Woyzeck - Badisches Staatstheater Karlsruhe
Diagnose Burn-Out
von Steffen Becker
Karlsruhe, 28. November 2019. Woyzeck – aber als Frau. Reicht schon als Trigger. Die Klassiker-Umarbeitung der Dramatikerin und Regisseurin Anne Habermehl hat mit ihrem Ansatz Aufmerksamkeit sicher. Also auf ans Staatstheater Karlsruhe – um dann im Begleitheft zu lesen: "Woyzecks ständiger Konflikt zwischen Leben und Tod hin- und hergerissen zu sein, hat eben nichts mit dem Geschlecht zu tun." Warum dann der Geschlechtertausch? Die Frage schwebt über der ganzen Vorstellung. Sie bleibt bis zum Ende offen.
Fließendere Täter-Opfer-Grenze
Wie Büchners Original bleibt auch Anne Habermehls Zugang Fragment. Sie setzt es nur völlig anders zusammen. In ihrer Fassung rückt die Kleinfamilie in den Vordergrund. Sinnbildlich durch ein Paar kleiner Schuhe, das auf der sonst fast leeren Bühne als Platzhalter für das Kind von Soldatin Woyzeck und ihrem Mann Mario dient. Das Kind nässt ein, die Kindergärtnerin berichtet, dass es Vögel tötet und sich über ihnen bekreuzigt. Später baden Woyzeck und Mario in Schreiben des Jugendamts.
Thomas Schumacher, Jens Koch, Anna Gesa-Raija Lappe, Antonia Mohr © Birgit Hupfeld
Im Karlsruher "Woyzeck" ist die junge Seele das Haupt-Opfer von Gewalt – und bleibt gerade deshalb als Figur unsichtbar-abstrakt. Auf der Bühne interessiert Regisseurin Habermehl die Ambivalenz. Im Gegensatz zum Original-Büchner ist die Täter-Opfer-Grenze bei ihr weitaus fließender. Der Doktor (von Antonia Mohr mit distanzierter Kälte gespielt) ist hier weniger Schinder als Zuschauer. Für die psychischen Probleme Woyzecks hat sie keine Mittel, aber professionelles Interesse ohne störende Empathie.
Der Hauptmann ist kein reines Riesenbaby. Jens Koch zelebriert zwar auch die Paraderolle des gönnerhaft-fiesen Chefs, der Woyzeck mit seinem Bauch herumschubst. Aber er zeigt auch die Ursachen – Traumatisierung durch ein begangenes Kriegsverbrechen, das er Woyzeck beichtet. Sehnsucht nach Zuneigung, die er ausgerechnet bei Woyzecks Mann Mario findet. Im Gegensatz zu Büchners Marie handelt dieser nicht nur aus der Not der Armut, sondern versucht aktiv, auszubrechen aus der prekären Rolle als Vollzeitpapa: Er will seinen "Arsch zu Geld machen". Thomas Schumacher spielt das mit einer berührend-zurückgenommenen "Das Leben muss doch mehr zu bieten haben"-Attitüde.
Sonne, Mond und Leiden
Anna Gesa-Raija Lappe ist als Woyzeck über diese Hoffnung bereits hinaus. Aber Habermehls Regie zeichnet auch sie nicht vorrangig als Opfer der Umstände. Lappe ergibt sich mal der Rolle des teilnahmslosen Fußabtreters. Dann wieder sucht sie die körperliche (und emotionale) Nähe ihrer Peiniger wie ihrer Familie. Im Hintergrund changiert derweil eine Lichtscheibe farblich zwischen den oft angerufenen Gestirnen Sonne und Mond. Davor verschwimmen die Schauspieler zu Silhouetten. In der anderen Bühnenhälfte gewinnen sie wieder ihre Konturen.
Anna Gesa-Raija Lappe (Woyzeck), Jens Koch (Hauptmann) © Birgit Hupfeld
So changiert auch das Stück zwischen Zur-Schau-Stellung von Prototypen und individuellem Familiendrama. Die Tragik speist sich aus dem Burn-Out der Protagonistin. Sie ist einfach zu erschöpft, ihre Rechte einzufordern – und ihre Umgebung zu egofixiert, um sie ihr zuzugestehen und ihre Not wahrzunehmen.
Das Gender-Paradox
Das Problem der Inszenierung hingegen ist die Folge des eingangs erwähnten Genderwiderspruchs. Geschlecht soll keine Rolle spielen. Lässt sich bei familiärer Gewalt aber kaum ausblenden (auch wenn man die Vorzeichen umdreht). Außerdem baut Habermehl durchaus sexualisierte Situationen ein – wenn der Doktor Woyzeck etwa durch einen Griff in den Schritt fürs Wildpinkeln bestraft. Auch die homosexuelle Prostitution Marios könnte man geschlechtsspezifisch lesen. Aber diese Andeutungen bleiben unvollendet im Raum hängen. Was vom Abend bleibt, sind daher großartige Schauspieler*innen und ratlose Zuschauer*innen.
Woyzeck
von Anne Habermehl nach Georg Büchner
Regie: Anne Habermehl, Bühne: Christoph Rufer, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Philipp Weber, Dramaturgie: Eivind Haugland.
Mit: Anna Gesa-Raija Lappe, Antonia Mohr, Thomas Schumacher, Jens Koch.
Premiere am 28. November 2019
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.staatstheater.karlsruhe.de
Kritikenrundschau
"So bemüht der Text auch ist, Büchners Woyzeck ins Heute zu holen – so steif und abstrakt bleibt die eigentliche Inszenierung“, berichtet Eva Marburg für SWR 2 (30.11.2019). "Ganz formal stehen die vier Darsteller auf der Bühne herum: sagen abwechselnd, oft nur statisch, ihre Texte auf. Das Ganze scheint mehr eine Installation. Es gibt keine Situationen, sondern nur Zustände, in die die Darsteller sich emotional reinpumpen müssen – um diesem leeren Konstrukt irgendein Leben einzuhauchen." Die Besetzung der Titelfigur mit einer Frau führe "mit Karacho einfach nur ins nächste Rollenklischee hinein".
Der Geschlechterwechsel erhelle weder heutige Rollenbilder von Frauen und Männern, noch erzähle er von deren Austauschbarkeit, schreibt Andreas Jüttner von den Badischen Neuesten Nachrichten (30.11.2019). Der Kritiker erkennt viele ungedeckte Behauptungen. Immerhin: "Die Szenen, es in denen es um innerfamiliäre Überforderung und die sich daraus entwickelnde Gewalt geht, sind gelungen. Sogar ziemlich gut (…). Hieraus hätte ein Stück werden können, die Ansätze bleiben aber leider noch fragmentarischer als Büchners erst posthum veröffentlichter Woyzeck."
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(Sehr geehrte Frau Druse, ich komme als Nachmittagsdienst hierzu und habe mich also erst im Nachgang in die Frage eingearbeitet. Soweit ich es sehe, stand in der Erstfassung: der Schauspieler "zelebriert die Paraderolle des gönnerhaft-fiesen Fettsacks, der Woyzeck mit seinem Bauch herumschubst." Hier wird also eine spezielle Rollenzeichnung - eine Figur, nicht ein Akteur - zuspitzend beschrieben. Um allerdings das - offenbar auch eingetretene - Missverständnis zu vermeiden, hat der Frühdienst gemeinsam mit dem Autor entschieden, die Charakteristik der Figur ohne die Zuspitzung zu geben. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)