Die rote Flut

von Ulrike Gondorf

Düsseldorf, 19. September 2008. Auch kluge Regisseure tappen in vorhersehbare Fallen. Karin Henkel tritt in Düsseldorf den Beweis für diese Binsenweisheit an, bevor das Stück überhaupt angefangen hat. "Der Fall der Götter" steht auf dem Programm, von der Regisseurin und ihrem Dramaturgen Christoph Lepschy für die Bühne eingerichtet. Grundlage ist der fast vierzig Jahre alte Film "Die Verdammten" von Luchino Visconti, dessen italienischer Titel "La caduta degli dei" hier wörtlich übersetzt ist (obwohl der deutsche Begriff mit allen passenden Konnotationen eigentlich "Götterdämmerung" heißt).

Der Film handelt von der unheiligen Allianz zwischen den Nationalsozialisten und der Schwerindustrie, die skrupellos und gierig auf den "Führer" setzt, der Krieg will, Rüstung braucht und märchenhafte Profite verspricht. Visconti erzählt das über die Geschichte einer Industriellenfamilie, die sich in Intrigen, Rivalitäten, Inzest und Wahnsinn aufreibt.

Knietief im Blut

Wenn man den Zuschauerraum des Düsseldorfer Schauspielhauses betritt, wird man umstandslos auf ein Schlachtfest eingestimmt. Ein Graben, knietief mit roter Flüssigkeit gefüllt, nimmt die ganze Vorbühne ein, darin schwarze Lederstühle um einen langen Sitzungstisch, auf dem sich Gewehre stapeln. Und wenn die Bühne langsam hell wird, liegen sämtliche Personen der Handlung malerisch ineinander verschränkt, aufgetürmt als Leichenberg. Was will Karin Henkel jetzt noch knapp drei Stunden lang erzählen?

Sie werden sich gegenseitig in den Schmutz ziehen, in Blut waten und schließlich darin ertrinken, diese von Essenbecks, zu denen Industriellenclans wie die Familien Krupp und Thyssen Pate gestanden haben. Und so kommt es denn auch. Beherzt springt einer nach dem andern in seiner weißen Kleidung in die rote Suppe, rennt, spritzt, wälzt und prügelt sich. Nach zehn Minuten ist die Idee so abgestanden, dass man sich nicht mal mehr für die Zuschauer in den ersten drei Reihen interessiert, die mit Regencapes ausgerüstet worden sind und bei jeder neuen Attacke mit leisem Kreischen ihre Plastikhäute bis zur Nasenspitze ziehen.

Perverse Machtfantasien

So kommt es, wenn man aus einer Metapher ein Bühnenbild baut. Doch das ist schade. Denn wenn nicht alle so penetrant nass und rot wären, könnte man viel besser sehen, wer diese Menschen eigentlich sind und was sie wollen. Gegenüber dem Film ist die Handlung gerafft und auch die Figuren wirken typisiert, reduziert auf einen Hauptzug ihres Charakters.

Und das Ensemble nutzt die Vorlagen zu einprägsamen Charakterskizzen: Juliane Köhler ist die eiskalte "Lady Macbeth", die ihren Geliebten um jeden Preis – sogar auf Kosten ihres Sohnes Martin – an der Spitze des Konzerns sehen will. Diesen androgynen Jungen, schwankend zwischen einer masochistischen Opferhaltung und perversen Machtphantasien, spielt Nadine Geyersbach und gestaltet damit die schillerndste, faszinierendste Figur des Abends.

Verfremdung und Theatralisierung

Schauspielerisch ist die Besetzung insgesamt stark, zur Saisoneröffnung macht das auch im dritten Jahr der Intendanz Niermeyer weitgehend konstante Ensemble in Düsseldorf einen überzeugenden Eindruck. Auch die Erzählweise, die Karin Henkel für die Umsetzung des Films findet, eröffnet gute Möglichkeiten. Sie spaltet die Figur des Martin in eine agierende und eine reflektierende Hälfte. Diesen Erzählerpart übernimmt Heiko Raulin, ein bemerkenswert guter Sprecher, und schafft damit Übergänge der Handlung und Verbindungen zum Publikum.

Alle Nebenpersonen des figurenreichen Viscontifilms werden von den Darstellern mit lebensgroßen, beweglichen Gliederpuppen gespielt. Ein schönes Mittel der Verfremdung und Theatralisierung, mit dem Karin Henkel geschickt die Gefahr unterläuft, dem opulenten Realismus Viscontis hinterher zu hecheln.

Diese klugen Entscheidungen aber gehen schließlich unter in der Redundanz der roten Wasserfluten. Und so rollte am Ende eine Woge des Unmuts gegen das Regieteam auf die Bühne, während die Darsteller vom Publikum gefeiert wurden.

 

Der Fall der Götter
nach dem Drehbuch zum Film "Die Verdammten" von Nicola Badalucco, Enrico Medioli und Luchino Visconti
Inszenierung: Karin Henkel, Bühne: Henrike Engel, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Cornelius Borgolte, Beat Halberschmidt. Puppen: Mario Hohmann, Melanie Sowa. Mit: Guntram Brattia, Rainer Galke, Nadine Geyersbach, Bernd Grawert, Juliane Köhler, Kathleen Morgeneyer, Ilja Niederkirchner, Heiko Raulin, Götz Schulte.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de


Mehr lesen über Arbeiten der 1970 geborenen Regisseurin? Hier geht es zur Nachtkritik von Karin Henkels Stuttgarter Penthesilea vom April diesen Jahres, die ebenfalls recht blutig ausfiel. Hier zur Nachtkritik ihrer Molière-Inszenierung Der Menschenfeind im Januar 2008 in Köln. Und hier zu Henkels Minna von Barnhelm, die im Oktober 2007 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg herausgekommen ist.

 

Kritikenrundschau

Was in Karin Henkels "Fall der Götter"-Inszenierung auf der Bühne ablaufe, sei "einmal mehr die eiskalte Mechanik der Macht", schreibt Jens Dirksen in der Neuen Rhein Zeitung (22.9.). Die "Reichen und Schönen und Bösen murksen und morden Mal um Mal, für Geld und Macht und manchmal aus purer Lust oder aus Versehen." Karin Henkel habe das Stück "als einziges Handlungskettenmassaker inszeniert, auf der einfallsreichen, sinnträchtigen Bühne von Henrike Engel, die von kalten Neonröhren über die Blut-Schrift an der Wand bis zum Gruppen-Galgen für SA-Puppen bis ins Detail lauter starke Bilder bietet." Was aber fehle, sei "das, was Theater eigentlich könnte: eine Entwicklungslogik in Dialogen, eine Psychogenese der Gier - kurzum: die Frage, ob es wirklich eine Mechanik ist, die da in Menschen abläuft."

In Karin Henkels Bühnenadaption des "Falls der Götter" "steht das Familienpersonal von Anfang an knöcheltief in Blut ... und der Zuschauer versteht, dass diesem Clan nicht zu helfen ist." Das Urteil sei damit von Anfang an gesprochen, meint Dorothee Krings in der Rheinischen Post (22.9.): "Und genau das ist das Problem der geschickt reduzierten Inszenierung des opulenten Visconti-Stoffes. Henkel nimmt dem Abend durch die Wasserbecken-Idee die Dynamik." Trotzdem gebe es ergreifende Momente, was den Schauspielern zu danken sei, "etwa Kathleen Morgeneyer als Kind und Kindfrau gleichermaßen anrührend verletzlich, Nadine Geyersbach als androgyn-pädophiler Erbenkel, Juliane Köhler als edelstahlharte Strippenzieherin oder Bernd Grawert als gemeiner Emporkömmling."

Auch Vasco Boenisch bemängelt in der Süddeutschen Zeitung (24.9.), dass "die Idee, die Personen von Beginn an in Blut waten zu lassen", jede Entwicklung verhindere. Der Abend schleppe sich und sei trotz manch starker Worte "wenig stark". Wenn das kleine Mädchen zu Beginn Ovid-Verse lese, würden damit gleichfalls dem Publikum die Leviten gelesen, "denn Henkels Inszenierung gerät zur Geschichtslektion". So ermahne Heiko Raulin als reumütiger von Essenbeck "das Publikum in bester Brecht-Manier". Die "lebensgroßen Schaumstoffpuppen", die für die "Verdinglichung des Lebens im Nationalsozialismus", für "Menschen als Marionetten" stehen, findet Boenisch "spielerisch (...) reizvoll, didaktisch sinnvoll". Juliane Köhler lasse leider erst spät "die Kaputtheit" der machtgierigen Figuren-Seele ihrer Sophie von Essenbeck aufscheinen.

Für den Deutschlandfunk (21.9.) berichtet Dorothea Marcus von "krassen, gewalttätigen und sehr plakativen Bildern", die sie gesehen habe. Sie "erzählen, ähnlich wie Pasolinis 100 Tage von Sodom, dass der Faschismus seine Wurzel in sexueller Perversion hat." Viscontis Analyse des Faschismus "wurde vorgeworfen, ästhetisiert und letztlich harmlos zu sein. Karin Henkel spitzt sie drastisch zu: in einem dramaturgisch großen Bogen erzählt sie die konkrete Geschichte einer Familie zwischen 1933 und 35 – und zeigt zugleich exemplarisch, wie tief die Elite Deutschlands fiel und im Nationalsozialismus sexuelle Gewalt, Machtgier, politischer Opportunismus, Tod und Kapitalismus Hand in Hand gingen." Durch das Spiel mit Puppen und Menschen erhalte das Ganze "eine zusätzliche unheimliche und archaische Komponente."

Ulrich Fischer
zeigt sich im Deutschlandradio (19.9.) begeistert von Karin Henkels Inszenierung. "Eine Inszenierung aus einem Guss", deren große Qualität aus seiner Sicht nicht allein darin besteht, dass sie die Kritik an Viscontis Film aufgreift, dem man vorgeworfen habe, die Schrecken des Nationalsozialismus durch dekorative Opulenz zu verharmlosen. Karin Henkel gehe in die Tiefe, finde krude, stimmige Bilder, gehe mit ihrer an Brechts (von Heiner Müller weiterentwickeltem) epischem Theater orientierten Ästhetik viel weiter als der Film, und zwar auch inhaltlich, indem sie die Geschichte in die Gegenwart verlängere. Ihre Analyse der Zusammenhänge von Großkapital und Nationalsozialismus sei außerordentlich aktuell und sei, Fischer zufolge, auch auf heutige Krisen anwendbar, weshalb es seiner Ansicht nach keinen besseren Zeitpunkt für diese Inszenierung geben könne. Nie werde der Abend plakativ, sondern bleibe immer sehr stark in der Provokation. Auch sei er sehr humorvoll, wenngleich es ein schwarzer, subtiler Humor sei, der hier zum Tragen komme, der Abend auch Grand-Guignol-Elemente habe.

Aus Sicht von Eberhard Rathgeb in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (21.9.) ist die Inszenierung misslungen, verdankt der Abend seine blutige, auf Drastik zielende Ästhetik auch weniger dem Visconti-Film als der Lektüre von Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten", der die Folie über dem Zugriff auf Viscontis Stoff bilde. Doch vermag es Karin Henkel seiner Ansicht nach nicht, sich "in die dunklen, erschreckenden, schmerzhaften Dickichte der Details" dieser Erzählung aus der Sicht eines SS-Offiziers zu wühlen. Stattdessen kippe der Abend in die Farce. Man sitze im Schauspiel in Düsseldorf, einer "reichen Stadt mit Unternehmerprominenz", und dort werde einem nun die Geschichte der von Essenbecks in den entscheidenden Stationen vorgespielt, "als wäre es ein Lehrstück. Doch jetzt hat einer von den Essenbecks selbst das Wort übernommen, er kommentiert die ganze und also seine Geschichte, er führt die Personen, er stellt die Szenen, er trägt eine Altersmaske, und ein anderer muss ihn als jungen Mann spielen." Kaum aber habe der Erzähler in Düsseldorf das Wort ergriffen, kaum sei "dieser Täter-Erzähler, in einem weißen Anzug und in weißen Gummistiefeln steckend, in das Blutbecken seiner Familiengeschichte gestiegen, würgt es ihn auch schon, und das kommt nun hier ein wenig zu schnell, und er muss, wie Littells ja auch noch humanistisch gebildeter schwuler Schreckensheld, einmal in seinem Bericht innehalten, einen Schritt zur Seite machen und, wie ein fühlender Mensch, kotzen."

 

Die rote Flut

von Ulrike Gondorf

Düsseldorf, 19. September 2008. Auch kluge Regisseure tappen in vorhersehbare Fallen. Karin Henkel tritt in Düsseldorf den Beweis für diese Binsenweisheit an, bevor das Stück überhaupt angefangen hat. "Der Fall der Götter" steht auf dem Programm, von der Regisseurin und ihrem Dramaturgen Christoph Lepschy für die Bühne eingerichtet. Grundlage ist der fast vierzig Jahre alte Film "Die Verdammten" von Luchino Visconti, dessen italienischer Titel "La caduta degli dei" hier wörtlich übersetzt ist (obwohl der deutsche Begriff mit allen passenden Konnotationen eigentlich "Götterdämmerung" heißt).

Der Film handelt von der unheiligen Allianz zwischen den Nationalsozialisten und der Schwerindustrie, die skrupellos und gierig auf den "Führer" setzt, der Krieg will, Rüstung braucht und märchenhafte Profite verspricht. Visconti erzählt das über die Geschichte einer Industriellenfamilie, die sich in Intrigen, Rivalitäten, Inzest und Wahnsinn aufreibt.

Knietief im Blut

Wenn man den Zuschauerraum des Düsseldorfer Schauspielhauses betritt, wird man umstandslos auf ein Schlachtfest eingestimmt. Ein Graben, knietief mit roter Flüssigkeit gefüllt, nimmt die ganze Vorbühne ein, darin schwarze Lederstühle um einen langen Sitzungstisch, auf dem sich Gewehre stapeln. Und wenn die Bühne langsam hell wird, liegen sämtliche Personen der Handlung malerisch ineinander verschränkt, aufgetürmt als Leichenberg. Was will Karin Henkel jetzt noch knapp drei Stunden lang erzählen?

Sie werden sich gegenseitig in den Schmutz ziehen, in Blut waten und schließlich darin ertrinken, diese von Essenbecks, zu denen Industriellenclans wie die Familien Krupp und Thyssen Pate gestanden haben. Und so kommt es denn auch. Beherzt springt einer nach dem andern in seiner weißen Kleidung in die rote Suppe, rennt, spritzt, wälzt und prügelt sich. Nach zehn Minuten ist die Idee so abgestanden, dass man sich nicht mal mehr für die Zuschauer in den ersten drei Reihen interessiert, die mit Regencapes ausgerüstet worden sind und bei jeder neuen Attacke mit leisem Kreischen ihre Plastikhäute bis zur Nasenspitze ziehen.

Perverse Machtfantasien

So kommt es, wenn man aus einer Metapher ein Bühnenbild baut. Doch das ist schade. Denn wenn nicht alle so penetrant nass und rot wären, könnte man viel besser sehen, wer diese Menschen eigentlich sind und was sie wollen. Gegenüber dem Film ist die Handlung gerafft und auch die Figuren wirken typisiert, reduziert auf einen Hauptzug ihres Charakters.

Und das Ensemble nutzt die Vorlagen zu einprägsamen Charakterskizzen: Juliane Köhler ist die eiskalte "Lady Macbeth", die ihren Geliebten um jeden Preis – sogar auf Kosten ihres Sohnes Martin – an der Spitze des Konzerns sehen will. Diesen androgynen Jungen, schwankend zwischen einer masochistischen Opferhaltung und perversen Machtphantasien, spielt Nadine Geyersbach und gestaltet damit die schillerndste, faszinierendste Figur des Abends.

Verfremdung und Theatralisierung

Schauspielerisch ist die Besetzung insgesamt stark, zur Saisoneröffnung macht das auch im dritten Jahr der Intendanz Niermeyer weitgehend konstante Ensemble in Düsseldorf einen überzeugenden Eindruck. Auch die Erzählweise, die Karin Henkel für die Umsetzung des Films findet, eröffnet gute Möglichkeiten. Sie spaltet die Figur des Martin in eine agierende und eine reflektierende Hälfte. Diesen Erzählerpart übernimmt Heiko Raulin, ein bemerkenswert guter Sprecher, und schafft damit Übergänge der Handlung und Verbindungen zum Publikum.

Alle Nebenpersonen des figurenreichen Viscontifilms werden von den Darstellern mit lebensgroßen, beweglichen Gliederpuppen gespielt. Ein schönes Mittel der Verfremdung und Theatralisierung, mit dem Karin Henkel geschickt die Gefahr unterläuft, dem opulenten Realismus Viscontis hinterher zu hecheln.

Diese klugen Entscheidungen aber gehen schließlich unter in der Redundanz der roten Wasserfluten. Und so rollte am Ende eine Woge des Unmuts gegen das Regieteam auf die Bühne, während die Darsteller vom Publikum gefeiert wurden.

 

Der Fall der Götter
nach dem Drehbuch zum Film "Die Verdammten" von Nicola Badalucco, Enrico Medioli und Luchino Visconti
Inszenierung: Karin Henkel, Bühne: Henrike Engel, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Cornelius Borgolte, Beat Halberschmidt. Puppen: Mario Hohmann, Melanie Sowa. Mit: Guntram Brattia, Rainer Galke, Nadine Geyersbach, Bernd Grawert, Juliane Köhler, Kathleen Morgeneyer, Ilja Niederkirchner, Heiko Raulin, Götz Schulte.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de


Mehr lesen über Arbeiten der 1970 geborenen Regisseurin? Hier geht es zur Nachtkritik von Karin Henkels Stuttgarter Penthesilea vom April diesen Jahres, die ebenfalls recht blutig ausfiel. Hier zur Nachtkritik ihrer Molière-Inszenierung Der Menschenfeind im Januar 2008 in Köln. Und hier zu Henkels Minna von Barnhelm, die im Oktober 2007 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg herausgekommen ist.

 

Kritikenrundschau

Was in Karin Henkels "Fall der Götter"-Inszenierung auf der Bühne ablaufe, sei "einmal mehr die eiskalte Mechanik der Macht", schreibt Jens Dirksen in der Neuen Rhein Zeitung (22.9.). Die "Reichen und Schönen und Bösen murksen und morden Mal um Mal, für Geld und Macht und manchmal aus purer Lust oder aus Versehen." Karin Henkel habe das Stück "als einziges Handlungskettenmassaker inszeniert, auf der einfallsreichen, sinnträchtigen Bühne von Henrike Engel, die von kalten Neonröhren über die Blut-Schrift an der Wand bis zum Gruppen-Galgen für SA-Puppen bis ins Detail lauter starke Bilder bietet." Was aber fehle, sei "das, was Theater eigentlich könnte: eine Entwicklungslogik in Dialogen, eine Psychogenese der Gier - kurzum: die Frage, ob es wirklich eine Mechanik ist, die da in Menschen abläuft."

In Karin Henkels Bühnenadaption des "Falls der Götter" "steht das Familienpersonal von Anfang an knöcheltief in Blut ... und der Zuschauer versteht, dass diesem Clan nicht zu helfen ist." Das Urteil sei damit von Anfang an gesprochen, meint Dorothee Krings in der Rheinischen Post (22.9.): "Und genau das ist das Problem der geschickt reduzierten Inszenierung des opulenten Visconti-Stoffes. Henkel nimmt dem Abend durch die Wasserbecken-Idee die Dynamik." Trotzdem gebe es ergreifende Momente, was den Schauspielern zu danken sei, "etwa Kathleen Morgeneyer als Kind und Kindfrau gleichermaßen anrührend verletzlich, Nadine Geyersbach als androgyn-pädophiler Erbenkel, Juliane Köhler als edelstahlharte Strippenzieherin oder Bernd Grawert als gemeiner Emporkömmling."

Auch Vasco Boenisch bemängelt in der Süddeutschen Zeitung (24.9.), dass "die Idee, die Personen von Beginn an in Blut waten zu lassen", jede Entwicklung verhindere. Der Abend schleppe sich und sei trotz manch starker Worte "wenig stark". Wenn das kleine Mädchen zu Beginn Ovid-Verse lese, würden damit gleichfalls dem Publikum die Leviten gelesen, "denn Henkels Inszenierung gerät zur Geschichtslektion". So ermahne Heiko Raulin als reumütiger von Essenbeck "das Publikum in bester Brecht-Manier". Die "lebensgroßen Schaumstoffpuppen", die für die "Verdinglichung des Lebens im Nationalsozialismus", für "Menschen als Marionetten" stehen, findet Boenisch "spielerisch (...) reizvoll, didaktisch sinnvoll". Juliane Köhler lasse leider erst spät "die Kaputtheit" der machtgierigen Figuren-Seele ihrer Sophie von Essenbeck aufscheinen.

Für den Deutschlandfunk (21.9.) berichtet Dorothea Marcus von "krassen, gewalttätigen und sehr plakativen Bildern", die sie gesehen habe. Sie "erzählen, ähnlich wie Pasolinis 100 Tage von Sodom, dass der Faschismus seine Wurzel in sexueller Perversion hat." Viscontis Analyse des Faschismus "wurde vorgeworfen, ästhetisiert und letztlich harmlos zu sein. Karin Henkel spitzt sie drastisch zu: in einem dramaturgisch großen Bogen erzählt sie die konkrete Geschichte einer Familie zwischen 1933 und 35 – und zeigt zugleich exemplarisch, wie tief die Elite Deutschlands fiel und im Nationalsozialismus sexuelle Gewalt, Machtgier, politischer Opportunismus, Tod und Kapitalismus Hand in Hand gingen." Durch das Spiel mit Puppen und Menschen erhalte das Ganze "eine zusätzliche unheimliche und archaische Komponente."

Ulrich Fischer
zeigt sich im Deutschlandradio (19.9.) begeistert von Karin Henkels Inszenierung. "Eine Inszenierung aus einem Guss", deren große Qualität aus seiner Sicht nicht allein darin besteht, dass sie die Kritik an Viscontis Film aufgreift, dem man vorgeworfen habe, die Schrecken des Nationalsozialismus durch dekorative Opulenz zu verharmlosen. Karin Henkel gehe in die Tiefe, finde krude, stimmige Bilder, gehe mit ihrer an Brechts (von Heiner Müller weiterentwickeltem) epischem Theater orientierten Ästhetik viel weiter als der Film, und zwar auch inhaltlich, indem sie die Geschichte in die Gegenwart verlängere. Ihre Analyse der Zusammenhänge von Großkapital und Nationalsozialismus sei außerordentlich aktuell und sei, Fischer zufolge, auch auf heutige Krisen anwendbar, weshalb es seiner Ansicht nach keinen besseren Zeitpunkt für diese Inszenierung geben könne. Nie werde der Abend plakativ, sondern bleibe immer sehr stark in der Provokation. Auch sei er sehr humorvoll, wenngleich es ein schwarzer, subtiler Humor sei, der hier zum Tragen komme, der Abend auch Grand-Guignol-Elemente habe.

Aus Sicht von Eberhard Rathgeb in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (21.9.) ist die Inszenierung misslungen, verdankt der Abend seine blutige, auf Drastik zielende Ästhetik auch weniger dem Visconti-Film als der Lektüre von Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten", der die Folie über dem Zugriff auf Viscontis Stoff bilde. Doch vermag es Karin Henkel seiner Ansicht nach nicht, sich "in die dunklen, erschreckenden, schmerzhaften Dickichte der Details" dieser Erzählung aus der Sicht eines SS-Offiziers zu wühlen. Stattdessen kippe der Abend in die Farce. Man sitze im Schauspiel in Düsseldorf, einer "reichen Stadt mit Unternehmerprominenz", und dort werde einem nun die Geschichte der von Essenbecks in den entscheidenden Stationen vorgespielt, "als wäre es ein Lehrstück. Doch jetzt hat einer von den Essenbecks selbst das Wort übernommen, er kommentiert die ganze und also seine Geschichte, er führt die Personen, er stellt die Szenen, er trägt eine Altersmaske, und ein anderer muss ihn als jungen Mann spielen." Kaum aber habe der Erzähler in Düsseldorf das Wort ergriffen, kaum sei "dieser Täter-Erzähler, in einem weißen Anzug und in weißen Gummistiefeln steckend, in das Blutbecken seiner Familiengeschichte gestiegen, würgt es ihn auch schon, und das kommt nun hier ein wenig zu schnell, und er muss, wie Littells ja auch noch humanistisch gebildeter schwuler Schreckensheld, einmal in seinem Bericht innehalten, einen Schritt zur Seite machen und, wie ein fühlender Mensch, kotzen."

 

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