayşe X Staatstheaters eine einlässliche Schilderung, bevor sie dann etwas ernüchtert über die Eröffnungsproduktion schreibt: "Die Bilder sind beeindruckend, wenn ihnen auch die Bedrohlichkeit und Schärfe von Akals Vorgängerinszenierungen fehlt. Die Message darunter scheint so schlicht, dass man sich schon wieder fragt, ob diese Schlichtheit auch ein Marker für flache Hierarchien ist."

 

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